Dass der Bereich der sogenannten klassischen Musik in den aktuellen Steamingdiensten nicht besonders gut abgebildet ist, ist ja keine Neuigkeit. Ob die Dienste Spotify oder Apple Music heißen, Grooveshark oder Ampya etc. Man findet da manches, aber nichts wirklich gut. Im Repertoire von 30 Millionen Titeln geht so manches unter.
Nicht vorteilhaft von Beginn an ist auch die Verschlagwortung klassischer Musikeinspielungen in diesen Diensten. Die sind regelmäßig nach Künstler und Song sortiert, was bei Klassischer Musik nicht so häufig hilfreich ist – auch wenn bei Plakatwerbung gerne der Dirigent größer genannt wird als der Komponist: „Simon Rattle – Allegretto“ bringt es nicht auf den Punkt: Man arbeitet anders: Zuerst das Werk, dann die Interpretation. Und ob das ausreicht, ist immer noch nicht gesagt.
Der Name
Mit IDAGIO soll das anders sein. IDAGIO („welcome to classical music“) streamt klassische Musik. Den Namen selbst, „IDAGIO“, finde ich einigermaßen unzeitgemäß. Da ist Adagio drin, das notorische „I“ von iTunes, iGoogle, iPad etc. aber dann auch nicht wirklich richtig. Italienisch als Titelstammsprache zu wählen, ist sicher nicht ganz falsch, ist es doch die Grundsprache der Klassischen Musik. Alternativen, die mehr überzeugen, zu finden, wäre beileibe nicht ganz einfach. Man kann es eh nicht mehr ändern.
Der START
Zunächst startet das Unternehmen allein für iOS-Geräte (wie sie von Apple hergestellt werden) als sogenannte APP. Die Sache ist schnell installiert und eine Registrierung ist nötig. Und die Oberfläche ist knapp und gut.
Die grobe Sortierung nach Komponist, Interpret, Instrument und Epoche (nicht auf dem Bild) ist so einfach wie sinnvoll. Im Zweifel, und wenn man mehr über die gewünschte Musikrichtung etc. weiß, kommt man per Suchfunktion schnell zum Ziel. Die Oberfläche ist englischsprachig. Das zeigt sich dann auch in der Angabe der Titelnamen. Ein altes andauerndes Problem übrigens, das die Nutzer von Jazz und Pop/Rock so nicht kennen: Da sind Künstler und Werk einigermaßen eindeutig. Aber schon zwischen Sinfonie und Symphonie, bzw. Symphony gibt es ordentlich Differenzen, die man aber in den Griff bekommen kann. Freilich wird es dann schwierig, wenn dabei die Gattungen durcheinanderwirbeln. Sinfonien bei Bach für Klavier sind ja was anderes als solche bei Brahms. Auch hier bleiben die Meta-Daten immer etwas problematisch. Der Klassik-Kenner weiß das, der Liebhaber auch: aber der Neuling natürlich eher selten. Dafür kann IDAGIO nichts. Aber man muss es im Hinterkopf behalten. Kurz: Man kommt schnell dorthin, wohin man will.
Werke und Interpreten
Zum Beispiel zur zweiten Symphony von Johannes Brahms. IDAGIO bietet keine Hintergrund-Infos zum Werk, dafür aber einige schon eingepflegte Werke in verschiedenen Interpretationen. Das ist gut. Schlecht ist es, dass man zu den Aufnahmen aber auch nicht so viel oder zumindest Ungenaues erfährt.
Hier also eine Einspielung mit Hermann Abendroth und dem MDR-Sinfonierorchester. Moment mal … Abendroth starb bereits in den 50er Jahren, da gab es doch noch gar keinen MDR! Also: Aufnahmedatum und richtiger Orchestername (hier: Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig) wäre nicht schlecht, insbesondere, wenn es sich um gleiche Interpreten handelt, aber Aufnahmen aus unterschiedlichen Zeiten. Problematisch ist ferner, dass, sobald der Player unten läuft, die Auswahl des letzten Interpreten nicht mehr möglich ist: ein technisches Problem, das lösbar sein sollte. Auch nicht schlecht wäre es, wenn man vorher wüsste, ob es sich um Rundfunkmaterial, Live- oder Studioeinspielungen handelt. Wie gesagt, das wäre schön.
Ganz konsistent ist das alles noch nicht! Werke, die man durch die Auswahl über Interpreten erhält, sind nicht zwingend rekursiv gelistet, also als Interpretation unter den Werken selbst (siehe Abendroth).
Stimmung
Man kann sich aber auch komplett leiten lassen und wählt eine Stimmung (Mood) aus, dann wählt die APP die dazu mehr oder weniger passende Musik von selbst aus.
Nervös zum Beispiel. Keine Ahnung, wie häufig dieser Weg beschritten werden soll. Aber es gibt natürlich Menschen, die auf diese Weise hören. Und das führt zu einer Besonderheit. IDAGIO sagt, die Aufnahmen seien nicht einfach Übernahmen aus dem Weltrepertoire, sondern durch die Entwickler und Mitarbeiter kuratiert. Und so wird man nicht durch Algorithmen, sondern durch Sortierungen und Auswahlen von Mitarbeitern bei IDAGIO geleitet. Das ist zwiespältig, weil natürlich Menschen ihren eigenen Geschmack haben und die Auswahl insofern immer nach deren Einordung abgestimmt wird. Ob es passt oder nicht: Fragezeichen.
Repertoire
Das betrifft auch den Kern des Vorhabens. Die Musik! Mir ist noch nicht bekannt, wie umfangreich der Musikkatalog ist und unbekannt ist mir auch die technische Qualität der anhörbaren Musik (also welche Kompressionsverfahren verwendet werden). In der Epochenauswahl 20. Jahrhundert gibt, fast möchte man sagen „natürlich“ extreme Lücken. Manchmal hat es den Anschein, dass dies daran liegt, dass da auch Urheberrechte nicht verletzt werden sollen, andererseits ist auch Schostakowitsch rudimentär mit dabei. Das klassische Repertoire ist dazu naturgemäß so riesig, dass man sich fragen mag, wieviel Promille hier abgebildet werden können. Denn, will man einen Dienst, der nur geringes Repertoire führt wirklich? Andererseits: Will man jeden „Scheiß“ drin haben? Wenn die Interpretenliste bei bestimmten Werken ins Unendliche wüchse, wäre dann IDAGIO noch handlich. Irgendwo dazwischen dürfte die Lösung sein. IDAGIO hat in einer Pressemitteilung folgende Interpreten genannt, die Hörer anziehen sollen: „Vladimir Ashkenazy, Sir Andrew Davis, Christoph von Dohnányi, Nikolaus Harnoncourt, Lorin Maazel, Sir Charles Mackerras, Georges Prêtre, Franz Welser-Möst, Thomas Hampson undRay Chen“. Und da ist Karajan nicht einmal genannt :)
Aussicht
IDAGIO ist noch offensichtlich noch nicht ganz fertig. Der Premium-Dienst soll 2016 starten. Was der dann kostet, steht noch nicht fest. Aber was er mehr können soll als der „Free-Account“.
Anzunehmen ist auch, dass es dann Apps für Android (und Windows – bei Windows 10 sollen ja alle Geräte unter einer Plattform laufen) geben wird, ebenso wie eine Webanwendung – von einer Desktopanwendung steht da erstmal noch nichts. Das ist auch zwingend nötig, will man nicht auf potentielle Kunden verzichten. Es sei denn, obige Grafik behält Recht, und es wird keine Android-Version erscheinen. Momentan fordert IDAGIO dazu auf, dass Künstler sich dafür bewerben, ihre Aufnahmen in diesem System einzuspeisen. Und IDAGIO verspricht ihnen faire Beteiligungen. Wie die genau aussehen, ist noch nicht bekannt.
Schaut man sich an, wie stark momentan IDAGIO in den sozialen Netzen vertreten ist, könnten auch eine Woche nach Start Zweifel aufkommen, ob es überhaupt genug Nutzer geben wird. Bei Twitter folgen bislang 146 Leute (Stand 13.8.2015, 11:10), bei ihr Facebook-Account findet bei 501 Personen Gefallen (Stand 13.8.2015, 11:10). Ein Blog haben die auch, wo Updates des Repertoires den Hauptteil der Postings ausmachen.
An sich finde ich die Idee zu IDAGIO gar nicht schlecht und vieles machen die gleich zu Beginn auch vollkommen richtig. Technische Korrekturen werden sicher erfolgen und nützliche Ergänzungen in Repertoire wie zur Kenntlichmachung der Stücke kommen bestimmt auch noch. 17 Leute arbeiten bei IDAGIO und die wollen irgendwann auch ernährt sein. Dazu ist das Unternehmen dazu verdammt, sich präsent zu zeigen, Werbung zu machen, die Zahlsysteme einzurichten etc. Und ehrlich gesagt, ich wünschen IDAGIO wirklich ein gutes Gelingen, denn der Bereich der klassischen Musik hat so eine Plattform, die den besonderen Wünschen ihrer Hörer entgegenkommt, nötig. Die alten Download-Plattformen und Streaming-Dienste versagen in dieser Hinsicht eklatant.
Unter den Mitarbeitern ist übrigens auch Michael Kube, der für die nmz gerne Rezensionen schreibt oder Christoph Lange, Mitgründer von simfy, einem der ersten Streamingdienste in Deutschland, der mittlerweile zum wesentlichen Teil in Deezer aufgegangen ist. Also: Schon Leute vom Fach!
Die Kollegen vom Van-Magazin stellen in ihrem Blog noch andere Fragen:
Vertrauen Kenner- und Liebhaber/innen nicht eher ihrer Plattensammlung? (Siehe auch den Beitrag von Alex Ross in VAN)? Gründet sich eine Community, die man anvisiert, tatsächlich so offiziell, konzeptverliebt? Ist dafür die Idee vielleicht zu wenig simpel? Kommen genügend Partner? Vielen wird es (trotz guter Audioqualität, Offline- und Downloadfunktionen) vielleicht nicht reichen, auf ewig Beethovens Dritte in den Einspielungen von Böhm, Karajan und Knappertsbusch zu vergleichen. Die Fans haben sie vielleicht schon auf Platte und wollen was anderes hören, die anderen merken, dass es auf Spotify schon viel mehr gibt.
Ich wäre da nicht so skeptisch. Andererseits besteht zu überschwappender Freude auch kein Grund. Der Markt ist umkämpft. Die Ansätze bei IDAGIO sind gut. Und es wird zur Zeit auch nicht so ein megauncooler Player mitinstalliert, der zugleich wie bekloppt die Daten und Nutzungsverhalten der User mittrackt.
Klar, ich wünschte mir immer auch sofort noch „Links“ zu mehr Hintergründen (Personen, Aufnahmen, Technik, Werk), aber vielleicht ist das alles auch zu viel. Und die Einfachheit reißt es dann doch.