protestkultur und linzer torte, nebst wissenschaftlicher auswertung
Nicht erst, seit in Stuttgart die Massen auf den Bahnhofsvorplatz drängen, um gegen Stuttgart 21 zu protestieren, darf man Baden-Württemberg als die Wiege einer neuen Protestkultur ansehen. Anders als früher, als es den Protestierenden um Wandel und Veränderung ging, stehen Sie heute für „Bewahrung“ auf der Straße: konservative Revolutionäre, die im Tiefbahnhof eine Endlagerstätte für ihre Zukunftsängste gefunden haben. Wenn das mal für den Atommüll so leicht wäre!
Auch den Freiburger Beitrag zum Sounding-D-Tag könnte man geneigt sein, als zivilen Ungehorsam oder als heimlichen Protest gegenüber dem Projekt Sounding D zu werten: Von den zahlreichen hochkarätigen Partnern, die im Freiburger Netzwerk mehrklang zusammen geschlossen sind, war weit und breit nichts zu hören. (Immerhin waren einige im Publikum zu sehen.) Doch das Programm des Tages wurde von Bernhard Wulff und seinen Frauen und Mannen von der Freiburger Hochschule bestritten. Mit Kesseldruck und Bronze hatten sie ein kesses Motto für die Aktionen des Tages gefunden, das – freiburguntypisch – auf Motorisierung setzte: Harley Davidsons zogen eine „Klangspur“ durch die Stadt und machten Fotografen und Kameramänner, die auf ihrem Rücksitz mitfahren durften, glücklich. Weniger glücklich konnte man mit der Darbietung von Kagels „Zehn Märschen um den Sieg zu verfehlen“ sein, die hier besser unter der Überschrift, „Zehn Verfehlungen um Kagel zu besiegen“ aufgeführt worden wären. (Thomas Schmölz geht im zweiten Teil unseres Gesprächs weiter untern auf diese Kritik ein und verteidigt das Programm.)
Am Abend erfüllte sich gar mein Wunsch nach einem geschlossenen Saal in einem Konzert mit Musik von James Tenney, Dieter Mack, Bernhard Wulff, Iannis Xenakis und John Cage. Weil, anders als im Saarland oder im Ruhrgebiet „Strukturwandel“ noch ein Fremdwort ist, stand leider keine leerstehende oder umgewidmete Fabrikhalle zur Verfügung, um Persephassa von Iannis Xenakis an einem geeigneten Ort aufzuführen. Nicht einmal in der Freiburger „Bronx“, in Haslach, einem „Problemviertel“ – wo aber der Rasen, wie jemand bemerkte, immer noch ordentlicher geschnitten ist als in ganz Saarbrücken – wo die Veranstalter den „Melanchthon-Saal“ ausfindig gemacht hatten. In einem Gemeindesaal also wurde einem das raummusikalische Stück für sechs Schlagzeuger dargeboten, was ungefähr so ist, als wollte man die Möglichkeiten eines Schnellzugs im Güterbahnhof präsentieren und ohne Ohrenschutz schon richtig weh tut. Das Dach ist dann doch drauf geblieben.
Wühlt man sich einmal mit statistischem Blick durch das Programm der Sounding D-Bahnhöfe so ergibt sich ein überraschender Befund. Neben all den „Musikvermittlungsmusiken“ von Schulklassen und allem Möglichen führen John Cage und Iannis Xenakis die Hitliste der Aufführungen an. (Gezählt wurden Komponisten, die an mehr als einem Ort gespielt wurden, Doppelaufführungen eines Stücks an einem Ort wurden nicht gezählt, die Anzahl der Werke war ausschlaggebend, die Aufführungszeit ist nicht eingeflossen.)
So erklangen Werke von Iannis Xenakis und John Cage je sechsmal, dahinter folgt, ziemlich überraschend, Dieter Mack mit drei Werken. Georges Aperghis, Karlheinz Stockhausen und Nicolaus A. Huber folgen dahinter mit je zwei Werken. Auch Terry Riley war zweimal vertreten, zweimal mit dem Werk „In C“.
Bezieht man die Aufführungszeit in die Wertung mit ein, so landen überraschend Karlheinz Stockhausen und Daniel Ott dicht beieinander, auch Iannis Xenakis ist hier vorne mit dabei.
Rebonds von Iannis Xenakis könnte man gar als die heimliche Hymne von Sounding D bezeichen, die, Vorstellung von Sounding D in Berlin eingeschlossen, insgesamt dreimal dargeboten wurde. Am problematischsten wohl in Freiburg, wo das Solostück von fünf (!) Schlagzeugern ausgeführt wurde.
Was an diesem Befund überraschend ist: entgegen mancher Vorurteile werden also tatsächlich zahlreiche Neue Musik-Werke gespielt, durchaus solche der „härteren Art“. Wie kommt es daher, dass die Wahrnehmung des Sounding D-Projekts davon nicht stärker geprägt ist?
Das liegt wohl zum einen Teil daran, dass die Aufführungen eingebunden in Soundspaziergänge und ähnliches stattfinden und daher nicht die Musik, sondern deren Aufführungsform im Vordergrund stehen. Zudem entspricht die Qualität der Aufführungen selten höchsten Anforderungen und ist daher gerade nicht dazu angetan, „denkwürdige“ Ereignisse zu schaffen, die sich einprägen und Erinnerungsspuren hinterlassen. Oder, um eine mitreisende Person zu zitieren, die eigentlich gar nicht aus der Musik kommt: „Meine Hauptkritik am Zugprojekt wäre, dass die Qualität der Aufführungen und der Musik nicht dazu angetan ist, vermittelnd zu wirken.“ Über den ethischen Wert mittelmäßiger Aufführungen neuer Musik müsste man tatsächlich noch einmal nachdenken.
Vor diesem Hintergrund ist es überraschend, dass ausgerechnet Iannis Xenakis, dessen Musik sich gerade durch eine enorme, bis an die Überforderungsgrenze reichende Virtuosität auszeichnet, derart oft gespielt wird. Seine Musik scheint dazu angetan zu sein
a) einem Bild von Neuer Musik zu entsprechen, dass von den Veranstaltern beispielhaft für ihr Verständnis neuer Musik zu stehen in der Lage ist
b) gleichzeitig aufgrund gewisser Qualitäten für besonders vermittelbar erachtet zu werden
Woran das nun liegt, das wäre ebenfalls einer gesonderten Erörterung wert.
Nun muss ich noch ergänzen, woran es lag, dass an diesem Freiburger Tag die Erwartungen, die man an die deutsche Hauptstadt der Profi-Neue Musik-Ensembles gestellt haben mochte, etwas enttäuscht wurden: In Freiburg waren noch Ferien und Hinz und Kunz und vor allem die Musikszene war noch in Frankreich oder in Italien. Also doch nix mit Protest: Hier verband sich der Ankunftszeitpunkt des reisenden Sounding D-Zuges auf unglückliche Weise mit der Hauptreisezeit. Auch das ist ein Teil dieser Geschichte.
Am Bahnhof in Freiburg gibt es übrigens bei einem Bäcker eine sensationelle Linzer Schnitte zum Preis von 1,35 Euro.
Klasse Analyse, Patrick. Da muss ich schwer in mich gehen. Sciarrino war aber auch wenigstens zweimal dabei. (Berlin und Oldenburg).
Irgendwie erinnert es mich alles ein bisschen an ein Feature von Bernd Leukert, der eine Tagung „Immer wieder neue Musik“ zum Feature gestaltet hat. Darin sagt, meine ich mich zu erinnern, Trojahn, „dass man als Hörer eine Musik erwarte, die man eigentlich nicht hören will und dann diese Musik tatsächlich bekomme und dann enttäuscht ist.“
Zu Rebonds von Xenakis. Das ist natürlich so etwas wie ein Hit.
Lieber Martin, das kann gut sein, dass es da noch einige Details zu ergänzen gäbe – eine echte „Analyse“ wäre sicher nur aufgrund der Abendprogramme möglich, da sich gegenüber des Gesamtprogrammbuchs natürlicherweise noch Verschiebungen ergeben. (Auch der zweifache Mack am gestrigen Abend ist sinnvollerweise in der Gesamtübersicht nur einmal erwähnt.) Aber die Tendenz bei den Spitzenreitern ist eindeutig!
Trojahn-Zitat ist klasse – zählt er seine eigene Musik auch dazu? Oder verbrämt er damit die Enttäuschung, dass diejenigen, die nicht enttäuscht wären, wenn sie bekämen, was sie erwarten, das Unerwartete nämlich, bei Trojahn häufig enttäuscht sind?
Vermutungen, warum Xenakis hitverdächig ist:
– während instrumentale Virtuosität bei einem Fernyhough-Streichquartett nur bedingt „nachvollziehbar“ ist, ist die rhythmische Komplexität von Rebonds hingegen auch für Laien den „fasslich“
– sie ist zudem imer wieder latent „tänzerisch“
– die „Choreographie“, die das Spiel bedingt, liefert eine attraktive Visualisierung der Musik.
– das Stück ist laut und
– ergreift daher den Hörer körperlich – ob er die Ohren offen hat, oder nicht
– und entfaltet auch an akustisch problematischen Orten seine Wirkung
– das Instrumentarium ist „archaisch“
– es erfordert einen virtuosen Musiker – aber nur einen Schlagzeuger mit großem Kofferraum und ist daher relativ unschwierig und relativ kostengünstig aufzuführen.
Das wären mal ein paar Mutmaßungen – ich hoffe, Oldenburger Musikwissenschaftler oder andere helfen mir, dieses Rätsel zu lösen!
Danke Patrick für die Einschätzung!
Dass man bei mehrklang in Freiburg lieber in den Urlaub fährt, als sich bei sounding D zu präsentieren, mag von außen betrachtet ja legitim sein. Dass man eine einmalige Aktion des Berliner „Mutternetzwerks“ ignoriert oder sogar boykottiert und die Gestaltung lieber anderen überlässt, empfände ich anstelle der Berliner Netzwerker aber als krassen Affront. Schließlich gehen da ja auch Gelder von Berlin in den Breisgau, da könnte man bei dem Planungsvorlauf schon einiges an Entgegenkommen erwarten.
Offenbar ist man in Freiburg, der „Hauptstadt der Profi-Neue-Musik-Ensembles“ wie Patrick es ausgedrückt hat, auch schon so gesättigt, wie sonst nur die Beamten-Musiker in den klassischen Musikstädten mit seinen Orchestern von Weltrang? Vielleicht finden die „modernen“ Freiburger sounding D auch einfach nur öde…