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Auf gewisse Dinge ist Verlass. Als ich den Essener Hbf natürlich wieder an der falschen Seite verlasse, passiere ich fünf Bauarbeiter, von denen einer eine Kreissäge bedient und die anderen vier die Einhaltung der Arbeitssicherungsvorschriften bewachen. Welch eine Einstimmung auf Neue Musik! Kreissäge statt Xenakis! Vielen Dank!

Doch dann: alles ganz anders. Der Reihe nach.

Der Essener Bahnhof ist ein merkwürdiger Bahnhof. Er trennt die Stadt gewissermaßen in Norden und Süden. Süden ist da, wo Rüttenscheidt ist und alle immer wohnen. (Fragt mich nicht, wieso!) Norden ist da, wo man shoppen geht, wo das Grillo mit Spaghetti auf dem Kopf und mit Schnitzeln um die Augen Werbung für das zusammengesparte Theater macht und wo drei-vier Straßencafés Urbanität suggerieren. Die meisten hocken im Starbuck’s. Der Essener Hauptbahnhof besteht aus unterschiedlichen Ebenen und wenn man zu den Regionalzügen oder zum Sounding D-Zug will, muss man häufig durch komplizierte Tunnelsysteme, die zu allem Überfluss ihre Beleuchtung dauernd wechseln, wie eine Sauna mit hyperaktiven Anwandlungen oder eine Lichtinstallation von rosalie. Doch es gibt eine Hauptdurchgangsstraße: Und die ist nun umzingelt. Von schwarzgewandeten jungen Musikern, die zwischen den Boutiquen und Fressbuden Aufstellung genommen haben und gerade „Was ihr wollt“ spielt. Immerhin: Eine Komposition von Günter Steinke – kein Flashmob oder so ein neumodischer Kram. (Darauf wird zurückzukommen sein.) Nein, sie spielen ein Stück, das von fanfarenartigen Blechbläsern eingeleitet wird, in das einige Streicher einstimmen und schließlich Holzbläser einfallen. Die Musik steigert sich, indem Figuren sich spiralartig wiederholen und am Ende – ähnlich wie in Hyperion von Georg Friedrich Haas bspw. – mit filrrender Harmonie kulminieren. Das kriegt natürlich nur mit, wer die 8-12 Minuten, die das Stück dauert, ich habe nicht darauf geachtet, dauert. Dafür haben die wenigsten Zeit, Überraschung, Ablehnung, Zustimmung, Interesse, das alles lässt sich auf den Gesichtern ablesen, die dieses musikalische Spalier passieren. Für die einen ein Spießrutenlauf, für die anderen Musikmassage.

Mit einem Menschen hätte ich gern noch gesprochen, er hat jeden Musiker gefilmt, mit seinem Mobiltelephon. Er war offensichtlich ganz fasziniert und ich hätte ihn gern gefragt. Er verschwand in der Menge, während ich mit Hasto Molavi spreche, der Sängerin, die einige Reimann-Lieder ganz berührend von einer Balustrade herab gesungen hat. Ein krasseres Beispiel ließe sich nicht dafür finden, dass eine solche Bahnhofsaktion für die Katz ist. Sie erinnert mich an den Rufer in der Wüste: mit kleiner, doch sehr schöner Stimme singt sie Musik, die am Ende einer jahrhundertelangen Entwicklung steht. Die nur stattfinden konnte, weil sich die Musik vom Außen ins Innen zurückgezogen hatte, in die KAMMER. Nun, in die Unbill und den Lärm der Stadt geworfen ist sie schutzlos, nackt. Und viel leiser als der Ghettoblaster mit dem dieser Falcoverschnitt tänzelnd mühelos alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Gerade darum wichtig, sich dieser Schutzlosigkeit auszusetzen?

Vor dem Bahnhof vereinzelt Studierende, Komponisten, Musiker – sie haben weiße Uniförmchen umgehängt bekommen, verteilen Werbematerial. Sie sind stolz: Sie wollen künftig in Ihre Bio schreiben: Gefördert von der Bundeskulturstiftung. Das hat Witz.

Auf der Südseite stehen zwei Männer im Blaumann. Sie klatschen. Sie haben keine Flyer in der Hand. Sie versuchen nachzumachen, was Stephan Froleyks und das junge Schlagzeugensemble SPLASH gerade zum Besten gegeben haben, vor dem Bahnhof und durch die Bahnhofshalle ziehend: Steve Reichs „Clapping Music“. Sounding D hat sie erreicht.