Made in Marzahn – Folge 1
20 Jahre Neue Musik im Jugendsinfonieorchester Marzahn-Hellersdorf an der Hans-Werner-Henze-Musikschule in Berlin / 40 Begegnungen mit Komponistinnen und Komponisten – eine persönliche Chronik ( Folge 1: 2005-2008 )
Das Jugendsinfonieorchester Marzahn-Hellersdorf wird im Januar 2025 sein 20jähriges Jubiläum feiern! Als Leiter des Orchesters seit seiner Gründung 2005 habe ich deshalb in diesen Sommerferien Rückschau gehalten. Ich war dabei selbst überrascht und überwältigt, wie viel dort passiert ist.
Wie im biblischen Gleichnis erlebte ich in Marzahn-Hellersdorf über den Daumen gepeilt sieben fette Jahre (2005-2012), gefolgt von sieben mageren Jahren unter schwierigen Bedingungen, in denen das Orchester nach und nach immer kleiner wurde (2013-2020). Danach kam es zu einem erneuten Aufwuchs der Besetzung ( ab 2020 bis jetzt ). Bei allem wechselten mehrere Generationen von jungen Musikerinnen und Musikern. Intensiv und kreativ war es immer und zu jedem Zeitpunkt.
„Made in Germany“ – dieses gilt in der Welt nach wie vor als Qualitätszeichen. Ob dem Jugendsinfonieorchester Marzahn-Hellersdorf ein Qualitätszeichen „Made in Marzahn“ gelungen ist, überlasse ich den Leserinnen und Lesern.
Ich widme diese Erinnerungen folgenden verstorbenen Komponisten dieser Chronik, mit denen das Orchester wunderbare persönliche Begegnungen hatte: Zuerst Hans Werner Henze, dann Matthias Kaul, Klaus K. Hübler und Georg Katzer.
Kursiv sind die aufgeführten Werke mit Verlagsangaben als eine Art Katalog für Interessierte angegeben.
1 ) Moritz Eggert
Bei der Orchestergründung im Januar 2005, dem Beginn meiner Tätigkeit in Marzahn-Hellersdorf war ich selbst vierzig Jahre alt. Ich stand also, wie man so sagt, in der Mitte des Lebens und war voller Ideale und Vorhaben. In Marzahn-Hellersdorf konnte in meiner Vorstellung eine Art Bauhaus in Sachen Jugendorchester entstehen. Die Beschäftigung mit Musik sollte dort immer auch zeitgenössisch sein, lustvoll kreativ, unruhestiftend, gesellschaftsbildend. Für mich, der ich selbst in einer Hamburger Vorstadt aufgewachsen war, war es sehr wichtig, dass den Jugendlichen ein Orchesterangebot dort vor Ort ohne lange Wege in ein fernes Stadtzentrum gemacht wurde. Der erste musikerfindende Partner dafür war mein alter Freund, der Komponist Moritz Eggert. Moritz hatte gerade eine große Kinderoper geschrieben, die „Dr. Popels fiese Falle“ hieß. Ein Titel wie gemacht für ein Jugendorchester! Aus dieser Oper zog ich in Absprache mit ihm im Sommer 2005 eine ca. 20minütige Orchestersuite heraus, die wir im ersten Jahr des Orchesters bereits alle zusammen auf die Bühne brachten. Dieses turbulente Stück ist geeignet dazu, eine ganze Institution wie die Musikschule Marzahn-Hellersdorf als Kollektiv zu beschäftigen. Neben dem groß besetzten Orchester, das lustig und quirlig agiert, gibt es eine Fülle von Schlaginstrumenten und vor allem ein aus der Tradition von John Cage und Cornelius Cardew kommendes „Geräuschorchester“ an Luftschläuchen und vielen anderen Schallgeräten, für das mindestens 20-30 weitere Musikschüler eingespannt werden können. Alles in allem waren wir am Ende 120 MusikerInnen auf der Bühne, ein echter Rekord. Besonders in Erinnerung ist mir die Beschaffung von zwei Luftschutzsirenen, wie sie schon in Werken von Paul Hindemith zum Einsatz gekommen waren. Da Moritz außerdem Geburtstag hatte, spielten wir in demselben Konzert für ihn als Ständchen sein zauberhaftes kurzes Jugendstück „Der ewige Gesang“.
Moritz Eggert / Jobst Liebrecht (Bearb.) Dr. Popels fiese Falle, Suite für Orchester ( 2005 UA ) – Schott-Verlag
Moritz Eggert, Der ewige Gesang ( 1987 ), Sikorski Verlag/Ricordi
Moritz war im Laufe der Jahre noch mehrmals zu Gast. Beim Classic Open Air 2009 führten wir zum Beispiel seine „Symphonie 3.0“ für 6 Schiffshörner / Autohupen auf. Hierfür probten wir mit 12 Leuten auf dem Gelände der BMW-Niederlassung Biesdorf, erregten großes Aufsehen mit unserem Lärm. Zwei Musikerinnen und Musiker saßen jeweils in einem brandneuen Mini. Eine/r las die Partitur und guckte auf den Dirigenten, der/die andere drückte auf Zeichen die Hupe. Die Aufführung auf dem Fritz-Lang-Platz war ein großer Spaß! Eine Zweitaufführung des Stückes bei der Klangwerkstatt Kreuzberg wurde dann von dem dortigen Bezirksamt „wegen Ruhestörung“ untersagt. Stattdessen versuchten wir in der Kapelle Bethanien mit unseren Stimmen lauthals eine „Chorversion“ zum Besten zu geben.
Moritz Eggert, Symphonie 3.0. ( 2002 ), Sikorski Verlag/Ricordi
Mini-Probe für „Symphonie 3.0“ von Moritz Eggert 2009
2) Paul Hindemith
Paul Hindemith war mir in Marzahn-Hellersdorf von Anbeginn mit seinem Wirken in den 1920er Jahren, als in Berlin die ersten staatlichen Musikschulen gegründet wurden, ein leuchtendes Vorbild. Schon von Kindheit an habe ich seine Kinderkantate „Wir bauen eine Stadt“ sehr geliebt. So sehr, dass ich sie immer wieder mit meinen Nachwuchsorchestern hervorhole. In Marzahn-Hellersdorf mit seiner gewissen Anmutung von Wüstheit voller Bauflächen, Leerflächen, liegen gebliebenen Bauprojekten usw. bekam ich im zweiten Jahr des Orchesters große Inspiration zu einer „Marzahner Fassung“ mit „Zwischenspielen für Geräuschorchester“. Angeregt durch die pädagogischen Erfolge mit dem Geräuschorchester bei „Dr. Popels fiese Falle“ baute ich jetzt eine solche Truppe mit modernen Erweiterungen wie Plastiktüten, Drehwalzen usw. in „Wir bauen eine Stadt“ ein. Sie verkörperten sozusagen die verschiedenen Stimmungen und Klänge auf einer Baustelle. Wir spielten die Uraufführung im Sommer 2006 beim Classic Openair in Hellersdorf.
Paul Hindemith, Wir bauen eine Stadt, Schott Verlag
3 ) Kamalesh Maitra
Ein besonderes Projekt führte im selben Jahr nach Indien, indem wir verschiedene neu orchestrierte Orchesterstücke meines verstorbenen Freundes, des großen Tabla-Meisters und Komponisten Kamalesh Maitra einstudierten, zusammen mit seiner Erbin an den Tablas, Laura Patchen. Es waren drei Stücke von ihm „Aadhar Aalo“, „Suasti“ und „Kalyanee“, die wir mit dem Ragatala-Ensemble, neben Laura noch mit Mila Morgenstern an der Flöte und Norbert Klippstein an der Sarod, zum ersten Mal im FEZ Wuhlheide spielten. Proben, bei denen das Orchester auf dem Boden saß, sind mir in Erinnerung, und dass der 7/4 mit eingelagerten 7/8-Takten triumphal unser Leben eroberte. Mit Laura spielten wir später 2014 „Kalyanee“ auch noch einmal im Berliner Hauptbahnhof.
Kamalesh Maitra / Gernot Reetz ( Bearb.) Aadhar Aalo, Musikverlag Ries und Erler
Kamalesh Maitra / Gernot Reetz ( Bearb.) Suasti, Musikverlag Ries und Erler
Kamalesh Maitra / Friedemann Graef (Bearb.) Kalyanee, Musikverlag Ries und Erler
Das JSO mit Laura Patchen (Tablas) und Ghaith al Shaar (Oud) im Berliner Hauptbahnhof 2014 ( Foto: Erik Jan Ouwerkerk )
4 ) György Ligeti und John Cage im ORWO-Haus
Die Arbeit des Orchesters nahm immer mehr Fahrt auf, und plötzlich wurde ein ungewohnter Konzertort an uns herangetragen: das legendäre ORWO-Haus hinter der Landsberger Allee, an einer kleinen Zufahrtsstraße, die gerade in einer Laune der Geschichte in Marzahn den Namen Frank-Zappa-Straße bekommen hatte – da könnten wir doch mal spielen! Das ORWO-Haus war und ist ein großer Betonklotz, ein damals besetztes und heute selbstverwaltetes Haus, in dessen Räumen sich bis heute überall Pop- und Rockbands eingenistet hatten und haben. Unten im Eingangsbereich gab und gibt es eine große Betonhalle, die eigentümlicher Weise für Konzerte wunderbar geeignet ist. Hier fand 2007 ein legendäres erstes Konzert mit uns statt. Einer der Höhepunkte des Konzertprogramms war das „Poème symphonique“ für 100 Metronome von György Ligeti. Die Einstudierung geriet in große Turbulenzen, als sich herausstellte, dass zu unserem Konzerttermin sämtliche Metronom-Sets der bekannten Metronom-Firma für dieses Stück bereits auf Reisen und unverfügbar waren. Hier ist der richtige Ort, um an Martina Feldmann, die unermüdliche und durch Nichts aufzuhaltende erste Organisatorin und eigentliche Gründerin des JSO Marzahn-Hellersdorf zu erinnern. Nur dank ihrer Energie und der Hilfe ihrer Schülerin Franziska Biedermann, die beide damals zum Sammeln durch ganz Berlin fuhren, ist es gelungen, 100 Metronome für unseren Auftritt aufzutreiben! Diese Metronomsammlung „Made in Marzahn“ muss man sich völlig anders vorstellen als bei anderen Aufführungen dieses Stückes. Sie waren bis auf einen Grundstamm von 40-50 schwarzen 08/15-Modellen alle völlig verschieden. Es waren Ost-Modelle, es waren West-Modelle, es waren Holz-Modelle, es waren Plastik-Modelle, es waren sogar verzierte und künstlerisch gestaltete Metronome dabei, die eher aussahen wie Gartenzwerge. Der Sound, der entstand, war dann auch das, was ich den „Marzahn-Sound“ nennen würde: die Metronome klangen wild, nicht heterogen, vielschichtig, aufregend. Auch für die Spielweise, also ganz konkret für den Beginn des Stückes hatten wir nach vielem Überlegen die, wie ich fand, beste Lösung, gefunden. 25 SpielerInnen des Orchesters konnten pro Person mit den Fingern ihrer Hand jeweils vier Metronome im Griff haben und genau gleichzeitig auf Signal starten. Den Klang der letzten langsamen Metronomschläge, wie sie sich in der ORWO-Fabrikhalle förmlich aufrichteten, werde ich nie vergessen. Fast ebenso spektakulär war eine Aufführung der „Imaginary landscape No.4“ für 12 Radios von John Cage. Hier bedienten 24 SpielerInnen den Sendelauf und den Lautstärkeregler an 12 alten Transistorradios, aus denen zufällige Fetzen von Radiosendungen eine Collage bildeten. Was für ein Spaß! Auch schon in den Proben im Konzertraum der Musikschule unter dem Sekretariat. Brigitte Rzepka, die gute Seele der Musikschule kam runter: „ was probt IHR denn da!?“ Es war die Zeit der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder (NB. so lang ist das schon her!), und beim Konzert entstand große Heiterkeit im Publikum, als mitten im Stück der Ausschnitt eines markigen Statements von ihm durch die Halle dröhnte. Bei einer zweiten Aufführung im FEZ Wuhlheide später im Jahr gab es bereits Probleme mit dem Empfang. Dort war alles bereits auf Digital umgestellt, und einige Programme drangen nur noch schemenhaft auf die Bühne.
György Ligeti, Poéme Symphonique, Schott Verlag ED 8150
John Cage, Imaginary Landscape No. 4 for 12 Radios, Edition Peters, EP 6718
5) Jobst Liebrecht im ORWO-Haus
Hier könnte ich nun eine ganze Geschichte erzählen, wie mein eigenes Komponieren in Marzahn-Hellersdorf tief geprägt wurde. Ich selbst hatte für das JSO zunächst mit Bearbeitungen wie der vorher erwähnten Hindemith-Kinderkantate angefangen, oder kleine Stücke von Georg Böhm , Beethoven oder Robert Schumann für Orchester gesetzt. Dann tastete ich mich vor mit Miniaturen wie den „3 kleinen Stücken“, die später Teil meiner Orchesterwerke werden sollten. Bei dem Konzert im ORWO-Haus holte ich jetzt eine erste ausgedehntere eigene Idee aus dem Kasten, und es ging gleich in die Vollen: Für die Uraufführung von „Le soleil de la nuit“ für Industriemaschinen und Instrumente mussten wir, wie der Titel andeutet, mit einem kleinen Aktivtrupp durch die Marzahner Gewerbegebiete tingeln und ein ganzes Repertoire an Maschinen zusammensammeln. Sehr lustig war der Termin im Toyota-Autohaus, wo wir diverse Metallfelgen und große Blechtonnen mitnehmen konnten. Noch lustiger die Beratung durch die Chefin in einer Baumaschinenfirma, als sie zur schnurrenden Rasen-Häckselmaschine sagte „Na, dit wär doch was! Moll, Moll!!“ Höhepunkt unseres Fuhrparks an Geräten im Konzert war dann eine große, benzinbetriebene Schleifmaschine, die am Ende des Stückes von Oskar zum Aufheulen gebracht wurde.
Hier die Besetzung zur Erheiterung:
jobst liebrecht „le soleil de la nuit“ – drei sätze für industriemaschinen und instrumente
INDUSTRIEMASCHINEN/GERÄTE – 9 SPIELER:
I „Schleifmaus“, Handfräser mit Fußschalter, Autofelge(hoch), Hohlbohrkrone(1)
II Elektro-Tacker, Flachdübelfräser( ad.lib. außerhalb des Raumes), Autofelge (hoch), Hohlbohrkrone(2)
III „Hoffmann-Schwalbe“ , Kurbelwelle , Autofelge(hoch) , Hohlbohrkrone(3)
IV Schmutzwasserpumpe , altes Auto-Auspuffrohr (ganz) , Autofelge(mittel), Hohlbohrkrone(4)
V Elektro-Leise-Häcksler , Rasenwalze (Metall,manuell), Metallschlauch mit Kunststoffumwicklung , Autofelge(mittel) , Diamant- Bohrkrone(1)
VI Hand-Bändermaschine (auf einen Holztisch o.ä. gehalten) , Metallschlauch mit Kunststoffumwicklung , Autofelge(mittel), Diamant-Bohrkrone(2), Plastikfolie ( sehr dünn )
VII Kantenfräser, Innenvibrator DN 8 , Stemmhammer H 90 SE (außerhalb des Raumes) , Autofelge(tief) , Diamant-Bohrkrone(3), Plastikfolie ( sehr dünn )
VIII Große Öltonne (mit IX) , Metallschlauch mit Kunststoffumwicklung, Autofelge(tief) , Diamant-Bohrkrone (4), Plastikfolie ( sehr dünn )
IX Schleifbock , Große Öltonne (mit VIII), Benzin-Schleifer TS 400 (außerhalb des Raumes), Autofelge(tief) , Diamant-Bohrkrone(5), Plastikfolie ( sehr dünn )
Jobst Liebrecht, Le soleil de la nuit für Industriemaschinen und Instrumente ( 2007, UA )
Das ORWO-Haus, Berlin-Marzahn, Frank-Zappa-Straße
6 ) Alexander Strauch
Im zweiten Jahr des Orchesters 2006 war es soweit, und wir wollten endlich auch einen eigenen Kompositionsauftrag für ein „richtiges Orchesterwerk“ speziell für uns als JSO nach außen erteilen. Es gab auch einen schönen Anlass: 2007 sollte der „Tag der Berliner Musikschulen“ prachtvoll in der Berliner Philharmonie stattfinden, und dort im Kammermusiksaal sollte das geplante Werk uraufgeführt werden. Bloß: wer schreibt für wenig Geld ein ganzes Orchesterwerk? In meinem Freund Alexander Strauch aus München fanden wir diesen Verrückten, der uns sein Schlagzeugkonzert „Ascenseur“ für Marimba und Orchester quasi auf den Leib schneiderte. Um die Sache mit dem musikschulbedingt begrenzten Honorar humorvoll zu gestalten, wurde mit ihm dafür eine Summe in Höhe der Postleitzahl ausgehandelt (…natürlich der Berliner PLZ und nicht der Münchner…) Leo Henry Koch war unser Solist, und vor dem Auftritt saßen Alexander und ich im Backstage-Bereich der Berliner Philharmonie und fühlten uns beide chefmäßig und supercool!
Alexander Strauch, Ascenseur – Konzert für Marimba und Orchester 2007 (UA)
Das JSO Marzahn-Hellersdorf 2008 ( Foto: Sabine Kalkus )
-Fortsetzung folgt-