Überkommene Strategien der Neuen Musik, Teil 5 (letzter Teil): Selbstverständnis

Kunst braucht niemand, aber ohne Kunst ist das Leben sinnlos. Wie Frederick die Maus haben sich Künstler daher zu allen Epochen Strategien angeeignet, die ihrem Wirken eine gewisse Anbindung an gesellschaftliche Strukturen und Strömungen ermöglichte. Damit gelang es ihnen ihre Ideen und Kunstwerke überlebensfähig zu machen.
In der Geschichte der Musik gab es zahllose solcher Strategien. So waren die frühen Polyphoniker eng an die Liturgie und die kirchliche Gesangstradition angebunden, denn nur diese Bindung an eine mächtige und dauerhafte Institution konnte ein Überleben ihrer Kunst in gesellschaftlich unsteten Zeiten sichern, ebenso wie das Wissen Europas die Klöster brauchte, um Seuchen und Kriege zu überleben. Später wurde dagegen eine Anbindung der Musik an den Adel immer wichtiger, um die Synergien konkurrierender Fürstenhäuser zu nützen (die das Wirken von Künstlern brauchten, um sich zu schmücken und zu profilieren).
Jede Zeit braucht neue Strategien, und was einmal gewinnbringend und richtig war, muss es 100 Jahre später nicht sein.
In der folgenden Artikelserie untersuche ich daher 5 Strategien der Neuen Musik, die vor 100 Jahren absolut richtig waren, heute aber nicht mehr funktionieren. Dennoch entschließen sich nach wie vor viele, die alten Strategien weiter zu befolgen, was kurzsichtig ist. Ein Umdenken ist notwendig.

Selbstverständnis

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Zu allen Epochen der Musikgeschichte hatten Musiker und Komponisten ein bestimmtes „Image“ und wurden auf eine bestimmte Weise und meistens klar definierte Weise wahrgenommen. Fahrende Sänger waren wichtiger Teil der mittelalterlichen Kommunikationslinien, Hofkomponisten erfüllten repräsentative Funktionen und erhielten ihren Status durch die ihnen zugeordneten Fürstenhäuser, Kirchenkomponisten waren Teil der kirchlichen Repräsentation und prägten die Liturgie.
Erst im 19. Jahrhundert erfolgt der Schritt von der Wahrnehmung der Künstler als vornehmlich „Dienstleister“ zu einer Wahrnehmung als außerhalb der Gesellschaft stehende Visionäre. Fast alle Klischees, die bis heute die Vorstellung vom „Komponistengenie“ prägen, stammen aus dieser Zeit, wobei dann auch frühere Komponisten plötzlich anders wahrgenommen wurden als zuvor, bestes Beispiel hierfür ist Johann Sebastian Bach.

In zeitgenössischen Berichten des 19. Jahrhunderts nimmt spürbar die Ehrfurcht vor den „Meistern“ zu, wobei man ihnen mit einer Mischung aus Bewunderung aber auch Misstrauen für deren Andersartigkeit begegnet. Diese neuen Genies sind stets dem Wahnsinn nahe, ihre Haare sind zerzaust oder sie sind Projektion unterdrückter sexueller Sehnsüchte wie Paganini oder Liszt. Auf jeden Fall sind sie nicht ganz „von dieser Welt“, mit einem Bein im Jenseits („früh vollendet“), heilig naiv (Bruckner, Schubert), manisch arbeitend (Beethoven) oder bilderstürmend und kontrovers (Wagner). Nur eines sind sie nie: normal. Das „Verrückte“ wird zum wichtigen Merkmal eines Komponisten, und selbst die halbwegs Normalen pflegen zumindest ein gewisses Dandytum oder eine gewisse Exzentrik.

Nach den Katastrophen des ersten und zweiten Weltkriegs entsteht ein verändertes Selbstbild der Neuen Musik, das stark von den Strömungen der Zeit geprägt ist. Da die Neue Musik die Zeiten der Zensur und Vernichtung in Akademien überlebt hat, gerieren sich Komponisten zunehmend als Forscher und intellektuelle Schwergewichte. Man will keineswegs als verrückt wahrgenommen und behandelt werden, weil dies die „Wissenschaftlichkeit“ des eigenen Ansatzes in Frage stellen würde. Daher wirkt in dieser Zeit jemand wie Hans Werner Henze – der aus seiner Italianità heraus eher das Image des fürstlichen „Maestros“ pflegt und stets das teuerste Hotel vor Ort wählt – schon wie ein Anachronismus. Sein künstlerischer Gegenpol in dieser Zeit – Helmut Lachenmann – gibt sich dagegen zum Beispiel protestantisch nüchtern, sicherlich auch eine erfolgreiche Strategie um seine grenzüberschreitende Musik den biedereren und experimentierunfreudigen Instrumentalisten seiner Zeit zu „vermitteln“.

Stockhausen gelingt es erstaunlicherweise, ein gewisses Sektierertum und große Exzentrik am (man möge mir verzeihen) Rande des Bekloppten mit einem fast schon bodenständigen rheinischen Gemüt und großem handwerklichen Können zu verbinden, aber er ist ein Sonderfall, der keine direkten Nachahmer erzeugte.

Spätestens in den 80er Jahren ist aber der typische Komponist (zu diesem Zeitpunkt noch fast ausschließlich männlich) eher unauffällig oder durchschnittlich gekleidet, trägt vielleicht Birkenstockschuhe, Rollkragenpullover oder Sandalen, und ist das, was man im Jargon von heute als einen „Nerd“ bezeichnen würde, also eine Art Inselbegabung mit intellektuellen Ambitionen.

Um sich vom „klassischen“ Musikbetrieb abzugrenzen, setzen sich bestimmte Regeln der Selbstdarstellung Neuer Musik durch, die bis heute den Betrieb prägen. Hierzu gehört einerseits eine eher unauffällige Bühnenattitüde (man will sich nicht zwischen Werk und Zuhörer stellen mit aufdringlichen Outfits) und das weit verbreitete “schwarze Hemd” als dominanter Dresscode der Neue-Musik-Ensembles, wie auch ein insgesamt “seriöses” Gebaren, als self fulfilling prophecy des Begriffs “Ernste Musik”. Zur Schau gestellte Leidenschaftlichkeit oder Emotionalität sind verpönt – am liebsten sieht sich der Komponist am Mischpult einer elektronischen Aufführung wirkend, mit neutralem und möglichst cool konzentriertem Gesichtsausdruck die Regler hin-und herziehend. Heute ist es das allgegenwärtige Macbook, das diese Rolle übernommen hat und auch als eine Art Schutz vor Blicken fungiert: denn wer auf einen Bildschirm starrt, ist quasi nicht existent, von einer anderen Welt aufgesogen, die dem Betrachter nicht bekannt ist. Diese Attitüde kommt den zunehmend autistischen Selbstdarstellungstendenzen der Neuen Musik sehr entgegen, die inzwischen genauso wie der Rest der Welt wie ein Kaninchen vor der Schlange der sozialen Netzwerke agiert, aufgesogen in einem Handybildschirm wie die Kompositionsstudenten von heute.

Plakate für Neue Musik-Veranstaltungen heutzutage sind entweder nüchtern schmucklos oder zutiefst verrätselt, der Insiderjargon spielt bei der Benennung von musikalischen Aufführungsgelegenheiten eine große Rolle. Stets werden bestimmte Topoi bemüht, die seit der Avantgarde zum Standardrepertoire gehören: Experiment, Grenzüberschreitung, Klänge sind “ausgefranst” oder “brüchig”, Titel haben vorne und hinten drei Punkte und suggerieren Nachsinnen und Tiefe, das Fragment oder das Verrätselte werden bevorzugt.

All dies kann aber über eine neue Entwicklung nicht hinwegtäuschen, die der vormals akademisch abgesicherten “Neuen Musik” eine klare Erkennbarkeit und Verortung ermöglichte: Begriffe wie “Avantgarde” oder “Neue Musik” (mit großem “N”) haben ausgedient, sind ohne Schlagkraft, und werden noch nicht einmal von Szeneangehörigen mehr verwendet, aber niemand weiß eigentlich genau, wie man die neue Kunstmusik von heute eigentlich nennen soll und wo sie denn nun stattfindet.

Zu allem Übel funktioniert noch nicht einmal mehr die vormals stabile Anbindung an den Sammelbegriff “klassische” Musik – spätestens seit die sogenannte “Neoklassik” mit harmlosem Geklimper diese Rolle übernommen hat und traurigerweise von vielen Menschen als legitime Fortsetzung von Schostakowitsch und Mahler begriffen wird (selbst wenn die Musik der Neoklassiker im Vergleich dazu so viel leidenschaftliches Potential wie eine Schlaftablette hat) funktioniert es nicht mehr, wenn man heute sagt “ich schreibe zeitgenössische klassische Musik”.

Selbst die interessantesten musikalischen Entwicklungen der Jetztzeit (zum Beispiel die florierende Ensembleszene oder die zahlreichen Komponistenkollektive) finden in einem seltsam undefinierten Raum statt. Es ist nicht mehr “Neue Musik” im Sinne von Adorno, die hier geboten wird, dennoch ist man weiterhin abhängig von Fördergeldern und akademischer Ausbildung, ebenso von den Auftritten auf den gängigen Insiderfestivals, die einen als neuen Trend vereinnahmen, ohne dass der Funke zu einem fachfremden Publikum je überspringen kann, denn für den regulären Konzertbetrieb ist diese Musik nur selten vermittelbar.

Für alle zeitgenössischen Künstler – und dies trifft auf alle Künste zu – ist es zunehmend schwieriger geworden, eine Notwendigkeit ihres Wirkens zu definieren. Durch die flächendeckende mediale Versorgung ist ein unübersichtliches Überangebot entstanden, Zuhörer, Zuschauer, Leser und Betrachter sind zunehmend Filterblasennomaden, die als “Consumer” aus einem von einem ihrer “Providern” für sie vorsortierten Angebot auswählen. Da die Sehnsucht nach jeder beliebigen Musikstimmung, nach jedem beliebigen Genre jederzeit erfüllt werden kann, vielleicht sogar auf Zuruf durch “Alexa”, hat es jede Kunst schwer, die nicht exakt in ein “Genre” fällt, wobei aber genau diese Art von Kunst historisch immer diejenige war, die Veränderung bewirkte (hätten sich Beethoven oder Wagner immer exakt an die Konventionen und Genres ihrer Zeit gehalten – was sie durchaus auch mal versuchten – würde man sie heute nicht mehr kennen).

Und genau deswegen funktioniert auch “Neoklassik” – der Hörer bestellt eine Art unaufdringlicher Hintergrundmusik und bekommt auch genau das, die “Neue zeitgenössische klassische Musik” dagegen hat niemand bestellt, daher wird sie auch nirgendwo abgeholt.

In einer Zeit, in der selbst “Crossover” – also die Grenzüberschreitung an sich – auch schon nur ein Genre unter vielen ist, hat tatsächlich das gute alte Konzept der Avantgarde ausgedient, denn selbst die Entgrenzung ist kommerziell okkupiert, auch die nichtkommerzielle Attitüde („Independent Music“) ist inzwischen eine Verkaufs-und Überlebensstrategie, die sich an ein eigens erzeugtes Insiderpublikum richtet.

Eine der Herausforderungen der neuen Musik von heute ist also, mit dieser Verortungslosigkeit kreativ umzugehen und ein “außerordentliches” Territorium zu behaupten, ein atopisches Territorium also, dass sich bewusst jeder Art von Definition verweigert und den Freiraum zwischen den Schubladen nutzt, ohne gleich wieder neue Schubladen aufzumachen.

Diese “atopische” Musik kann nur von Mechanismen getragen werden, die außerhalb der bisherigen Bewertungskriterien von Kunstmusik funktionieren. Sie kann sich nicht mehr auf Feuilletonkritiken oder die Bewunderung der Akademiker und Insider verlassen, gleichzeitig aber auch nicht auf die Regeln der kommerziellen Musik, die allein Downloadraten und Klickstatistiken berücksichtigt, und sich daher naturgemäß auf einem niedrigsten gemeinsamen Nenner einpendelt. Die Chance dieser Musik liegt in der bedingungslosen Leidenschaftlichkeit und Begeisterungsfähigkeit der Musik selber, die sich Spielern wie Hörern direkt vermitteln sollte, ohne dass hierfür besondere Genrecodes oder -konventionen begriffen werden müssen. Diese neue Musik muss also gleichzeitig so außerordentlich sein, dass kein Genrebegriff sie zähmt, gleichzeitig aber auch so deutlich, dass jedermann sie begreifen kann.

Eine schwierige, aber keineswegs unmögliche Aufgabe, deren Lösung eine neue erfolgreiche Strategie für die zeitgenössische Kunstmusik bedeuten könnte.

Und vielleicht hängt das Überleben dieser Musik sogar davon ab, dass eine solche Strategie gefunden werden kann.

Moritz Eggert

Alle Teile:

Teil 1 Akademische Anbindung
Teil 2 Komplexe Partiturbilder
Teil 3 Algorithmen
Teil 4 Elitäres Denken
Teil 5 Selbstverständnis

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Eine Antwort

  1. Was Sie genau sagen wollen, habe ich nicht ganz verstanden. Ihr Bericht kommt mir etwas chaotisch vor.

    Nur eines kann ich dazu sagen. Komponisten, sagt einfach dass ihr »zeitgenössische klassische Musik« schreibt. Das wollt ihr vielleicht nicht, da sonst Laien etwas Einaudi-artiges erwarten. Aber vergisst nicht das solche Musik auch von abenteuerlichen Hörern aus der Pop-Ecke gehört wird. Die können so eine ganz neue Musikwelt entdecken, und bestimmte werden bleiben.

    Wenn ihr euch als Nachfolger der »klassischen« Tradition versteht, dann müsst ihr Begriffe wie »Neoklassik« einfach fordern! Was dabei sonst das richtige Imago ist, weiß ich nicht. Das ist eigentlich auch egal. Authentizität ist für Komponisten, die nur das schreiben was sie möchten, lebenswichtig. Man soll sich einfach kleiden, verhalten und zeigen wie es einem passt.