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Fremd bin ich / Schubertsplitter / zu den ersten drei Tönen der „Winterreise“

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Sieh! und das Ebenbild unserer Erde, der Mond,

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Kommet geheim nun auch, die schwärmerische, die Nacht kommt,

Voll mit Sternen, und wol wenig bekümmert um uns

Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen

Über Gebirgshöhen traurig und prächtig herauf“

 

( aus: Friedrich Hölderlin, Die Nacht )

 

„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ – Stundenlang  könnte  man über die Interpretation der „Winterreise“ von Franz Schubert streiten. Soll man wie die Prégardiens einzelne Worte minutiös gestalten oder versteht man den Inhalt besser, wenn man wie zum Beispiel Hermann Prey nur im Inneren die Bilder aufruft und auf einer mehr objektiv-sachlich berichtenden Ebene im Gesang verbleibt? Dann die Frage der Tempi: meist viel zu langsam – aber ist es nicht auch legitim, wenn man wie  damals Peter Schreier und Svjatoslav Richter in die epische Breite und Schwere sich bei dem Thema begibt? Und wiederum: Muss es nicht durchaus ein Tenor sein, der wie Ian Bostridge die nötige Leichtigkeit auch mitbringt? Und wird da nicht bei vielen Berühmtheiten zu opernhaft gesungen?

Eins aber bleibt gleich: Schuberts Lieder sprechen zu uns ganz unmittelbar,  in unmittelbarer Gegenwart, wie in unserer eigenen Sprache. Sie lösen Erschütterung aus. Für mich ist das mitunter am Klavier so schmerzvoll, das ich es gar nicht aushalten kann. Die Musik spricht direkt zu mir, und zwar rede ich jetzt von dem Punkt in mir, der vor der Musik ist, der von Schuberts Liedern unmittelbar angerührt wird. Ich spreche von der Person, von der Seele – Brian Wilson nannte es die „Feels“.

Man  könnte Schubert den „Godfather des Songwritings“ nennen, denn damals ging es los: Ohne schützenden Himmel auf sich allein gestellt sprach der Mensch zu den Menschenfreunden um sich herum. Er tat dieses zunächst nicht in einem Konzertsaal. Die Songs entstanden im Privatzimmer am Klavier, sie wurden dort erst allein gesungen, dann vor Freunden für Freunde.

Hier denkt der Songwriter David Byrne von den Talking Heads darüber nach, wie die Architektur von Räumen  die jeweilige Musik in ihr hervorbringt:

https://www.ted.com/talks/david_byrne_how_architecture_helped_music_evolve?language=de&subtitle=en

Was gäben wir darum, wenn es damals schon kleine portable Aufnahmegeräte wie heute gegeben hätte, und Schubert hätte jedes seiner Lieder für uns  einspielen können! Was wäre das für ein Dokument – und dann kämen sie alle hinterher: die Vogls, Fischer-Dieskaus, Quasthoffs, Henschels, Gerhahers und das, was sie machen, sind  in Wirklichkeit COVERVERSIONEN!

Und es gibt ja mittlerweile auch  gewagtere Covers: Schauspieler performen, Ballettgruppen tanzen,  der verstorbene Maestro Hans Zender orchestrierte und interpretierte mit Zusätzen, „Kontrafakturen“ wie er es nannte  ( einen wunderbaren Einstieg in diese so spezielle Welt gibt folgendes Video mit Simon Rattle: https://www.youtube.com/watch?v=R9djnSSStGw  – „Gute Nacht“ wird dort bei Minute 46´43 geprobt)

 

Eins bleibt auch hier gleich: Schuberts Töne in ihrer rätselhaften Ordnung, ihrer häufig so minimalistischen Strenge ergreifen uns in jedem Umfeld. Sie sagen: du bist fremd, ich bin fremd, wir sind Fremdlinge in der Welt (oder wie bei der Hölderlin der Mond eine Fremdlingin). Und die Töne auch des Anfangs von „Gute Nacht“ haben etwas von einem Wolfsgeheul an sich, einer gezogenen Klage, die von oben nach unten in einem geschwungenen Bogen herniedergeht. Und vielleicht antwortet vom Ende des Tales aus der Ferne ein ähnliches Geheul.

 

Um diese unmittelbare Gegenwärtigkeit und  Zeitgemäßheit seiner Musik  zu verstehen, möchte ich eine Koinzidenz hervorheben. Ich habe  hier in meinem letzten Beitrag  über ABBA`s „SOS“ geschrieben. Der Song steht genau wie „Gute Nacht“ vom Anfang der „Winterreise“ in d-Moll.  Das Grundtempo ist ebenfalls erstaunlich ähnlich. Ebenso die beiden Anfangstöne mit Mollterz/Dezime und Sekunde/None sind gleich. Ich habe versucht zu beschreiben, wie einige wenige musikalische Elemente bei „SOS“  plakativ zugespitzt werden , und wie aus dieser starken Reduktion und Zeichenhaftigkeit der Ausdruck dieses Songs entsteht. Ein Urbild in überwältigender Form für dieses Verfahren liegt bereits bei  dem ersten Lied „Gute Nacht“ aus der „Winterreise“ vor.

 

Über den Schubert so eigenen ostinaten Rhythmus  vieler Lieder der „Schönen Müllerin“ und mehr noch der „Winterreise“ ist viel geschrieben worden.

„Schubert arbeitet ja in seinen Liedkompositionen mit klanglichen „Chiffren“, um die magische Einheit von Text und Musik zu erreichen, welche insbesondere seine späten Zyklen auszeichnet. Er erfindet zum „Kennwort“ jedes Gedichtes eine keimhafte musikalische Figur, aus der das ganze Lied sich zeitlich entfaltet.“

( Hans Zender, Booklet zur Klangforum-CD bei Kairos )

Im Falle von „Gute Nacht“ gibt es zumindest zwei berühmte ähnliche Sätze in Schuberst Schaffen mit dem gleichen „Wander-Rhythmus“, dieser ersten „Chiffre“ des Stückes: den langsamen Satz  c-Moll aus seinem Klaviertrio Es-Dur und den langsamen Satz  a-Moll aus der Großen C-Dur-Sinfonie. Hier bei „Gute Nacht“ ist die rhythmische Reduktion  der repetierten Achtel aber auf die Spitze getrieben, da das gesamte Lied seine Gangart in keinem Moment ändert. Wie später in der Minimal Music schafft ein ostinates rhythmisches Gitter die Konzentration auf jede noch so kleine und wunderbare Veränderung in  den anderen Parametern wie Melodie und Harmonie. Ein anderes Beispiel unter vielen bei Schubert hierfür ist auch das H Dur-Trio im Scherzo der Großen C-Dur-Sinfonie.

 

Um anzudeuten, wie sehr die von Zender so genannten „Chiffren“ bei Schubert schon in den kleinsten musikalischen und textlichen Sinneinheiten gesetzt werden, werde ich mich beschränken und nur die Melodie, und dort sogar nur die  DREI ERSTEN TÖNEN DER WINTERREISE beschreiben. Ich beziehe mich dabei auf die Ursprungstonart d-Moll.

 

Ton F – „Fremd“

Ton E – „bin“

Ton D – „ich“

 

  1. F – „Fremd“

 

In den Grund des repetitiv angeschlagenen d-Mollakkords wird der erste Ton der „Winterreise“ auf dem Wort „Fremd“ ganz weit oben in den Raum auf der Dezime hingestellt. Wobei, reingeschoben sollte ich sagen, denn der Auftakt, den dieser Ton bildet, führt den Charakter einer Synkope bei sich, stellt sich gegen den regulären Takt. Diese Synkope ist eine weitere „Chiffre“, wie Zender es genannt hat. Die Molldezime und ihre gehobene Lage führen etwas Unstabiles bei sich, als würde sich in diesem ersten Ton der gesamte Zustand des „Winterreise“-Sängers bereits komplett abbilden. Der Ton und das Wort bezeichnen einen Ort, den man verlassen möchte. Es ist auch das Wörtchen „Fremd“, das gleich aufhorchen lässt. Wir wissen von seinen Freunden, dass Franz Schubert sofort nach Lektüre der „Wanderer Gedichte“ von Wilhelm Müller – dieses war kein nachgeordneter unbedeutender Poet, sondern ein Dichter, den u.a. Heinrich Heine verehrt hat –  mit dem Komponieren begann. Bereits diese erste Zeile muss ihn unmittelbar angesprochen, ja aufgerüttelt haben. Auch im Gedicht bereits stellt sich das erste Wort „Fremd“ gegen das auftaktige dreihebige Gedichtmetrum. Schubert geht mimetisch mit seinem Gedichttext um, er folgt ihm von winzigen Verzierungen, Ausdeutungen abgesehen in streng syllabischer Form, stellt Note gegen Silbe in vollendet kunstvoller Kunstlosigkeit. „Fremd“ wird auf der Dezime wie ein Ausruf hervorgehoben, deklamatorisch, östlich klagend. Man könnte sich eine Klezmer-Klarinette dazu vorstellen, unmittelbares Vorbild für Gustav Mahler. Wie erinnere ich mich, wie dieser Melodiebeginn in mich als Jugendlichen von oben einschlug wie eine wehmütige Rakete aus Schmerz und Sehnsucht!

 

  1. E – „bin“

 

Der zweite und der dritte Ton sind genau wie die beiden folgenden Worte im Text „bin ich“ sehr eng verbunden. Musikalisch geschieht dieses durch das Kunstmittel eines 9-8- Vorhalts: die None Ton E bildet auf der betonten Zeit („bin“) den Vorhalt, stemmt sich gegen die Harmonie und wird auf der unbetonten Zeit  in den Grundton D („ich“) aufgelöst. Das Sein, Das Da-Sein, wie es hier in dem Wort „bin“ sich ausdrückt, bildet eine Dissonanz. Der Mensch als Individuum „bin“ erhebt sich über die Harmonie, ist „Fremd“ in ihr. Dieses Da-Sein ist etwas durch und durch Schmerzvolles – Schubert litt während der gesamten Komposition an den Qualen seiner furchtbaren unheilbaren Krankheit  – doch führt es auch ganz geheim etwas Süßes bei sich, das ist das katholische Element bei Schubert, das sich immer wieder in Gesängen wie dem „Ave Maria“ Bahn bricht. Denn ehrlich: was klingt noch süßer als ein Nonenvorhalt über einem Mollakkord? Man erinnert sich da auch sofort an die Pamina-Arie in g-Moll aus Mozarts „Zauberflöte“ „Ach, ich FÜHL´S…“ In jedem Fall setzt dieser Vorhaltston die Abwärtsakkordbrechung der Melodie in Gang, die ich als weitere Chiffre bezeichnen würde,  mit ihrem unaufhaltsam hinunterziehenden Sog  bis zum abschließenden punktierten Signalmotivauf „einge-ZO-GEN“, der vierten Chiffre dieses Liedes.

 

  1. D – „ich“

 

Der Grundton D ist dem Wort „ich“ vorbehalten. Ein Ur-Wort des Menschen, mit dem das Menschsein recht eigentlich beginnt. Hier ist es der Grundton der Klagetonart d-Moll. Ein archetypisches Vorbild in der Tradition, das Schubert bestimmt gekannt hat, vielleicht auch als Knabensopran solistisch im Wiener Stephansdom gesungen hat, möglich wäre es, ist die Psalmvertonung „Eile mich, Gott, zu erretten“ SWV 282 von Heinrich Schütz. https://www.youtube.com/watch?v=VrnTuqQZ7Dc  Hier wird ebenfalls ein nackter, weitgehend syllabisch vertonter, drängender Psalmtext in den Raum der d-Moll-Tonart gestellt, beginnend auf der Oktave als erhobene Anrufung. Ebenso gibt es dort bereits die grundlegende Beruhigung und Aufhellung von d-Moll nach F-Dur auf „Hoch gelobt sei Gott“ , die bei Schubert in  „Gute Nacht“ dann passiert auf dem Text „Das Mädchen sprach von Liebe“. In dem geschilderten Sog von Schuberts Melodie allerdings wird dieser Grundton D des „ich“ nur mehr auf unbetonter Zählzeit im Vorübergehen gestreift ( „sag im Vorübergehen gute Nacht“ ) denn dieses Ich ist bereits von Auflösung bedroht, ist in höchster Gefahr, bleibt es die gesamte „Winterreise“ hindurch. Und tatsächlich wird dieser Grundton D in der Melodie dann erst wieder ganz am Ende erreicht beim Fazit „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ist wieder – AUS“. An dem dissonanten signalartigen punktierten Motiv auf „einge-zogen“ zuvor, hakt sich dann das gesamte Lied fest. Diese Chiffre durchtrennt quasi immer wieder schneidend den ostinaten Wanderschritt.

 

Ich gehe an den Anfang meines Textes zurück. Bereits in den ersten drei Tönen der Melodie von „Gute Nacht“, untrennbar verbunden mit ihren drei Worten, wird auf einem grundlegenden bestimmenden Rhythmus der gesamte „Feel“ des Liedes erfasst, in den Raum gestellt, hervorgebracht. Die musikalisch-künstlerische Schöpfung, die hier bereits auf den ersten drei Textworten „Fremd bin ich“ stattfindet,  ist in höchstem Maße personal. Wenige Töne werden in einem unverwechselbaren eigenen Idiom zum Sprechen gebracht. Schubert hält dabei an wenigen Bausteinen fest, aus denen er ein magisch-poetisch sinnhaftes Sprachwerk erschafft.

 

Wie sehr und unmittelbar dieses Vorgehen von Schubert in die Gegenwart hineinreichen kann, möchte ich mit einem Beispiel aus meiner eigenen Musik protokollieren.

Ich lese eine Gedichtzeile wie diese:

 „ich werde sichtbar / oft an dem einen einzigen schönen tag nie / sogar zweimal einem einzigen Menschen“

So beginnt eines der „letzten gedichte“ von Ernst Jandl, die dieser am Ende seines Lebens zwischen 1990-1998  ebenfalls in Wien geschrieben hat, und in denen immer wieder von diesem unhintergehbaren „ich“ die Rede ist – störrisch, banal, komisch, pathetisch, lächerlich, schmerzhaft ehrlich – österreichisch. Das Gedicht berührt mich sehr, sowohl auf der inhaltlichen Ebene als auch mit dem darunter liegenden „Mood/Feel“. Ich beginne irgendwann die Vertonung, indem ich immer wieder, manchmal wochenlang wie in einem Gebetbuch die Gedichtzeilen innerlich oder auch lautstark durchsinge. Häufig wandere ich dabei auch herum. Ich halte mich an die „basics“, singe die gleichen Intervalle und Tonverhältnisse wie damals  Franz Schubert. Ich versuche eine sowohl melodische als auch rhythmische Ausdeutung der Worte zu geben,  eine Ordnung der Töne zu finden, mit dem Terminus von Hans Zender „Chiffren“ zu erschließen, die dauerhaft Bestand haben, in denen das Gedicht dauerhaft aufgehoben sich wiederfindet. Ich möchte zu allen sprechen, ich bin auf der Suche nach der dafür nötigen Einfachheit. Manchmal nehme ich sogar eine Gitarre zu Hilfe, um zu diesem einfachen, direkten und unmittelbaren Ausdruck zu gelangen. Am Ende habe ich ein musikalisches Thema, an das ich glaube, das mir persönlich gegenübertritt. Manchmal ist das ein so starkes Thema wie das zu diesem Jandl-Gedicht, dass es ein gesamtes sinfonisches Stück in Gang setzen kann: https://www.youtube.com/watch?v=hpFAPRDaObc

Beginnend mit der oben aufgeführten Gedichtzeile Jandls mit einem gerufenen „ich!“ und endend ebenfalls mit einem lautstark vom Bariton gerufenen „ich!“: Fremd bin ich…

Bei alledem ist Schubert mit seiner Melodik, seinen Harmonien, seinem Wanderschritt immer zugegen.  Dieses meine ich in Bescheidenheit. Hätte ich damals gelebt, wäre ich vielleicht Schuberts Kuppelwieser oder Hüttenbrenner geworden und  hätte ihm gern seine Partituren auszuschreiben geholfen. Aber ich lebe heute und covere sozusagen heutzutage seine Musik. Das Gefühl der Fremdheit in der Welt, die einen überfällt, ist heutzutage nicht weniger geworden. „ I Just Wasn´t Made For These Times“ ist nicht zufällig eines von Brian Wilsons schönsten Liedern geworden. Aber natürlich gibt es neben den an den Menschen gekoppelten Gesangstönen heutzutage auch andere Klänge, neue Klänge, Verschiebungen, Zeitsprünge, Schnitte, Störgeräusche, Lärm und Motorik.

 

Als „Godfather des Songwritings“ habe ich Franz Schubert  bezeichnet, denn was ist der Beginn von „Gute Nacht“ anderes als zum Beispiel die erste Zeile „When I find myself in times of trouble“ von Paul McCartneys „Let it be“ „ oder die erste Zeile von June Carter „Love is a burning thing“ in Johnny Cashs „Ring of Fire“? Lyrische Erfindungen wie diese und die Anrührung und Erschütterung, die sie auslösen, sind für mich das höchste künstlerische Gut der Menschen.

 

( 20. 6. 2024 Jobst Liebrecht )

 

PS. Sehenswert:

Einführung von Richard Stokes zur „Winterreise“ für die Wigmore Hall : https://www.youtube.com/watch?v=ULEALlCz5gw

Unterhaltung von Peter Pears und Benjamin Britten über die „Winterreise“:  https://www.youtube.com/watch?v=MFaH-Kb2HD0

 

 

 

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