Tag der Arbeit: Zeit, um den Blick auf den noch jungen flächendeckende Mindestlohn in Deutschland zu richten, der stellenweise schon sehr alt ausschaut. Zumindest, wenn man die FAZ als Referenzwert nimmt, die boulevardesk arbeitgeberfreundlich-einseitig titelt: „Der Mindestlohn treibt die Preise.“

Oh nein, Taxifahrten, Haushaltshilfen und Übernachtungen werden teurer.

Genau, liebe FAZ, jeder Bandarbeiter fuhr bisher mit Kind, Kegel und Zweit-Putze im Großraumtaxi gen dreiwöchigem Wellness-Urlaub im Luxushotel am Starnberger See. Dass die Verbraucherpreise insgesamt eher stabil bis sinkend sind, wird dezent verschwiegen. Munter hat sich ein neuer Unternehmenssport entwickelt: Das Finden von Gesetzeslücken zur Umgehung des Mindestlohns. Das scheint bei einigen Unternehmen ein ähnliches Kreativpotential freizusetzen wie die Einnahme von LSD.

Gesetz ist Gesetz, gute Arbeit sollte fair bezahlt werden

Wie sieht es im Kulturbereich aus? Dort häufen sich die Meldungen, dass Kunstbetriebe dank der Mindestlohn-bedingten Lohnmehrausgaben finanziell ins Schwimmen kommen: Der Deutsche Museumsbund fühlt sich mit den Mehrkosten von der Politik alleine gelassen. Etliche Museen sehen sich dazu gezwungen aufgrund der dünner werdenden Finanzdecke Arbeitsstellen als Ausbildung „umzuwidmen“: Lohndumping par excellence. Auch der Deutsche Musikrat warnt vor den Folgen für den Kultursektor: „Achtung Stolperfalle: Mindestlöhne für Praktikanten“.

Das Gleiche in grün in Opernhäusern:


Aber ich will hier und jetzt gar nicht weiter diskutieren, ob die finanzpolitischen Zwänge daran schuld sind oder die moralische Flexibilität von Kultureinrichtungen.* Ich möchte mit einem (anonymen) Einzelbeispiel vom anderen Ende der Nahrungskette den Fokus auf die Leidtragenden lenken.

In meinem Freundeskreis ist mir jetzt ein besonders dreistes Beispiel für die Umgehung des Mindestlohns bekannt geworden.

Gleich vorweg: Ich will und werde keine Personen oder Institutionen nennen und mit Zitaten (aus dem mir vorliegenden Schriftverkehr und unserem langen Gespräch) daher auch sparsam umgehen. Nennen wir das Person daher gender-korrekt im folgenden einfach Harald-Chantalle.

Harald-Chantalle hat einen Bachelorabschluss in einem geisteswissenschaftlichen Fach und ist – wie viele andere auch – bemüht, die Zeit bis zum Master mit vielen praktischen Erfahrungen zu füllen und den Lebenslauf mit wertvollen Referenzen zu füllen, da das heutzutage eine zwingende Voraussetzung scheint, um später Chancen auf einen (ersten) Job zu haben.

Auf vioworld.de fand es eine Ausschreibung für ein sechsmonatiges Vollzeit-Praktikum mit Beginn im laufenden Jahr, die sich so ebenfalls auf der betriebseigenen Webseite fand. Harald-Chantalle wurde zum Bewerbungsgespräch eingeladen. Dort wurde auch direkt die Bezahlung angesprochen: Mit der Begründung, dass man als Stiftung einfach nicht mehr zahlen könne, wurde Harald-Chantalle gefragt, ob es denn mit 400 € pro Monat auskommen würde? Man könne außerdem die kostengünstige Unterbringung bei einer älteren Dame gegen 100 €/Monat vermitteln oder bei einer Familie, die als Gegenleistung mit gelegentlichem Babysitten zufrieden wäre…

Das ist nicht einfach “nur” eine unangenehme Situation, in die man kommen kann und in der man dann auch gefälligst richtig reagieren sollte. Und es hat auch nichts mit mangelndem Rückgrat zu tun, wenn man hier nicht sofort aufsteht und das Vorstellungsgespräch abbricht. Das ist ein völlig unmoralisches Angebot!

Eine Woche später erhielt Harald-Chantalle die Zusage zu dem Praktikum. Trotz der „nicht optimalen“ Bedingungen freute es sich darüber und sagte zu. Ihm/Ihr wurden daraufhin zwei Arbeitsverträge zugeschickt …

Zwei?!

Ja, zwei. Aufgrund „interner Notwendigkeit“ kamen jetzt unangekündigt und unabgesprochen zwei vorunterschriebene Verträge ins Haus geflattert. Harald-Chantalle solle ja in zwei unterschiedlichen Bereichen „Erfahrungen sammeln können“. Errät jemand, wie lange die einzelnen Arbeitsverhältnisse jeweils gehen sollten?
…richtig, drei Monate. Keinen Tag weniger. Und schon gar nicht länger! Sicherlich nur, weil man auf eine gleichmäßige Verteilung des neu Erlernten bedacht war. Wie rüüührend…

Der Arbeitsvertrag als Praktikant*in war nun jedoch mit satten 450 € dotiert! Davon sollten allerdings 150 € als Miete für eine WG mit dem/der zweiten Praktikant*in direkt einbehalten werden.

Nach Rücksprache mit dem Arbeitsamt und der Familie – die sich zunächst intensiv aufregte, dann aber widerstrebend einwilligte, das Kind zu unterstützen und so der goldenen Zukunft im Kultursektor nicht im Wege zu stehen – sagte Harald-Chantalle zu und unterschrieb mit viel Bauchweh.

Ihm bleiben jetzt nach allen Abzügen etwa 240 € … andere nennen das Taschengeld.

Diese Bezeichnung ergibt auch viel mehr Sinn als „Gehalt“: Harald-Chantalle bezeichnet die Atmosphäre dort nämlich als familiär. Neben einer Handvoll Festangestellter arbeiten knapp zwei Dutzend Ehrenamtliche dort (gut betuchte Hausfrauen und Senioren). Es lernt viel. Auch, dass gute Arbeit nicht unbedingt gute Bezahlung bedeutet.

Harald-Chantalle ist deswegen frustiert. „Ich bin dort eine vollwertige Arbeitskraft. Eine richtige Bezahlung hat auch etwas mit Wertschätzung zu tun. So fühle ich mich wertlos.“

Es würde mich SEHR freuen, wenn das krasse Beispiel von Harald-Chantalle euch dazu bewegt, von ähnlich drastischen eigenen oder euch bekannten Fällen zu berichten. SEHR gerne auch direkt per Mail an mich oder via Twitter-DM.

Ich werde mit euren Informationen sehr behutsam umgehen und hier im Blog anonymisiert weitere Einzelfälle sammeln. Hoffen wir, das es nicht allzu viele werden …

* Damit möchte ich keinesfalls die Initiative ART BUT FAIR kritisieren, die in den letzten Jahren einen rasanten Aufstieg zu so etwas wie einer „Gewerkschaft für freischaffende Künstler“ hingelegt hat und offensiv – manche verwenden sicherlich auch das Wörtchen „anprangernd“-  gegen Missstände und (Selbst)ausbeutung im Kultursektor vorgeht. Auch das hat seine Berechtigung.