Keith Jarretts Köln Concert verliert dadurch nicht seinen legendären Charakter, aber was in der Kölner Philharmonie sich vor wenigen Tagen ereignet hat, ist dafür geeignet, den Ort Köln musikalisch zu beschädigen.
Was bekannt ist: Das Konzert des iranischen Musikers Mahan Esfahani wurde so sehr gestört als dieser seine Version von Steve Reichs „Piano Phase“ von 1967 zu Gehör bringen wollte, dass das Stück nicht zuende gespielt werden konnte. Zischen und Klatschen, man gab sich alle Mühe, das Konzert zu sabotieren.
Berichtet hat der Kölner Stadtanzeiger, der Augenzeugenbericht des Musikers ist in Norman Lebrechts „Slipped Disc“ veröffentlicht worden.
Uneinig ist man sich in den Reaktionen, ob die Störungen rassistisch motiviert gewesen sein sollen oder sich gegen die Musik von Reich richteten. Ein Satz wie „Reden Sie doch gefälligst Deutsch!“ scheint erstere These zu bestätigen, dass es Reichs Stück getroffen hat, scheint die zweite These zu bestätigen.
Wahrscheinlich ist beides nicht falsch, aber allein das genügt nicht zur Erklärung. Auf den Bühnen in Deutschland werden schon viele Sprachen gesprochen. Ausländische Musiker auf den Bühnen sind die Regel und nicht die Ausnahme – man sollte das als Selbstverständlichkeit längst wahrgenommen haben. Eine Überraschung ist das nicht. So wenig wie die Tatsache, dass die Besucher des Konzertes gewusst haben müssen, dass Mahan Esfahani dort im Zentrum steht.
Stefan Hetzel nimmt den Vorfall zum Anlass, auf die Kontroverse zwischen Clytus Gottwald und Steve Reich Mitte der 70er Jahre hinzuweisen. Die Abwehr gegen repetitive Musik sei interessanterweise in Deutschland besonders groß, er zitiert Reich:
„In Besprechungen … überall in Europa … außer in Deutschland [Hervorhebung von S. H.] begegnet man dieser Sorge um die mechanischen Aspekte [meiner Musik, S. H.] nur selten. … das scheint mir ganz offensichtlich mit dem in Zusammenhang zu stehen, was Deutschland 1933 – 1945 unter der Naziherrschaft erlitten hat, damit, daß die gegenwärtige Nachkriegsgeneration unter Bewältigung eines großen Schuldkomplexes herangewachsen ist. Jede Art von Musik, die durch sorgfältige Kontrolle, Präzision und engmaschige Ensemblearbeit gekennzeichnet ist, setzt sofort Assoziationen mit totalitären politischen Kontrollen frei. Meine Musik scheint an das Mark des “nationalen Schuldgefühls” im Rückgrat der [deutschen, S. H.] Musikkritiker zu rühren – nicht jedoch bei Kritikern und Zuhörern in anderen Ländern Europas oder Amerikas.“
Man muss da den Gottwald nicht so in den Vordergrund spielen. Gottwald hat sich auch mit Nicolaus A. Huber anlässlich von Harakiri angelegt. Unwahrscheinlich scheint mir insbesondere, dass die auftumultende Teile des Publikums in Köln davon „beseelt“ gewesen sein mochten. Andererseits, bei Frith und Gorecki blieb man noch stille:
Auch Dummheit kennt keine #Obergrenze! #esREICHt https://t.co/6TAx5w56Tq
— GiuseppeVanWagner (@barbrastreusand) March 1, 2016
Vielleicht ist es sogar viel trivialer und der Protest regte sich gegen den Einsatz technischer Mittel, um das Stück zu realisieren. Das machte es zwar nicht besser, wäre aber eine Erklärung, die bislang noch nicht in Feld geführt worden ist.
Der besorgte Bildungsbürger?
So einfach ist es eben nicht. Leider schwieriger. Es gibt eine Verwahrlosung des Publikums. Manuel Brug in der WELT bricht es jedenfalls darauf herunter:
„Immer mehr Besucher nehmen keinerlei Rücksicht mehr auf die Künstler und die anderen im Saal. Da fallen Wasserflaschen um, Telefone klingen und piepen, Mails werden geprüft, man spricht ungeniert mit dem Partner – so wie zu Hause bei Kommentaren vor dem Fernseher. Manche drängeln sich vor Ende durch die Reihen, um eine S-Bahn zu erreichen, andere tun – mangels Umschalteknopf – ihre Langeweile durch verstärktes Räuspern, Hüsteln und Stöhnen kund. Disziplin und Konzentration werden auch hier immer mehr zu Fremdwörtern. Dafür ist dieses aus dem Ruder gelaufene Köln-Konzert ein besonders krasses Beispiel.“ [Brug: Cembalist niedergezischt – Beispiel der Verrohung heutiger Konzertbesucher]
Das aber ist wieder zu kurz gegriffen. Er fragt noch zuvor:
„Was war passiert? In der Kölner Philharmonie gibt es schon lange eine vorwiegend von Senioren besuchte Reihe mit Kammerorchestern am Sonntagnachmittag. Da wird viel Barockes gespielt, aber man bewegt sich durchaus auch hin bis zu kuscheligen Stücken aus dem 20. Jahrhundert.“
Bislang waren Senioren nicht so sehr bekannt dafür, eben all die Dinge zu tun, die Brug dann später als Rücksichtslosigkeit geißelt.
Der besorgte Wutbürger?
Der Crescendo-Autor Axel Brüggemann kommentierte auch eher sozialpsychologisch :
„Es gibt tatsächlich immer mehr Menschen, die das Konzert als eine Art musikalische Penisvergrößerung verstehen, die allein deshalb auf dicke Hose machen, weil sie zufällig aus dem gleichen Land wie Bach, Beethoven oder Wagner kommen. Und die zum Verbal-Krieg rüsten, sobald die Musik eines unangefochtenen, ausländischen Titans wie Steve Reich erklingt. Menschen, die es nicht mehr ertragen, wenn – oh, Untergang des Abendlandes! – internationale Künstler Englisch sprechen. Menschen, die Künstler beleidigen und anschreien sind jene Menschen, die Ausländerkindern mit besoffenem Atem ‚Wir sind das Volk‘ entgegenkeifen. Bislang haben wir sie eher mit dem Horst Wessel Lied in Verbindung gebracht, nun ziehen sie auch Beethoven und Co. in den Schmutz.“ [Brüggemann: Eklat in der Kölner Philharmonie]
Trotz so vieler Augen- und Ohrenzeugen ist der Vorgang nämlich immer noch nicht so klar. Wer die Störer waren, ob sie sich zufällig zusammenfanden oder ob es da eine Absprache gab, man weiß dies alles nicht. Unbekannt ist mir auch, ob es im sonst so videoüberwachten Deutschland, nicht Mitschnitte des Vorfalls gegeben hat, die das auflösen könnten.
Einzelfall oder Norm?
Gänzlich unbekannt ist, trotz umfangreicher Publikumsforschung, wie das Publikum tatsächlich tickt. Und warum es gerade eben hier in Köln dann wirklich austickte und sonst eher regelmäßig nicht. Schon gar nicht mehr wegen der Musik. Einzelfall oder Norm?
Schon vor langer Zeit hat der Marburger Psychologe untersucht, wie eine autoritätsgebundene Charakterstruktur der Wahrnehmung von Kunst zusammenhängt: Vorbemerkung zu »Dogmatismus, Intoleranz und die Beurteilung moderner Kunstwerke« von Christian Rittelmeyer, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 21 (1969), S. 93 (Heft 1). Damit hat er es in eine Fußnote von Adornos Einleitung in die Musiksoziologie geschafft:
„Im Marburger Psychologischen Seminar hat Christian Rittelmeyer empirisch festgestellt, daß schroffe Ablehnung avancierter Kunst, insbesondere auch musikalischer, zusammengeht mit Komplexen autoritätsgebundener Charakterstruktur wie rigidem Dogmatismus und »Intoleranz für Mehrdeutigkeiten«, womit soviel gemeint ist, wie daß bei den geschworenen Feinden der Moderne stereotypes Schwarz-Weiß-Denken vorherrscht.“ [Band 14: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie: Nachwort. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 11914 – digitale Bibliothek]
Manchmal bricht sich das Bahn. Manchmal nicht.
Gewiss ist, so geht es heute nicht mehr. In Donaueschingen letztes Jahr gab es ein Konzert, bei dem man allerhand Security und Kontrollen durchlaufen musste, ehe man hineindurfte. Was freilich schon Bestandteil der Idee des Komponisten war. Mario de Vegas Performance „Auto“.
Wird das die Zukunft des Besuchs werden. Oder, man erinnere sich an Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen, wo unter anderem Beifalls- oder Missfallensbekundungen verboten waren. (Konzertiertes) Zischen und Stören gehörten damals ja zur Konzertnormalität. Und auch bis in die jüngste Zeit war es an Orten wie Darmstadt nicht selten, dass man Musik, die einem missfiel, durch Missfallensäußerungen torpedierte – in der Regel aber immer nach der Aufführung, nicht währenddessen.
Wie auch immer, man sollte aus mehreren Gründen die Störer finden und zur Rede stellen; es war ja nicht das ganze Publikum, das sich selbst im Weg stand. So sieht es auch Axel Brüggemann:
„Die Frage ist, was wir nun aus den Vorfällen während des Kölner Konzertes machen? Es wird langsam schwer, immer weiter auf Dialog zu setzen. Und doch: Der Dialog ist die einzige Lösung.“ [Brüggemann: Eklat in der Kölner Philharmonie]
Der setzt aber in jedem Fall voraus, dass da jemand dialogfähig ist. Es wäre also nett, wenn sich die Störer aus Köln outen würden. Gerne auch hier in den Kommentaren.
PS – Skandale und Skandale bei „Piano Phase“:
- Frieder Reininghaus: Historismus der Moderne: die Rekonstruktion des Wiener „Skandalkonzerts“ von 1913
- Anna Schürmer: Der Skandal als kreativer Störfall im Sperrbezirk
- Albrecht Dümling: Standing Ovations und vereinzeltes Türenschlagen: Eindrücke vom 14. Berliner Young Euro Classic Festival (Piano Phase)
- Clemens Haustein: Radau bei Young Euro Classic Mit der Exaktheit von Maschinen (Piano Phase)
Aktuelle Reaktionen:
- Axel Brüggemann (Crescendo): Eklat in der Kölner Philharmonie
- Manuel Brug (Die WELT): Cembalist niedergezischt – Beispiel der Verrohung heutiger Konzertbesucher
- Umfrage beim WDR: Was darf sich ein Konzertbesucher herausnehmen?
- Volker Hagedorn (ZEIT-online): H-Moll, du liebe Güte!
Aktuelle Interviews:
- Mahan Esfahani im Interview beim NDR über das Konzert: „Ich fordere einen respektvollen Umgang“
- Mahan Esfahani im Gespräch mit Tobias Ruderer auf VAN: … 24 Stunden nach dem niedergeschrienen Piano Phase
- „Exklusives“ Interview mit Veronika Scheidl auf BR-Klassik online: „Die Cembalo-Mafia hasst meine Art zu spielen“
Die Wahrheit:
- MMAUVS: Was in Köln wirklich geschah
2. März 2016 um 12:21 Uhr
„……. autoritätsgebundener Charakterstruktur wie rigidem Dogmatismus und Intoleranz für Mehrdeutigkeiten“, das ist doch eine klare Beschreibung des primitiven, unmusikalischen Stückes:
http://www.youtube.com/watch?v=i0345c6zNfM
Die Reaktionen des Publikums sind leicht zu verstehen: es war klassische Musik gewöhnt und kannten das Werk von Reich (noch) nicht, und war empört über soviel Regression und mechanische, dogmatische, intolerante Primitivität. Die Mythologie der Modernismus-Ideologieen will immer Ablehnung von neuer Musik mit Spiessbürgerei und Faszismus verbinden, und will nicht die Erklärung sehen dass es gerade das Verstehen wäre, das die Reaktion auslöst. Der finstere Nachkriegsgeist Adornos rieselt noch immer rundherum in Deutschen Köpfen…
2. März 2016 um 22:56 Uhr
Man muss sicher kein Rassist sein, um diese Art von Musik nicht zu mögen. Wie man darauf reagiert, ist sicher Erziehungs- und Temperamentsache. Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht auch gezischt oder vllt doch lieber den Saal verlassen hätte.
3. März 2016 um 10:43 Uhr
Möglicherweise ist es ja, ganz allgemein, die Angst vor dem „Fremden“, „Nicht-Kanonisierten“ ?
http://www.alpenfeuilleton.at/2016/03/kleingeist-und-groessenwahn-kolumne-28/