Die Entführung aus der Wirklichkeit
Ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, wie wichtig die Musik ist, weil sie die höchsten Gefühle, deren der Mensch fähig ist, zu erzeugen und zu unterstützen vermag.
Johann Heinrich Pestalozzi
Ja, da hat der Pestalozzi gar nicht so unrecht, oder?
Kennt ihr das, wenn ihr in ein Konzert geht und ihr findet, dass nur ein Stück wirklich ansprechend ist? Aber dieses Stück ist hammermäßig, gigantisch, umwerfend, galaktisch? Dieses eine Stück erzeugt die höchsten Gefühle. Wenn das bei mir passiert, wandeln sich diese Gefühle in Bilder, in Geschichten um. Gestern beim Konzert 1/ SWR Vokalensemble Lieblingsstücke beim UPGRADE Festival war das bei mir der Fall. Ich lade euch dazu ein meiner Geschichte zu lauschen, die bei dem Stück Poema de Balkones von Martin Smolka vor meinem Inneren Auge ablief. Lasst euch von mir in meine Fantasiewelt entführen:
Es ist früher Morgen, es ist kalt und alles schläft noch. Außer den Fischern. Sie fahren hinaus auf den großen, weiten Ozean, dem Sonnenaufgang entgegen. “Heute müssen wir etwas fangen”, denken sie, “wir müssen ja unsere Familie ernähren.”
Im Saal ist es still, wie im Morgengrauen. Alle sind gespannt, was sie beim nächsten Stück erleben. Der gesamte Chor schlägt die Stimmgabel an und es geht los. Ein Klangteppich aus tiefen, brummenden, leicht dissonanten wohlklingenden Tönen entsteht. Ein paar der Chormitglieder fangen an zu pfeifen. Es klingt, als ob sie Vögel wären.
Die Fischer haben schon ein gutes Stück mit ihren Booten zurückgelegt. Die Sonne ist aufgegangen und der erste Besuch kündigt sich an. “Wir haben Hunger, wir wollen Fisch”, kreischen die Möwen. “Ja Hunger haben wir auch”, denken die Fischer. Am späten Morgen fahren sie wieder ans Festland, dort laden sie den gefangenen Fisch in geflochtenen Körben aus und bauen ihre Stände für den Fischmarkt am Pier auf. Als die Mägde kommen, zeigen letzte Zuckungen das qualvolle Sterben der Fische. Doch das wird von niemandem beachtet, der vergangene Abend auf der Burg ist einfach viel wichtiger und ein wesentlich angenehmeres Gesprächsthema.
Der Klangteppich schwillt an und die vogelartigen Geräusche werden durch andere abgelöst. Welche, die sich anhören, als ob eine große Menschenmenge sich unterhält.
Am Abend kommen die Fischer nach Hause, die Familie hat extra auf sie mit dem Abendessen gewartet. Als die Männer durch die Haustür kommen, stürmen ihnen die Kinder entgegen. Sie singen und tanzen, spielen und lachen, unwissend und unbeschwert. So ganz anders als ihre Eltern und älteren Geschwister. Nach dem eher kläglichen Essen werden die Kinder ins Bett geschickt. Beim Kontrollgang des Vaters schlafen schon alle, alle außer Pip. Er ist der Jüngste. Pip fragt, ob ihm sein Vater nicht eine Geschichte erzählen könne. Also setzt sich der Vater auf das kleine Bett. “Das Bettchen ist ja blau, wie das Meer. Und es ist ja mit Blumen bemalt, die sehen aus wie die glitzernden Fische in der Sonne”, bemerkt er nebenbei. Und dann fängt er an zu erzählen.
Die Solokünstler verstummen. Dafür hebt der Chor die Lautstärke und lässt sie kurzerhand wieder absinken. Es ist jetzt eine geheimnisvolle Stimmung im Saal, wie wenn die Oma einem eine Geschichte am Abend erzählt. Dann – überraschend sagt der ganze Chor .”Psssssssst”. Dann nimmt er den Klangteppich auf und wieder ”Psssssssst”.
“Auf der anderen Seite des Ozeans”, so erzählt der Vater, ”gibt es ein königliches Paar. Die Königin ist so schön wie der Morgen auf hoher See und der König ist der gerechteste und barmherzigste Mann, den du dir vorstellen kannst.” Der Mann hört auf zu erzählen. Leise sagt er: ”Psssssssst”, doch schon hat Pip wieder die Augen offen und verlangt von ihm mit der Geschichte fort zu fahren. “Also gut. Das königliche Paar hat keine Kinder, obwohl sich die Königin so sehr welche wünscht. Deshalb veranstaltet sie drei mal im Jahr “Kinderfeste”, dort bekommen die Kinder Essen und Trinken, Geschenke und Bespaßung. Aber nicht nur das: An diesem Festival wird Musik gespielt. Musik, wohin du gehst. Neue und alte Musik, lustige und traurige, leichte und schwere. Musik zum Nachdenken und Musik zum unbeschwert Sein. Aber natürlich können die Kinder auch selber Musik machen. Extra für sie hatte die Königin die besten Lehrer aus der ganzen Welt anreisen lassen. Sie hat Kuriere in die entlegensten Winkel der Erde geschickt, um unbekannte weltklasse Künstler zu finden.” Eigentlich möchte der Mann noch weiter erzählen, aber sein Sohn Pip ist schon eingeschlafen. Er streicht ihm über die Haare und macht sich auf den Weg in seine Welt. In die Welt die wesentlich spaßloser und schwieriger ist als die in seiner Geschichte. Aber zum nächsten Vollmond sind wieder Kinderfeste, schon zum neunten Mal. Für ihn ist es das erste. Vielleicht wird dann alles besser. Er hofft es.
Der Saal ist still. Das Konzert ist vorbei. Applaus.
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