Es, es, es und es – ist das ein falscher Schluss? (Teil 2) Gastbeitrag von Wendelin Bitzan

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…und hier die 2. Teilin von Wendelin Bitzans Gastartikelin…

Queerness im Tonsystem: Gender und Enharmonik – Die Geschichte ›des cis

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Um es gleich vorweg zu nehmen: eine wirkliche Geschlechtsneutralität ist auch im Reich der Töne unmöglich, denn schlechterdings bleibt von einem Tonnamen kaum etwas übrig, wenn man an seiner Endung herummanipuliert. Die Endungen kommen ohnehin erst dann ins Spiel, wenn wir anfangen, Töne zu alterieren – eine Geschlechtszugehörigkeit (die ich hier in Abgrenzung zu dem für Skalen und Akkorde verwendeten Terminus ›Tongeschlecht‹ als pitch gender bezeichnen möchte) entsteht also durch Extension der an sich neutralen Tonbuchstaben. Historisch zuerst nachweisbar und besonders ergiebig ist dabei die Tiefalteration: Das es, sowohl als eigenständiger Tonname wie auch als ein an diesen appliziertes Versetzungs-Suffix, ist zweifelsfrei ein Neutrum (wir werden aber sehen, dass dieser Umstand es nicht vor der Genderdebatte bewahren kann).1 Betrachten wir aber etwa das des, vermutlich ein Maskulinum, möglicherweise auch Neutrum, das zudem im Genitiv steht: Dieses generische Männchen hat die Tonkunst ungefähr ab dem beginnenden 18. Jahrhundert patriarchalich, fast des-potisch, erobert, und seine alte Ration Alteration auch auf die direkte Umgebung übertragen. Als klar maskulin erweist sich außerdem, wenn auch nur im Englischen, das his: Auch hier haben wir es mit einem Genitiv, noch dazu possessiv, zu tun. Weitere Geschlechtsidentitäten lassen sich feststellen, wenn wir auch Solmisationssilben in die Betrachtung einbeziehen; der damenhaften MiLa steht das hybride Sol gegenüber, das für einen männlichen (Solomon) oder weiblichen Vornamen (Solange, Soledad) stehen könnte. Wagen wir also eine erste Teilschlussfolgerung: Kompon_ist*innen mögen hetero oder homo, trans- oder cross-gender, inter- oder asexuell sein – dem musikalischen Material ist das alles egal. Töne neigen in vielen Fällen zu einem individuellen und spezifischen pitch gender und kümmern sich dabei herzlich wenig um Gleichberechtigung. In puncto gender equality also leider Fehlanzeige.

Es wird allmählich Zeit für ein Musikbeispiel. Betrachten wir das deutsche Volkslied Es, es, es und es – hier ist die Rede vom Abschied eines Handwerksgesellen von seinem ungeliebten Meister (dessen schlecht kochende Gattin als »Frau Meisterin« adressiert wird, obgleich zu vermuten ist, dass sie selbst kein Handwerk erlernt hat, sondern mit der Haushaltsführung betraut ist). Eine kursorische Analyse ergibt einige klare Befunde: symmetrische Umsetzung der vierhebigen Jamben; Dur-Skala mit plagalem Ambitus ohne alterierte Töne; im Ganzen eine durch leichte Ganzschlüsse gegliederte Barform. Was weder der Musikwissenschaft noch der Musiktheorie bisher aufgefallen ist: Die Melodie richtet sich keineswegs nach der dreifachen Tonwiederholung, die der Liedtext nahelegt (es, es, es und es), sondern geht ihren eigenen Weg und durchschreitet, diatonisch absteigend, eine große Sexte. Eine Transposition des Liedes nach Ces-Dur erlaubt nicht nur, den Ton es immerhin als Anfangston beizubehalten, sondern ermöglicht auch bei den vielsagenden Worten »ein harter Schluss« eine trugschlüssige Wendung zu dem aufsehenerregenden Akkord Eses-Dur (Abbildung 1). Zudem erhält man in der Melodie eine höchst aparte Kette von Tiefalterationen: es resultiert die Tonfolge es, des, ces und ges – vier Töne, von denen zwei bereits als Gender-Konstruk­te identifiziert werden konnten! Unter Berücksichtigung der ehernen diversity-Grundsätze des 21. Jahrhunderts müsste der Liedtext wohl eigentlich lauten: »Er, sie, es und ich« (womit außerdem ein psychoanalytischer Aspekt ins Spiel kommt). Bei näherer Betrachtung erweist sich dieses Liedchen also als erstaunlich vielschichtig.

Abbildung 1: Abgewandelter Beginn des Volksliedes Es, es, es und es

Abbildung 1: Abgewandelter Beginn des Volksliedes Es, es, es und es

Die historisch jüngere Hochalteration führt gegen Ende der Renaissance-Zeit zur Etablierung des Tons cis, der zuvor lediglich als künstlicher Leitton im Kadenzzusammenhang in Frage kaum und nicht als selbständiger Skalenton zur Verfügung stand. Vor diesem cis, einer wahren nota sensibilis, müssen wir uns nach wie vor hüten, zumal das Begriffsdickicht der geschlechtlichen Identitäten und Konstruktionen, wie sie durch die lateinischen und griechischen Vorsilben hetero-, homo-, bi-, inter-, trans- und eben auch cis- ausgeprägt werden, sich ohne weiteres auf Musik übertragen lässt. Die meisten dieser Silben finden sich auch in der musikalischen Terminologie: Man spricht von Heterophonie, Homorhythmik, Bitonalität, es existieren Werktitel wie »transzendentale Etüden«.2 Das cis jedoch tritt weniger offensichtlich und quasi subkutan in Erscheinung, als stabilisierender Gegenbegriff zu dem unsteten trans-, als ein metaphysisches Diesseitiges in Abgrenzung zu allem Jenseitigen. Jedes cis ist weltzugewandt und steht für Helligkeit, Glanz, Erlösung, ein resolvierendes Hinaufstreben zur D-Mut (das gilt für den Ton dis, Bestandteil von negativ besetzten Begriffen wie Dissonanz oder Discothek, nicht in gleichem Maße). Ich möchte anregen, die Eigenschaft der Diesseitigkeit, wie sie durch die Verwendung von cis konstituiert wird, auch als Kategorie der musikalischen Semantik aufzufassen. Ein cis steckt stets voller Bedeutung und ist niemals harmlos. Wenn Mozart, scheinbar unbefangen, sich dieses Tons bedient, muss er sich irgendetwas dabei gedacht haben, so oft, wie das cis in seinen Partituren enthalten ist. Da eindeutige Äußerungen vom Komponisten fehlen, können wir nur spekulieren, welche Botschaft dieser Ton transportiert (oder cisportiert): Ist er womöglich ein Symbol für das Freimaurertum? Oder handelt es sich um bloßen ›Narcismus‹?

Geschlechtliche Identitäten und Konstruktionen lassen sich, wenn es um Personen geht, mit Mitteln der Sprache mittlerweile hinreichend genau bestimmen; in den Social Media stehen zur Definition der Kategorie »Geschlecht« regelmäßig mehr als 50 Begriffe zur Verfügung.3 Die Vorsilben cis– und trans- stellen innerhalb dieses Vokabeldschungels ein Unterscheidungskriterium zwischen normativer Diesseitigkeit (Cisgender bzw. Cissexualität) und den vielfältigen Ausprägungen von deren queerer Überschreitung (Transgender bzw. Transsexualität) zur Verfügung. Es stellt sich nun die Frage nach einer Entsprechung in der Musik. Da ist es komplizierter: Das sogenannte Tongeschlecht kann, auch in cis-seitigen Fällen, noch in beide Richtungen ausschlagen, etwa im Falle von Cis-Dur und cis-Moll – ein Phänomen, das mit einigem Recht als key mainstreaming bezeichnen werden dürfte. Wenn die komponierende Person allerdings feststellt, dass das gewählte Tongeschlecht im Widerspruch zu dem vom Musikstück selbst empfundenen Gender steht, besteht ein Grund zur Applikation einer enharmonischen Verwechslung. Die Musik wird dann trans-tonal; etwa wird aus Cis-Dur dessen ›Varianttonart‹ Des-Dur. Diese Transformation macht mir plausibel, warum ich Werke wie Chopins Fantaisie-Impromptu op. 66 hochschätze (dieses Werk steht in cis-Moll und entspricht somit meiner eigenen cissexuellen Orientierung), mit dem für mich banalen Des-Dur-Mittelteil, der nicht meinem Beuteschema entspricht, hingegen Schwierigkeiten habe. Um mit Robert Schumann zu sprechen: »Auch im Leben lassen sich viele und die meisten Dinge enharmonisch drehen und verwechseln«.4 Voilà – es kann manchmal so einfach sein, die Welt zu erklären.

Queerness, also Andersartigkeit des Geschlechts bzw. der geschlechtlichen Orientierung, ist auch in der Musik ein Politikum. Die traditionelle, von maßgeblichen Autoritäten der europäischen Musikgeschichte propagierte Sichtweise ist: Die Diatonik ist der Normalfall, jeder Stammton darf entweder alteriert oder nicht alteriert vorkommen – sonst entstehen chromatische Reibungen, und die sind pervers und klingen unnatürlich. Es überrascht nicht, dass sich die konservative Kirchenmusik schon früh gegen jede musikalische Queerness wandte, indem sie das Phänomen des »Queerstands« als teuflische Entgleisung verdammte (mi contra fa – diabolus in musica). Solche diffamierenden Verdikte haben wir glücklicherweise überwunden; vom langwierigen Prozess der Selbstbefreiung queerer Musik zeugt etwa Das lila Lied (1920) von Kurt Schwabach und Mischa Spoliansky,5 während ein halbes Jahrhundert später das Sesamstraßen-Titellied von Ingfried Hoffmann und Volker Ludwig (1972) mit seiner Refrainzeile »Der, die, das …« schon vollständige gender equality verwirklicht. Gleichwohl haben wir auch heute noch nicht in allen Bereichen Liberalität erreicht; ein noch unverwirklichtes Desiderat ist etwa die Gründung des Queerfurter Festivals ›Queerklang‹, bei dem Queerflötenmusik queerer Urheber präsentiert wird. Es muss hier leider darauf verzichtet werden, die Produkte queeren Komponierens bzw. deren Verflechtung mit der Biographie ihrer jeweiligen Autoren näher zu untersuchen – dies wäre nun wirklich eine Aufgabe für die universitäre Gender-Musikforschung, zu der ich mich alles andere als berufen fühle.

Allen Vorbehalten und Restriktionen zum Trotz hat es queere Musik zu allen Zeiten gegeben. Ein Paradebeispiel für Queerständigkeit ist die Partie der DesD-Mona aus Giuseppe Verdis Otello, eine der chromatischsten Opernpartien aller Zeiten. Sicherlich hätte Verdi auch ein cis verwenden können, um das intendierte Leittonverhältnis auszudrücken; aber da das Verhältnis zwischen Desdemona und Othello sich im vierten Akt zusehends trübt, erscheint es nachvollziehbar, dass der Komponist hier zur Enharmonik greift. Das diametrale Gegenstück zu dieser Musik finden wir in Händels Acis und Gala-t-ea vor, einer geradezu idealtypischen Ausprägung der diatonischen Heteronormativität. Es liegt also der Schluss nahe, dass das Phänomen der enharmonischen Verwechslung eine Gender-Transformation einschließt: Wechseln bei gleichbleibender Tonhöhe die Versetzungszeichen, so variiert das tonale gender bei konstantem sex – die Musik schwappt zum anderen Ufer. Die Konsequenzen dieser Erkenntnis sind allerdings äußerst begrenzt, denn schließlich wäre es verfehlt anzunehmen, dass Gesualdo den Ton fis abgelehnt habe (zu dem ein Hanns Eisler sich stets leittönig verhielte), dass Paul Dessau nicht in cis-Moll oder Hugo Distler nicht in Es-Dur komponiert habe, oder dass ein b-thoven prinzipiell alle #-Tonarten gemieden habe. Lassen wir den Tönen also ihr queeres Eigenleben und wenden wir uns einem neuen Teilgebiet unseres Themas zu.

(Fortsetzung in Teil 3)

  1. Auch durch Hinzufügung eines Titels oder einer Amtsbezeichung kann man neutralen Tonnamen leicht ein definiertes Gender verpassen, wie am Beispiel des Dr. h c (doctor honoris causa) ersichtlich wird. Dieser ›Doktor Leitton‹ ist offenbar in C-Dur beheimatet oder, wie man früher zu sagen pflegte, er »geht aus dem C dur«. Ob die leittönige Veranlagung den promovierten ›Tonling‹ allerdings auch für eine Leitungsfunktion prädestiniert, bleibt unklar.
  2. Der lateinische Begriff transitus bezeichnet in der musiktheoretischen Literatur der Renaissance das kontrapunktische Phänomen der Durchgangsnote. Es ist also klar, wofür der Terminus transituss inversus steht: Gemeint ist eine aufgedonnerte Trans-Frau, die ihre eben vollzogene Geschlechtsumwandlung rückgängig machen lassen möchte.
  3. Mit der Aufzählung möchte ich hier gar nicht erst beginnen. Beispielsweise existieren bei Facebook neben verschiedenen Komposita mit den Vorsilben trans- und inter- auch Wahlmöglichkeiten wie ›pansexuell‹ oder ›pangender‹, die nebenbei ganz hervorragend zur Untersuchung von Panflötenmusik geeignet sind (oder auch zur Analyse von Kompositionen von Roussel, Debussy und Szymanowski, in denen die mythologische Figur Pan dargestellt wird).
  4. Schumann in einem Brief an Wilhelm Schüler, 14. September 1835.
  5. Dort heißt es in der zweiten Strophe: »Und dennoch sind die Meisten stolz, / Dass sie von anderm Holz.«
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