Die Konferenz der Schwärme
Ein Kommentar
Vielleicht liegt es im bösen Teil meiner Natur oder ich wurde einfach falsch erzogen… aber irgendwie assoziiere ich Chöre immer auch mit Schwärmen, mit (Fisch-)Schwärmen. Chorsänger sind Leute, die mit einem unglaublichen Pathos genau das Gleiche tun, wie sämtliche Leute, wie der ganze “Schwarm”, um sie herum. Daher rührt diese Assoziation.
Keine Frage, gegen den Gesamtklang eines guten Chores, gegen gute Chorliteratur, sei diese geistlicher oder weltlicher Natur, kann man nichts einwenden. Auch ich höre sehr gerne Chormusik, obwohl dies nicht zu meiner Lieblingsmusik zählt. Es ist immer wieder schön zu erleben, wie sich der Mensch seiner Stimme, der natürlichsten und ursprünglichsten aller Möglichkeiten des Musizierens, bedient und diese im Kollektiv zum Klingen bringt. Wenn dies noch dazu in einem akustisch so beschaffenen Raum, dass der Klang sich auf geradezu himmlische Weise ausbreiten kann, geschieht, hat das rein passive Erleben dieser Musik etwas sehr Bezauberndes an sich.
Doch irgendwie werde ich das Gefühl einfach nicht los, dass viele Chorsänger (ich rede hier von Laienchören, nicht von Profichören) nicht in der Lage sind, „gegen den Strom zu schwimmen“… Gelangt ein beliebiger Laienchor beim Einstudieren einer etwas anspruchsvolleren Chorkomposition zu rhythmisch oder harmonisch etwas polyphoneren Passagen, macht sich ein allgemeines, latentes, aber doch deutlich spürbares Unbehagen breit. Wenn es auch noch mehrstimmig wird und die Nebenfrau/ der Nebenmann singt nicht mehr die gleiche Stimme wie man selbst, erreicht das Unwohlsein seinen Höhepunkt. Man sehnt sich geradezu nach dem Schwarm, der einem die Richtung vorgibt, an dem man sich orientieren kann. Man beugt sich nur sehr widerwillig der Herausforderung, solche Passagen ohne nachbarlichen Beistand durchzustehen und sich seiner individuellen Fähigkeiten (, die man selbstverständlich hat) bewusst zu werden und zu bedienen. Am Besten, man entzieht sich dieser Herausforderung sogar, indem man einen Ortswechsel vollzieht und sich neben diejenigen stellt, die mit einem selbst die Stimme teilen. In solchen Fällen könnte man so manch einem Chorsänger sogar Feigheit unterstellen.
Hier auf dem UPGRADE Festival in Donaueschingen geht es hauptsächlich um zeitgenössische Chormusik, die sich oft dessen bedient, dem Individuum größeren Freiraum zu bieten und gleichzeitig von dem Chorsänger verlangt, diesen auf eigene Faust auszufüllen. Man könnte also meinen, dass die hier vertretenen Landesjugendchöre sich dieser Individualität der einzelnen Chormitglieder bewusst sind. Das wird in den zahlreichen Darbietungen auch demonstriert, man kann bisweilen überhaupt nicht mehr von „Schwarmfischen“ sprechen.
Aber trotzdem konnte ich beim Abendessen beobachten, wie ein Chor es irgendwie schaffte, kollektiv aufzustehen und den Esstisch zu verlassen, und das ungeplant. Keiner wollte vermutlich als Einziger der letzte sein…Wahrscheinlich handelte es sich hierbei um einen Schwarminstinkt oder so ähnlich…
Deshalb meine Aufforderung an alle Chorsänger: Traut Euch auch mal, gegen den Strom zu schwimmen! Es kann sogar Spaß machen!
Fischschwärme zeichnen sich dadurch aus, dass ein potentieller Angreifer sich nicht auf ein einzelnes Element des Schwarms konzentrieren und dieses gezielt jagen kann, sondern verwirren durch Gleichartigkeit den Angreifer. Wer gegen diesen Strom schwimmt, der macht sich also angreifbar. Doch nicht nur er selbst gefährdet sich, sondern er gefährdet damit auch andere Schwarmelemente, indem diese verwirrt werden und aus ihrer Rolle fallen oder dadurch, dass das Gesamtbild zerfällt. Im Chorgesang geht es nicht darum, dass einige Menschen mit ihrer Individualität auffallen, denn die dargebotene Kunst der Gruppe steht im Vordergrund.
Wenn ich mich nun in totaler Individualität bewege, dann zerstöre ich die Gruppe, denn dann stelle ich meinen Egoismus über den der anderen Gruppenmitglieder, ich missachte die Anderen und stelle nur mich in den Mittelpunkt meiner Weltanschauung
Totale Individualität grenze ich hier aber von gewollter Individualität ab, z.B. wenn die Individualität Teil der Gruppe wird. So wird Individualität Teil des Schwarmes. Wer sich dann individuell verhält, der schwimmt nicht gegen den Strom. Als reales Beispiel kann hier die „Hipster“-Bewegung genannt werden, bei dieser wird durch betonte Individualität mehr Gleichheit geschaffen.
Ein Bruch mit der Gruppe sollte das letzte Mittel sein, z.B. um eine Entwicklung in eine falsche Richtung abzuwenden, vorher kann man innerhalb der Gruppe, also „intern“ die Probleme ansprechen und eine Veränderung herbeiführen.
Trau dich deinen Schwarm zu führen, sorge dafür, dass die Gruppe aus guten Elementen und guten Ansichten besteht und sich durch gutes Verhalten auszeichnet.