Musikalischer Sadomaso?
György Kurtág: Ommagio a Luigi Nono
“Wessen” und “dessen” auf russisch, das sind die beiden Wörter des ersten Fragments der Ommagio a Luigi Nono. Die Aneinanderreihung der beiden Laute klingt dissonant, hysterisch, teils absurd nach kollektivem Lachen oder Niesen, das sich mit Fetzen scheinbar vertrauter „klassischer“ Harmonien und Rhythmen mischt und so das groteske Bild einer vagen Mischung aus Fremdem und Bekanntem erzeugt. Jazzig anmutende Akkordblöcke vermengen sich mit scheinbar willkürlich aneinandergereihten Einzeltönen. Eine Mischung aus homophonen und polyphonen Elementen, von solidem Unisono über intensiv farbige Akkordwände oder vielrhytmisches und vielstimmiges Ineinandergreifen, bis hin zu einzelnen Stimmen, die für einen kurzen Moment aus der Klangmasse herausstechen und dann wieder abzutauchen scheinen. Die lauten und vollen Klänge des Stücks scheinen sich wie eine schwüle Luftmasse im Saal auszubreiten und diesen mit einem zähen, unangenehm schwingenden Luftbrei zu füllen. Kontrastierend dazu wird gelegentlich auf besonders „kühlen“ Klängen verharrt. Aber auch anderweitig wird der Zuhörer immer wieder durch Kontraste und Wechsel überrascht: Die plötzliche Überlagerung von Harmonien, die auf das erste Hören nicht zusammen zu passen scheinen, sich bei genauerem Hinhören jedoch auf interessante Weise auffächern oder ineinanderfügen. Anstrengende Rhythmen, die zuerst diffus im Raum und in der eigenen Wahrnehmung hin und her zu springen scheinen und sich mit dem Einsetzen der vierten Stimme zu einem überraschend ästhetischen, rhythmischen Gebilde fügen, das angenehm anzuhören ist und die negative Aufregung unmittelbar in positive verwandelt.
Heinz Holliger: Die Jahreszeiten für 16 Stimmen a capella
Die Jahreszeiten ist ein Zyklus aus vier vertonten Gedichten Hölderlins aus der zweiten Hälfte seines Lebens, in der er sich selbst nur noch als „Scardanelli“ bezeichnete und seine Gedichte mit diesem Pseudonym unterzeichnete. Weiterhin bediente er sich völlig frei erfundener Daten, die teils vor, teils weit nach seiner Zeit liegen und fügte jedem seiner Gedichte ein „mit Untertänigkeit“ an.Die Vertonung von Heinz Holliger bezieht diese Signatur und die fiktiven Daten mit ein. „Der Herbst“ besteht sogar zu großen Teilen aus letzteren. Die “Weihnachtsmann”-Erzählerstimme des Sängers, die am Ende jedes Stückes das Datum deklariert, bildet einen starken Kontrast zu den Dissonanzen der Musik. Besonders „Der Sommer“ stellt sich als nervenaufreibend heraus, denn er ist für sieben Sängerinnen geschrieben, die einen Kanon präsentieren, dessen Tempo nach deren individuellen Herzschlägen gerichtet ist und nur drei Strophen beinhaltet, die zweite mit einem Viertel- die dritte sogar nur mit einem Achtelton Abstand zwischen den einzelnen Stimmen. Das macht das Zuhören äußerst anstrengend und aufwühlend, aber gerade deswegen so spannend und lohn
enswert.
Martin Smolka: Poema de Balcones
el mar baila por la playae un poema
un poema de balcones
retumba el agua
An den Stränden tanzt das Meer
Ein Gedicht aus Strandbalkonen
wo des Wassers Tropfen nachhalt
Unnatürliche Klänge vereinen sich mit scheinbar bekannten und dadurch natürlich wirkenden Harmonien und scheinen gemeinsam etwas übernatürliches zu bilden. Der Sinneseindruck ist verschwommen, vernebelt, Hören im vorbeiziehen, wie in Watte oder im Halbschlaf. In einem Moment erklingen Cluster, die ein Gefühl von kühler Höhe hervorrufen, die an Gebirge und Wasser erinnern Im nächsten Moment fühlt es sich an, wie ein Sturz ins Bodenlose, oder so, als würde man in ein gähnendes Loch schauen, das so dunkelschwarz ist, dass es einen einzusaugen scheint. Poema de Balkona ist viel atmosphärischer Klang, der innehält, dann wieder weiterzieht und den man im Empfinden automatisch vervollständigen möchte, wenn er verharrt. Harmonie, der das eigene Gehör eine Tonika der wenigstens einen Trugschluss oder irgendeine andere vertraute Harmoniefolge aufzwingen will, nur um dann enttäuscht zu werden, weil sich der Klang in Dissonanz verliert oder sich einem neuen harmonischen Farbspektrum zuwendet, sodass sich das Zuhören fast wie Hohn anfühlt. Das Stück wirkt insgesamt wie eine seltsam verzerrte Naturdarstellung. Eine Natur ohne Menschen, jenseits von wahrgenommener Zeit, in einem Zeitalter vor oder vielleicht auch nach dem Menschen.
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