geisterschiff oder turborollstuhl?
Was ist der Unterschied zwischen Köln am Rhein und Engers am Rhein? In Köln wird offen am Bahnsteig beim Kölsch gemaggelt, in Rheinland-Pfalz verzieht man sich mit Blauschiefer in den Schlosskeller. Da kann man am nächsten Tag froh sein, dass es den Zug gibt mit seinen Hörstühlen – da kann man sich nicht nur seine tägliche Portion guter Schwingungen abholen. Wenn man’s lange genug macht, weicht sogar der Blauschieferdunst und es wird wieder etwas heller im Hirn.
Wie in einem Kommentar im Bad Blog of Musick bereits bemerkt worden ist, zieht der Sounding D-Zug Musikfunktionäre und -beobachter, Politiker und Strippenzieher geradezu magnetisch an. Wie die Motten um das Licht schwirren sie um Klangstelen und Häppchen, beklatschen hier ein Schülerprojekt und nicken dort, wenn es heißt, „hören findet ZWISCHEN den Ohren statt“. ohja, hmhm.
Und: dagegen ist ja zunächst einmal gar nichts zu sagen. Politik lebt nun einmal davon, dass Anlässe geschaffen werden, die Austausch ermöglichen, Begegnung, Kommunikation – und sei es, um sich im einigen Gefühl zu trennen, dass das Gesehene und Gehörte eher mau war und man das in Zukunft irgendwie besser und anders machen müsse. Dazwischen sind vielleicht wieder 3-5 andere Projekte besprochen, angedacht und verworfen worden. Und davon haben dann vielleicht auch wieder all die anderen etwas, die gerade daneben stehen und sich übergangen fühlen.
Aber, um das Gespräch wach zu halten und eine andere Perspektive als der Kommentator einzunehmen, ja, auch zu provozieren und ich bitte daher jetzt schon um Nachsicht für die ketzerischen Gedanken, die da gleich kommen, ist es vielleicht noch einmal wichtig, das Konzept dieses Zuges ein bisschen klarer zu kriegen – nach einigen Tagen wage ich zu glauben, die Idee etwas besser verstanden zu haben.
Da ist auf der einen Seite DER ZUG. Und der ist eigentlich nichts anderes als das Schiff des Fliegenden Holländers – ein Geisterschiff. Ohne soweit gehen zu wollen, jedem, der ihm begegnet, ein Unglück zu prognostizieren, ist der Zug doch eigentlich nichts anderes als die Materialisierung einer virtuellen Angelegenheit – einer Verbindung zwischen unterschiedlichen lokalen und regionalen Beziehungen. Anders als beim Fliegenden Holländer sind es nur vier anstatt sieben Jahren, nach denen er an Land darf, daher empfiehlt es sich durchaus, schon Ausschau zu halten – auf Brautschau zu gehen, auf Suche nach Erlösung. Oder auch um junge Dinger vom Irrweg abzuhalten: „Erfahre das Geschick, vor dem ich Dich bewahr“.
Nach Ansicht von Spicciolino schreckt das Projekt Sounding D geradezu vor nichts zurück: „Nein, wie originell aber auch, in einem DB-Waggon oder auf einem ICE-Bahnsteig Zuggeräusche zu installieren, kenne ich sonst von Studenten im ersten Semester!“ So hübsch die Idee der Klangkarte Deutschlands ist, hätte man sich ja durchaus entscheiden können, sie im Virtuellen zu belassen. (Ohne damit das ästhetische Erlebnis beim Besuch von Minards Zuginstallation kleinreden zu wollen.) Und den Zug als echtes Simulakrum, als alleinige Behauptung durch das Land zu schicken. Nur ach, das gibt so schlechte Bilder. Der Zug jedenfalls ist ein fahrendes Werbemobil mit Kunstapplikationen.
Was jedoch VOR ORT geschieht, ist mitnichten von der Berliner Zentrale geplant. In den Aktionen wie jener, die vom Kommentator spicciolino im Bad Blog beklagt worden sind, manifestiert sich die Arbeit der Netzwerker vor Ort. Entsprechend unterschiedlich fallen diese aus. In Essen waren sie geprägt von der Folkwang Hochschule, in Moers von improvisers in residence, in Engers von Musikklassen, die sich in einer gigantischen Lichtshow und in historischer Kulisse künstlerisch betätigt haben.
„Musikalische Unverbindlichkeiten, austauschbar, beliebig allerorten, ein bißchen dissonant daherkommender Muzak, ein bißchen DJ. Und Scelsi halt mal am Bahngleis spielen, naja.“
Dieser Vorwurf wäre nicht „dem Zug“ zu machen, sondern allein den Veranstaltern vor Ort, den Kölner Kollegen. Wobei man hinzufügen muss, dass Köln sich innerhalb der von mir erlebten Stationen durchaus positiv ausgenommen hat: Hier gab es nämlich auch Neue Musik und nicht nur musikvermittelte Schülergruppen. Hier gab es intelligente und humorvolle Interventionen im Stadtraum – bitte hört auf von öffentlichem Raum zu sprechen: der Konzertsaal ist das auch, bitteschön!!! – und pädagogische Hüpfspielchen zur zwölftönigen Permutation. Die Performance „Ohr am Gleis“ war gewissermaßen der populäre Ausklang des Tages. Was der Scelsi nach dem Klangbrett von Joseph Suchy, C-Schulz und FX Randomiz noch sollte, bleibt allerdings rätselhaft.
Diejenigen, die im Netzwerk ON meiner Beobachtung nach aktiv sind, sind genaue jene, von denen von spicciolino beklagt wird, dass sie „ausgetrocknet“ werden: „Andernorts werden die Kulturetats zusammengestrichen, der musikalische Humus der kleinen lokalen Initiativen ausgetrocknet.“
Jetzt mal provokant gesagt: Es sind doch vielerorts gerade „die Kleinen“, die vom Netzwerk profitieren. Und vielleicht krankt die vielerorts beklagte künstlerische Qualität vieler Projekte ja gerade daran, dass „die Großen“ im Konzert nicht mitspielen – zumindest nicht in dem Sinne, wie es für alle Parteien am sinnvollsten wäre. Ein Logo ist schnell abgedruckt, ein paar tausend Euro schnell verplant – oder nachgeschossen bei Dingen, die ohnehin schon längst in der Pipeline sind. Dass dies alles nicht im Sinne der Kulturstiftung des Bundes wäre, ist klar – doch wer die Planungsrealität von großen Ensembles und Klangkörpern kennt, der weiß, wie weit im Voraus manches gesetzt ist…
So gesehen wäre der Sounding D-Zug kein Geisterschiff, sondern so etwas wie der Turborollstuhl für die Fußlahmen, die andernfalls keinen Schritt mehr vor den anderen setzen könnten. Ob sie am Ende der vier Jahre die Krücken – wie erhofft – von sich schmeissen werden, oder wie Lazarus aus der Höhle marschieren? Zu wünschen wäre es. Doch ist das der frommen Wünsche und Erwartungen wohl zu viel, gerichtet an ein Projekt, das von der Vielfalt und Individualität der zahlreichen Partner lebt. Und daran krankt.