Was die neue Musik sey
„Entscheiden Sie sich… jetzt!“– so lauten die einleitenden Worte des Moderators nach der langen Begrüßung durch alle Würdenträger. Gehen oder bleiben, intellektuelle Sprünge oder gesangliche Bewegung? Diejenigen, die sich fürs Bleiben entschieden haben, sind spärlich, aber gespannt. Einige reiben sich erwartungsvoll an den Nasen. Die Techniker lächeln wissend.
In der relativ kühlen und weitläufigen Atmosphäre des Bartók-Saals findet sich eine höchst ungewöhnliche Versammlung aus Musikinteressierten allen Alters und einiger wichtiger Menschen zusammen. Wir warten auf den Vortrag zur Musikvermittlung. Durch die Ankündigung im Programmheft wird nicht vollständig ersichtlich, was uns erwartet. Mattheson kommt vor. Zumindest ist ein Zitat von ihm verlinkt.
Georges-Nicolas Wolff betritt die Bühne.
Er ist komplett schwarz gekleidet, sein Rücken beugt sich ein wenig unter schierem Wissen, seine Gesichtszüge wirken zusammengezogen, wie eine kleine, hochwissenschaftliche Rosine. Mit ungeschickten Fingern platziert er sein Macbook auf dem Rednerpult und schaut eine Weile lang einfach mit gerunzelter Stirn auf den Bildschirm. Ein Techniker rennt ein paar mal hin und her. Der Vortrag beginnt schließlich irgendwann.
Innerhalb von drei Sätzen schafft Wolff es, von der Musikvermittlung einen Bogen zu schlagen zu seinem eigentlichen Lieblingsthema, der Musik des 17. Jahrhunderts. Der Techniker rennt noch einmal. Ein schlecht geschnittenes, offensichtlich von einem Computerbildschirm abfotografiertes Bild erscheint. Einige lateinische Sätze später kommen wir zu verschiedenen Varianten der Tabula Naturalis. Da uns jegliches Vorwissen darüber fehlt, bleiben uns die nächsten zwanzig Minuten des Vortrages verschlüsselt. In den Gesichtern der Umsitzenden spiegelt sich ähnliches Unverständnis, vielleicht sind sie aber auch schon so weit in ihr Bewusstsein vorgedrungen, dass sie sich in anderen Sphären befinden und keinen Kontakt mehr zu ihren Gesichtszügen haben. Hinter mir führt ein älteres Ehepaar relativ laute Gespräche:
„Heinz, ich will raus“
„Nein.“
„Ich will raus. Können wir raus?“
„Nein.“
„Es ist kalt.“
Vorne wird der Übergang zwischen dem natürlichen, mathematischen und dem emotionalen, affekthaften Musikverständnis erläutert.
Einer der Techniker ist auf der Konsole eingeschlafen. Wolff erzählt eine Anekdote über Bach.
Es ist 17:03 Uhr, 33 Minuten seit Beginn des Vortrages.
„Ich gehe jetzt“, sagt die Dame hinter mir.
„Das war so die Zeit, in der man die Intonation der Stimme im Musikalischen entdeckt hat. Die Trivialisierung der Musik“, sagt Wolff vor mir.
Einige, in musikalischen Fachjargon eingewickelte und mit philosophie-historischen Schleifen verzierte Sätze später möchte uns Wolff ein Musikstück vorstellen.
„Wenn Sie sich nicht darauf einlassen wollen, dann verstehe ich das!“, sagt er als Vorwarnung. Ich verstehe im Gegensatz zu ihm gar nichts. Worauf soll ich mich denn einlassen? James Joyce wurde erwähnt, und Orgelpfeifen, aber was hat das nun mit dem Tonbeispiel…
Der Moderator unterbricht meine Verwirrung. Er nähert sich vorsichtig der Bühne. Wolff blinzelt ihn an. Sie gestikulieren kurz. Anschließend kommt Wolffs Ansage, er würde sich mit der gestischen Musik nun kurzfassen. Jetzt kommt das Musikstück.
Wolff steht wieder sehr ernst und verkrumpelt über sein Macbook gebeugt. Seine eng zusammengezogenen Gesichtszüge wirken fast verzweifelt. Er legt sich eine Hand an die Stirn. Das Publikum wird dagegen langsam wieder lebendiger. Zwei Frauen nutzen die Gelegenheit, sich aus dem Saal zu schleichen. Das Kantinenpersonal steckt seinen Kopf durch die Tür.
Was genau er uns an diesem Hörbeispiel zeigen wollte, ist mir noch immer nicht klar geworden, wohl aber eine seiner Hauptthesen: „Neue Musik kann man nie zweimal hören. Jedes Hören ist anders.“ Und tatsächlich, wahrscheinlich werde ich Boulez nie wieder so hören können wie heute.
„Man soll sich bei Neuer Musik nicht aufs Machen konzentrieren. Was könnte sie uns sagen“, ist seine Anweisung.
Inzwischen hat er seit fast einer halben Stunde keinen Satz mehr beendet. Es scheint, als wuchere in seinem Gehirn mitten im Formen eines Wortes schon das nächste. Seine letzten Folien werden rasch gezeigt, alles unter dem Druck der fortschreitenden Zeit und eines ungeduldigen Moderators.
Vor uns steht ein Mann, der von seinem Wissen fast gebeugt ist, dessen Gedanken so wild wuchern, dass sie sich nicht in eine „deduktive, gradlinige“ Richtung zwingen lassen. Georges-Nicolas “Mycélium” Wolff ist ein Geflecht, genau wie sein Vortrag, genau wie unsere Gedanken danach.
Vermittelt wurde mir hier nichts. Auch über Musikvermittlung weiß ich nicht mehr als vorher. Aber ich habe ein großes Stück der absurden Performance-Kunst erlebt. Und vielleicht geht es ja darum.
Eine Antwort
[…] Beginn des Festivals hielt Georges-Nicolas Wolff einen Vortrag mit dem Titel „Was die Neue Musik sey – oder: Was soll denn da vermittelt werden?“, der […]