image1215698140.jpgDann hab ich’s doch getan: Obwohl die Karte auswies, dass sämtliche erdenklichen Zusatzstoffe in dem Gericht enthalten sind und obwohl es nicht so aussah, als würde es meinen kulinarischen Kosmos um Geschmacksnuancen erweitern, sondern lediglich um eine neue Darreichungsform elementarer Kombinationen von Eiweiss, Fett und Kohlenhydraten gehen, habe ich „Gefillde“ bestellt. Darunter darf man sich nichts hehres vorstellen: Kartoffelklösse, gefüllt mit Hackfleisch und Leberwurst, verkochtes Sauerkraut, eine mit Johannesbrotkernmehl angedickte Sauce, in der Speckwürfel aneinanderkleben. Was „Dibbelabbes“, eine andere örtliche Spezialität ist, muss ich dann unbedingt beim nächsten Mal probieren.

Inzwischen fühle ich mich natürlich selbst wie ein „Gefillder“ – meine Trommelfelle sind aufgequollen wie meine Augenringe, meine Füße sind platt wie mein Witz und ich schwimme so trüb im Gefolge des Zuges, wie die getrocknete Nelke in der Sauce vor mir. Die Die Überreizung durch die Eindrücke der vergangenen Tage könnte sich in einer leichten Reizbarkeit bei gewissen Schlüsselwörtern äußern: „Soundwalk“, „Soundspaziergang“ oder „klingende Stadtführung“ könnten solche Worte sein. Wenn alle das außergewöhnliche schaffen wollen, dann wird das Außergewöhnliche beliebig und es entstehen Sehnsüchte, die nur ein Konzertsaal stillen kann.

Diese Perspektive kann man natürlich nur einnehmen, wenn man das Glück hat, für ein paar Tage zum Gefolge des Fliegenden Holländers, ähm, des Sounding D-Zuges zu gehören und mit sehr wenigen Menschen das exklusive Erlebnis teilt, diesen Zug zu begleiten. Neben dem Zug-Team werden es am Ende wohl vier Personen sein, die den Zug an allen Orten getroffen haben, von überall etwas mitbringen: das Filmteam der NMZ, Astrid Karger, die Fotografin für das Netzwerk Neue Musik und Paul Paulun, der im Dienstwagen des Deutschlandradio hinterherreist, für den er ein Stundenfeature über den Zug gestalten will. Sein „Pudel“ ist längst so etwas wie die heimliche Standarte geworden, wo sein Mikro aus der ersten Reihe aufragt, da ist grad was los. Meist dauert es nicht lang und man sieht Jörg Lohner um das Geschehen herumtänzeln, auf der Suche nach einer Perspektive, in der nicht Pauluns „tote Katze“ ins Bild hineinragt. Alle anderen werden Bruchstücke, Mosaiksteinchen beitragen, um das Ereignis dieser Zugfahrt zu dokumentieren. So wie immer. So wie ich.

Saarbrücken war eine entspannte Station – irgendwie „privater“, „persönlicher“. Man war zu Gast bei Menschen, die ihren Hinterhof öffneten, höchstselbst für Tee sorgten und Kuchen servierten. Die Inszenierung war weniger aufwändig, die Orte waren weniger markiert: es war Musik im privaten Raum, nicht im öffentlichen. Es ging um Zwiesprache, wie es das Gespräch am Fenster zwischen Saxophonist und Pianist – das auch im NMZ-Film abgebildet ist – versinnbildlicht. (Die ältere Dame, die im Film zu sehen ist, hat übrigens wenige Augenblicke später das Fenster mit lautem Knall geschlossen: rhythmisch perfekt! Man hätte es als wiederkehrendes Element einbauen sollen!)

Ebenso am Abend, in der Omnibuswerkstatt, als das InZeit Ensemble loslegte: Eine Art „Neue Musik“-Bigband, die sich vorgenommen hatte, die große, stillgelegte Halle zu bespielen. Zahlreiche der Mitwirkenden hatte man im Laufe des Tages bereits in anderen Besetzungen gesehen – Beispiel für gelebtes Netzwerk. Oder anders ausgedrückt: die Saarbrücker haben das gemacht, was sie ohnehin immer machen. Irgendwie sympathisch, denn sie hatten Spaß dabei.

Übrigens hat mir die Pressedame des Netzwerks, die am Nachmittag auf der Mainzer Straße selbst ins Rohr geblasen und Jazz gesungen hat, noch verraten, dass nach einer Studie jeder sechste Saarländer in einer Band aktiv ist – und es seien nur die gezählt worden, die auch tatsächlich mit ihrer Band auftreten. Eine beachtliche Zahl. Ob es am Bier liegt?

Seit Barbara Barthelmes zur Reisegruppe dazu gestoßen ist steigt natürlich das Diskussionsniveau auf der Rückbank der Staatskarosse beträchtlich, Objektivität und wissenschaftliche Genauigkeit erhalten Einzug. Sie evaluiert unter anderem die Vermittlungsstrategien, die von den Netzwerkpartnern eingesetzt werden. Sie unterscheidet vor allem zwischen zwei Formen:

A) Projekte im Fahrwasser von Response
Projekte mit Schülern, die sich auf ein Modell beziehen, im Regelfall eine Komposition, die als solche installiert wird.

B) Projekte ohne Modell
Hier wird das Weltwissen und die Kreativität der Schüler zum Ausgang genommen. Hans Schneider in Freiburg steht für diese Position.

Zwei weitere Formen ergänzen wir dann aber doch im Gespräch:

C) Musik in narrative Zusammenhänge integrieren
Jemand wie Bernhard König arbeitet sehr stark darüber.

D) Szenische Interpretation von Musik
Barbara Barthelmes nennt hier vor allem Wolfgang Martin Stroh.

Ich bin gespannt auf diese Evaluation des Netzwerkprojekts. Nicht zuletzt im Hinblick darauf, welche neuen Formen der Vermittlung durch dieses Netzwerk-Projekt auch tatsächlich entstanden sind.

Ein anderes Vorhaben von Frau Barthelmes hat mit neuen Begrifflichkeiten zu tun, die für neue Musik gefunden werden müssten. Spannende Frage. Für den Abend hat Frank Reinisch vom Breitkopf-Verlag das richtige Stichwort fallen lassen: Borderline. Auf der Grenze zwischen Neuer Musik und Jazz, auf schmalem Grat haben sich die InZeit-Leute bewegt. Das ist jetzt natürlich wissenschaftlich noch nicht wasserdicht. Aber zum Weitedenken langts.

Damit nicht zu viel gedacht werden musste, hatte Sigrid Konrad neben allerlei lustigen Fluxus-Aktionen – spanne einen Regenschirm auf, iss das Pulver und schmecke den Regen – auch eine Teiluraufführung eines Werks von Marino Rosenmann vorgesehen. Sie bestand ungefähr aus folgender Anweisung:

Man nehme zwei Flaschen eines chilenischen Tresterschnapses. Die zwei Ausführenden trinken eine der beiden Flaschen. Anschließend schenken sie die zweite an ihre Freunde und Gäste aus. Und beobachten dabei die Veränderung an sich und ihnen.

Leider konnte es zur Uraufführung nicht kommen, das Sigrid Konrad der Partner dafür fehlte. (Dank der eingangs erwähnten „Gefillden“ konnte ich gefahrlos einige Takte dieser Komposition mitspielen.)

Der Kater am heutigen Morgen war denn auch mehr seelischer Natur. Mit Unruhe sehe ich den „Klangspuren“ des Tages entgegen. (Hat mit Schwaz nichts zu tun, sondern mit Harley Davidsons…) Nach guten Konzerten ist es ja oft so, dass man sie energetisiert verlässt, dass man frisch wird durch die geistig-sinnliche Anspannung, durch die man hindurchgegangen ist. Nach fünf Tagen „Klangspuren und Soundspaziergängen ist meine innere Ungeduld eher größer geworden als kleiner. Noch eher melden sich Abschaltimpulse, Fluchtgedanken, Ausweichmanöver, wenn die ersten zehn Sekunden eines Ereignisses noch nicht fesseln. Hier wird mir noch einmal die zivilisierende Wirkung eines Konzertsaales deutlich, die einen immer wieder wenigstens über diesen ersten Fluchtimpuls hinweg verhilft. Er lenkt und richtet das Hören – man darf nicht vergessen, dass all das, was bei einem „Soundwalk“ mühsam erlatscht wird, dem abendländischen Begriff von Musik intrinsisch ist: die Intentionalität des Hörens.

Die Erweiterung des Begriffs der Musik ist gut. Der inflationäre Einsatz und Genuss musikalischer Ereignisse im weiteren Sinne könnte jedoch dazu führen, dass der Bezugspunkt – der nach wie vor der „konventionelle“, abendländische Begriff von Musik bleibt – aus der Sicht gerät. Wenn einer die Denkbewegung gelernt hat, bei einem Gang durch die Stadt seine Wahrnehmung zu lenken – wird er sie zu lenken wissen, wenn er im Konzertsaal den Ameriques von Varése gegenübersitzt. Oder ist es nicht eher umgekehrt so, dass in jemandem, der die Ameriques von Varèse gehört hat, etwas von dieser Erfahrung bei einem Gang durch die Straßen nachhallt?

Ja, ich sehne mich heute nach der Dekadenz eines großen Sinfonieorchesters, nach der „Fülle des Wohllauts“, nach der polierten Spitze unserer abendländischen Kulturgeschichte. Morgen dann gern wieder Hobel und Späne – doch wenn man nicht weiß, bei welcher Arbeit sie abgesplittert sind, bleiben die Erlebnisse öd und leer. Das klang ja jetzt schon fast wie Kant – Anschauungen ohne Begriffe sind blind und Begriffe ohne Anschauungen sind leer. Manchmal denke ich, Sounding D ist die Anschauung von etwas, zu dem wir den Begriff verloren haben.

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