Neulich im Konzert. Nicht irgendein Konzert sagen wir mal in – Anklam (nichts gegen Anklam). Wir schreiben die fünfte Veranstaltung des Musikfestes Berlin und gleich werden Valery Gergiev und die Münchner Philharmoniker in ziemlich beeindruckender Weise zwei ganz außergewöhnliche Sinfonien spielen. Doch bevor die Werke von Galina Ustwolskaja (Nr. 3, mit Text) und Dmitri Schostakowitsch (Nr. 4, ohne Text) erklingen, geschieht erst einmal lange Zeit – nichts.
Nachdem die Kontrabassisten längst Aufstellung genommen haben, wartet man gespannt, aber vergeblich auf den Maestro. Sind es 10 Minuten, 12 oder gar 15? Lassen wir es 20 gewesen sein, wo nichts weiter passiert, als dass vereinzelte Bläser die Bühne betreten oder Pulte mit Noten dekoriert werden. Nachdem alle da sind, immer noch kräftiges Zuwarten … Keine klärende Ansage des Veranstalters. Gleich kommt sicher Viktor von Bülow herein und offenbart das Ganze als Scherz. Ach nee, tot …
Als dann, nach einer kleinen gefühlten Ewigkeit, der leibhaftige Gergiev und Rezitator Alexei Petrenko das Podium betreten, ereignet sich das eigentlich Ärgerliche: nicht wenige über den großen Saal der Philharmonie verstreute, besonders mutige Herren begrüßen die Verspäteten mit Buh-Rufen im sforzato, selbstredend ohne über die Gründe von deren Säumnis auch nur annähernd im Bilde sein zu können. Man möchte im ersten Moment des Unglaubens den Verstörten selbst unschöne Dinge zurufen. Aber das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Was war in die Buh-Menschen gefahren? Ach so, richtig, ja klar: Man hört und liest ja so Einiges über Gergiev und seine Allüren und haarsträubenden Statements. Bestimmt hat er gerade noch mit Busenfreund Wladi telefoniert und angeregt die Musikphilosophie Stalins erörtert anstatt pünktlich anzufangen wie es sich gehört in einer Dienstleistungsgesellschaft.
… ein Fähnchen im Wind …
Später bringt eine Pressemitteilung ein klein wenig Licht ins Dunkel: Sprecher Alexei Petrenko, mit 78 Jahren ein nicht mehr ganz so junger Mann, hatte unmittelbar vor Konzertbeginn mit einer „vorübergehenden Indisponiertheit“ (so der Wortlaut) zu kämpfen. Na da schau her. Beim nächsten Herzinfarkt auf der Bühne wird also erstmal schön gebuht, dann der Krankenwagen gerufen. Zu allem Überfluss an Pech und Ungerechtigkeit brach sich Petrenko beim Versuch vor der Schostakowisch-Sinfonie von der Bühne über eine heikle Abkürzung direkt ins Parkett zu kommen, auch noch fast das Genick. Nun betretenes Schweigen.
Liebe Krakeeler: Wäre in einer stillen Stunde nicht mal grundsätzlich zu fragen, ob ein Verhalten, das sich darauf beschränkt, alles, was auf dieser Welt schiefläuft, in narzisstisch pervertierter Weise auf sich persönlich zu beziehen, die Menschheit wirklich weiterbringt? Oder zumindest den Ablauf einer kulturellen Veranstaltung?
Ernüchternde Erkenntnis: Man muss überhaupt nicht die Dunkeldeutschland-Schublade aufmachen, um Auswüchsen dumpfen Argwohns beizuwohnen, man trifft ihn auch an den wunderbarsten Orten dieser Welt, zu denen zweifellos die Berliner Philharmonie gehört. Ebenso wie die vielbeschworenen Tugenden haben eben auch die sozialen Untugenden in der Mitte der „bürgerlichen“ Gesellschaft ihren angestammten Ort und nicht in der Eckkneipe von Königswusterhausen (nichts gegen Königswusterhausen).
Am Ende dann tosender Applaus für alle Beteiligten nach grandioser Aufführung. Und die Schreihälse ein Fähnchen im Wind …
- Ein Gastbeitrag von Dirk Wieschollek