Begin the Beguine
Zu den zweifellos anregenden Erlebnissen im Internet gehören zufällige Entdeckungen in immer neuen Verzweigungen. So stellte ich plötzlich fest, dass es zu dem wunderbaren Jazz-Standard Begin the Beguine von Cole Porter ein gleichnamiges Spätwerk des von mir verehrten Malers Max Beckmann gib:
https://beckmann-gemaelde.org/727-begin-beguine
Vier Personen versuchen dort scheinbar unbeholfen einen Tanz. Drei davon sind versehrt, haben jeweils ein Holzbein, eine Armstütze als Krücke, verstümmelte Hände. Alle vier werden beobachtet von düsteren Rabenvögeln. Beckmann malte dieses Bild in Amsterdam 1946 nach Ende des zweiten Weltkriegs, kurz bevor er und seine Frau das Visum für die USA bekamen.
Er nannte das Bild nach Cole Porters Song aus dem Musical „Jubilee“von 1935 ( hier ist die weitgehend instrumentale Erstfassung zu hören: https://www.youtube.com/watch?v=EDczOaOSfAo ), der ab 1938 in der Swing-Fassung von Artie Shaw und seinem Orchester einen wahren Siegeszug um die ganze Welt machte : https://www.youtube.com/watch?v=cCYGyg1H56s . Er war kurz vor dem Krieg sogar noch in Nazi-Deutschland bekannt geworden, zum Beispiel durch Marika Rökk sowie durch das Tanzorchester Peter Kreuder: https://www.youtube.com/watch?v=3wvzwdAX20g&list=PLOSqpMke7cUbGT4qptUozu-0l1xzCMOUl&index=6. Ähnlich wie bei dem deutschen Megahit der Zeit „Lili Marleen“ besingt das Lied eine vergangene romantische Begegnung. Wie dort die Laterne die Erinnerung auslöst, ist es bei „Begin the Beguine“ die Musik selbst:
„When they begin the Beguine / It brings back the sound of music so tender / It brings back a night of tropical splendor / It brings back a memory ever green.“
Auffallend ist im Vergleich mit „Lili Marleen“ der hörbare Gegensatz des damaligen „Clash of Cultures“: „Begin the Beguine“ trägt in sich die entspannte Ambiguität zwischen einem lateinamerikanischem Tanzrhythmus, eben der Beguine ( oder auch: Biguine ) und Swingeinflüssen; „Lili Marleen“ dagegen aus Nazi-Deutschland wurde zunächst vielleicht ebenso traumverloren erfunden, wurde dann aber auf persönliche Anweisung des Propagandaministeriums in einen zackigen Marschrhythmus umgeschrieben. Der Swing hat 1945 gesiegt.
Ich erinnere mich an München Anfang der 90er Jahre. Begin the Beguine kam damals in der majestätischen Fassung von Ella Fitzgerald in mein Leben geschwappt: https://www.youtube.com/watch?v=KxzyQNzlkH0
Die Melodie bekommt mit ihrer so überwältigend einladenden Stimme Großzügigkeit und Grandezza, Klarheit und Humor. Der lateinamerikanische Rhythmus allerdings wird in dieser Fassung komplett verswingt, was mich früher überhaupt nicht störte, heute vielleicht doch ein bisschen, da es die innere Spannung des Songs ein Stück weit auflöst. Ella Fitzgeralds Stimme bleibt immer im Vordergrund, die Melodie ist hier alles und wird in größter Plastizität herausgearbeitet.
So in etwa nahm der Song auch nach dem Siegeszug von Artie Shaws Klarinette – man spricht von sechs Millionen verkauften Platten in den Kriegsjahren – weiterhin mit allen renommierten Jazz- und Unterhaltungssängern seinen Lauf um die Welt. In allen Radios und auf kleinen Schallplatten für portable Geräte konnte diese Melodie sofort prägnant erkannt werden, egal welche/r Chanteuse oder Chanteur am Werke war ( Ginny Simms, Rosario del Alba, Catarina Valente oder Perry Como, Elvis Presley, Frank Sinatra, Mario Lanza, Karel Gott, Julio Iglesias sind nur einige prominente Beispiele ) 1961 war der Song bereits von der ASCAP zu den 16 „All Time Songs“ gewählt worden. „Evergreen“ wurden diese auch genannt.
Exkurs mit Verzweigungen: Meine Lieblingsfassung ist die von Ann-Margret von 1971, die von der Kultur des Soul angeheizt ist: https://www.youtube.com/watch?v=uHvhNxKDgEM Das klasse Arrangement stammt hier von dem brillanten schwarzen Musiker Hidle Brown Barnum, dessen einziger Hit , das Instrumental „Lost Love“ von 1961 ebenfalls hörenswert ist https://www.youtube.com/watch?v=4vSNJWnxwfEBereits Und von diesem „Lost Love“ gibt es ebenfalls eine Fassung von Ann-Margret mit Text, veröffentlicht auf der damals neuen Compact Disc, die auf 33pm lief. H. B. Barnum hatte es für sie nochmal arrangiert und das Orchester dirigiert: https://www.youtube.com/watch?v=ig5z31rJrN4 Ann-Margret stammte übrigens ursprünglich aus Schweden, was man an ihrer Stimmfärbung manchmal heraushören kann. Sage niemand, es habe vor ABBA keine schwedischen Popexporte gegeben! H .B .Barnum wiederrum war auch als Sänger höchst eindrucksvoll, hier sein toller Song „It hurts too much to cry“: https://www.youtube.com/watch?v=zIFV6jOigI4. Er hat dann später 25 Jahre als Bandleader ( genannt „H“ ) für die Soul-Ikone Aretha Franklin ( „Ms. Re“ ) gearbeitet. Ann Margret übrigens wurde so richtig berühmt durch ihre Zusammenarbeit mit Elvis Presley, dem sie vollauf das Wasser reichen konnte ( zum Beispiel in dem Film „Viva las Vegas!“ ) Beider Erfolg, wie auch anfänglich bei den Beach Boys, fußte auf der Inbesitznahme und Nachahmung schwarzer Musik.
Und es gibt auch – Pause, Ausrufezeichen, und wie immer alleinstehend – die Fassung mit Charlie Parker: https://www.youtube.com/watch?v=2i60LYLZxvU
Den Beginn machte der Beginn des Beguine ohne Zweifel mit dem fast Dada-artigen Wortspiel. Wegen des in Folge ausladenden Formaufbaus mit verschlungen Akkordverbindungen, die für normale Jazzer nicht leicht zu merken waren, wurde von diesen der Kalauer aufgebracht, sobald „Begin the Beguine“ eine Weile laufe, denke man beim Spielen verzweifelt „End the Beguine!“ – auf der Suche nach dem Ausgang.
„When they begin“ – hier findet der Themenaufbau mit einem Kernmotiv einer Durakkordbrechung auf einer gegen das 4er-Metrum zögernden Vierteltriole statt, was ein bißchen an den Grundrhythmus von Ravels Bolero erinnert. Der Aufschwung zur Quinte bildet den „Grundort“ des Songs, dieses wird dann auch als immer wiederkehrendes Motiv verarbeitet. Mit „the Beguine“ senkt sich die Melodie wieder mit der Umspielung über die Sekunde zur Terz zurück. Mit „It brings back the sound“ wird mit dem Rhythmus des Motivs der Klangraum zur Sexte erweitert, was in dem vorgegebenen Rahmen merkwürdigerweise ein außerordentliches Ereignis ist, emphatisch, fast jubilierend. Mit „of music so tender“ wird der erste Akkordwechsel zur zweiten Stufe gebracht, bei „tender“ ein Vorhalt. Dann mit „it brings back a night“ geht es noch emphatischer auf die None hinauf. Auch die Harmonik mit der Mollsubdominante mit Sexte erreicht hier großen Schmelz. Mit „It brings back a memory ever green“ zieht sich die Melodie wieder zur Tonika, zum Ausgangspunkt zurück. Diese Strophe wird dann einmal wiederholt, um allerdings beim nächsten Ansatz einen Abweg in einen neuen Formteil, eine Art Bridge zu nehmen, indem das Thema plötzlich in b-Moll präsentiert wird, ein ungeheuer einschmeichelndes Erlebnis und eine Irritation, weil die Bridge auf diese Weise wie eine gefärbte Wiederholung des Anfangsteils zunächst wirkt – in klassischem Formdenken eher wie eine Durchführung, eine Wegführung ins Offene. Über eine Sequenz führt die Melodie dann zur Dominante in die Höhe, insistierend, auch irgendwie bohrend, um wieder zu beginnen mit der Biguine. Eine letzte Steigerung, die nun fast explizit an den Bolero erinnert, findet gegen Ende des Songs statt, wo der Grundrhythmus akkordisch in Terzlage gehämmert wird zu dem Text „So don´t let them begin the Beguine“. Es wird also insgesamt nicht nur Süße, sondern auch eine zerrissene Gefühlslage dargestellt zwischen sentimentalem Erinnern und schmerzhaftem Abwenden davon.
Warum habe ich selbst nach „Begin the Beguine“ im Internet gesucht? Ich hatte in Cole Porter-Songs herumgeblättert, war an dem Lied hängen geblieben, und dann passierte etwas mit mir. Mit mehrmaligem Durchspielen sickerte diese Melodie mit ihrem unwiderstehlichen Sog aus der Vergangenheit in mich hinein. Ich hatte nicht nur fast zwei Wochen lang einen Ohrwurm, wie man so sagt, nein viel tiefergehend verdüsterte sich meine gesamte Stimmung tagelang mit einem tiefgehenden Herzschmerz. Das sind die hier von mir schon häufiger aufgerufenen „feels“ vor den Noten. Sie schweben an die Songwriter heran, momenthaft, häufig unvorhergesehen, alle berufenen Leute sprechen von der Kunst der Wartens auf diese Momente. Cole Porter hat das Lied der Erzählung nach 1935 auf einem Schiff im Pazifik mit Richtung der Fidschi-Inseln geschrieben. Und es war ihm augenblickshaft gelungen, sein sentimentales Weh über das Vergehen einiger romantischer Liebesmomente mit geeigneten Noten zu konservieren. Ein Übertragungsmoment zu schaffen, an das sich Menschen auf der ganzen Welt anschließen konnten.
Warum hast du selbst nach „Begin the Beguine“ gesucht? Weil du selbst eine Versehrung hast wie die Menschen auf dem Bild von Max Beckmann, einen Schmerz, eine Verkrüppelung. Nur die sentimentale Erinnerung führt dich zu deinen Verletzungen und Verlusten zurück. Wie Orpheus ist es dir verboten, dich nach hinten umzudrehen. Du kannst nur mit deinem Holzbein agieren und in der Glasscherbe eines Songs einen Lichtblitz aus dem Vergangenen auffangen: When they begin the Beguine…
( Jobst Liebrecht, 5.9.2024 )