Vor einem gefühlten Augenblick habe ich meine Gedanken zu kostenlosen Opernlivestreams ins WWW entlassen, da beschäftigt mich schon ein weiteres musikalisches „Geschenk“:

Ein vormaliges Computerunternehmen, das heute den individuellen Lifestyle von der Stange verkauft, stellt ein Telefon, eine Uhr und eine digitale Geldbörse vor. Und zum Abschluss dieser Veranstal…Messe spielt eine sehr bekannte Viermannkapelle als Überraschung einige ihrer neuen Gassenhauer. Es folgt die Firmenankündigung, dass selbiges geheim produzierte Album etwa einen Monat lang für jedermann/frau (mit einem Zugang zum hauseigenen Digitalladen) mit der Option zum Aneignen bereitsteht: kostenlos & legal.

Himmlische Werbeidee

Elf Songs für umsonst. In einem Anflug von schier unermeßlichem Altruismus. Wow!

DAS ist Marketing in Vollendung! Von/für beide Seiten. Die geneigten Jünger werden wieder einmal bestätigt, warum sie dem Technikgiganten und (spätestens ab jetzt) den Musikgöttern huldigen.
Doch ganz so umsonst ist dieses verlockende Angebot dann natürlich doch nicht; ganz abgesehen von unserem wertvollen Datenfußabdruck, den wir wie an vielen anderen Internetecken zurücklassen: „Wenn etwas umsonst ist, ist man nicht der Kunde, sondern das Produkt.“

Der besorgte Mann spricht hier übrigens „nur“ von US-Dollar (starker Euro und so). Das scheint aber die Summe zu sein, die hier den Besitzer gewechselt hat.

Win-win-lose

Schön für das Unternehmen, weil: Aufmerksamkeit. Musikerexklusivität. Stärkung des Weihnachtsmannimages. Senken der Anreizschwelle für Neukunden, dadurch Vergrößerung des aktuell etwa 500 Mio. Nutzer umfassenden Kundenstamms, von denen der ein oder andere sicherlich für andere Künstler/Filme/Spiele bezahlen und zum Return Of Investment beitragen wird.

Schön für die Musiker, weil: ebenfalls Aufmerksamkeit. Garantierte Fixsumme für die erbrachte Leistung. (Fast) garantierter Charterfolg des Albums. (Dadurch) neue Fans, die Konzerte besuchen werden, wo die Gewinnmargen inzwischen höher sind als im Tonträgerbereich.

Eine Win-win-Situation aus dem Bilderbuch. Für alle? Mitnichten!

Bis hierhin und nicht weiter kann ich meine Bekifft-auf-der-Blümchenwiese-Fassade aufrecht halten… falls man mir die jemals abgenommen hat.

Ich möchte an dieser Stelle auf einige (teilweise beunruhigende) Schönheitsfehler hinweisen.

Das Album stand nicht nur zum aktiven Abruf bereit, sondern wurde offensichtlich auch bewusst auf mobile Endgeräte gepusht. Da spreche ich dann nicht mehr von Geschenk, sondern von Musik-Spam. Das hat nach einem veritablen Twitter-Shitstorm (der sicherlich einkalkuliert und als zwangsläufiger Kollateralschaden in Kauf genommen wurde) auch das Unternehmen eingesehen und stellt nachträglich ein [Albumname] Removal Tool bereit.

 

Apnoetauchen im Dumpingsumpf

Obwohl der Deal eine ordentliche Stange Geld hinter den Kulissen bewegt hat, kommt beim Normalo-Musikkonsumenten an, dass es da Musik umsonst gibt. Erstmal schön, wird der sich denken und weiter: aber wenn das einmal ging, warum geht das dann nicht immer? Schleichend setzt sich in den Hörerköpfen fest (und das gab es auch schon vor diesem Marketingcoup), dass Musik nichts kosten muss. Und daher auch nicht sollte. Und genau das wird immer mehr zum Problem für die anderen Bands. Die breite Masse (die übrigens sehr direkt unterhalb der Spitze beginnt), ist nicht so finanzpotent und einflussreich wie o.g. herausstechende Kollegen. Aber genau auf diese wächst der Druck, ihre Musik – hinter der ebenfalls jahrelanges Üben, gemeinsames Proben, viel persönlicher Einsatz und nicht zuletzt eine teure Studiosession steckt – ebenfalls „zu verschenken“. Allerspätestens da sollte jedem klar sein, dass es sich hierbei um ein knallhartes Musikgeschäft handelt, in dem es nicht mehr unbedingt um den schönsten, musikalisch wertvollsten Inhalt geht, sondern zu einem sehr großen Teil schlicht um den längeren finanziellen Atem beim Apnoetauchen im Dumpingsumpf.

Wenigstens musikalisch gesättigt: die Weltbevölkerung

Dieses Internet, von dem alle zur Zeit sprechen, bietet den einzelnen Künstlern immer größere Reichweiten und die Möglichkeit, bei mehr Menschen Aufmerksamkeit zu erlangen. Von diesem Potential des digitalen Wandels und von der möglich werdenden Nähe zu den vielen gewonnenen Fans schwärmt die Musikbranche: Digitalisierung als Riesenchance!

Ich hoffe, ich werde nicht ausgelacht, aber meine Multitaskingfähigkeiten sind leider sehr stark begrenzt: noch habe ich es nicht geschafft, zwei Alben gleichzeitig anzuhören und länger als 24 Stunden am Tag schaffe ich das auch nicht…wohl Konditionsprobleme.

Und jetzt kommt ein gewagter Argumentationsschritt: ich behaupte, dass das vielen der zur Zeit etwa 7,2 Mrd. Menschen ähnlich geht! Da die UNO bis 2100 kein exponentielles Weltbevölkerungswachstum prognostiziert, könnte es wohl oder übel darauf hinauslaufen, dass immer weniger big (music) player mit immer größerer Reichweite ausreichen, um den Welthunger nach Musik zu stillen. Mit immer weniger unterschiedlicher Musik… aber an dieser Stelle beende ich meinen Dystopieexkurs. Vorläufig.

Zurück zum Thema:
Beim ersten Mal mag der Werbeeffekt einer solchen Aktion ja noch enorm sein (zurecht oder nicht). Aber wir alle als potentielle Musikhörer werden sehr schnell taub werden auf diesem Marketingohr. Der „Das ist neu, das ist cool!“-Kick dieses Marketinginstruments wird erlahmen, wenn die Dosis nicht wieder und wieder erhöht wird. Auf dem Rücken der Musiker, die eh schon einen Bandscheibenvorfall haben.
Einen etwas anderen Fokus wählt Dirk van Gehlen in seinem Blog. Das Fazit von Die Sache mit dem Inhalt ist mir allerdings zu wenig drastisch. Das war dann auch der nötige Anstupser, um diesen Beitrag hier zu verfassen.