Auf der Suche nach der Melodie – Lachenmann in der musica viva

Helmut Lachenmann am Cello eines BRSO-Cellisten; © 2018 Astrid Ackermann

Mit dem Orchesterkonzert am 7.6.18 begann für die Münchener BR-Konzertreihe musica viva eine Abfolge von Konzerten, die sich ausschließlich einem Komponisten widmen: in der Saison 2018/2019 werden das Abende mit Peter Ruzicka, Beat Furrer, Enno Poppe und Peter Eötvös sein. Dieser dirigierte jetzt das allein Helmut Lachenmann gewidmete Konzert. Parallel läuft in München die Opernbiennale, die die Reihe Klangspuren von Henzes Beginn an bis zum Ende der Ära Ruzicka pflegte, wo Komponisten Vorbilder, Mentoren und sich selbst an einem Abend in Bezug setzten. So fragt man sich angesichts der selbst in München nicht selten aufgeführten o.g. Herren, ob diese nicht je mit einer Schülerin oder einem wichtigen Vorbild hätten ergänzt werden können. Wie schön solch eine Ballung von Werken nur eines Autoren in einem Konzert sein mag, so mutvoll wäre eine Öffnung.

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Neben den bekannten musica-viva-Namen Spahlinger, Nico Richter de Vroe, Zimmermann, ja Webern und Boulez, sind Adams, Turnage und Birtwistle „Fremdkörper“ im mit der Ernst von Siemens Musikstiftung koproduzierten Räsonanzkonzert, was daher nicht wirklich als eigenständig gemachte Öffnung erscheint, erklingt als einziges Novum ein Werk von Miroslav Srnka, der wiederum auch als Staatsopernkomponist mehr als abgesichert erscheint, um von neuartig, unerwartet, mutvoll und entdeckungsfreudig in Bezug auf das Kuratieren der musica-viva reden zu können.

Das Konzert begann mit dem Solopianisten Pierre-Laurent Aimard als Interpreten der „Serynade“ aus den Jahren 1997/98. Im großen Herkulessaal musste der Flügel mit seinen exzessiv eingesetzten Resonanzklängen und Flageoletts elektronisch verstärkt werden, was man spätestens an einer sehr lauten Stelle aural erfuhr, als es eine deutlich hörbare Rückkopplung gab. Eine unnötige und überflüssige geistige Rückkopplung ergab sich, als ab 20:30 Uhr deutlich das Backstage erfolgende Geigenstimmen des Sinfonieorchesters des BR zu hören war. Mag der Herkulessaal hinter der Bühne noch so eng sein, mag das BRSO eine Wunderharfe sein – non tolerabile est!

Serynade selbst hörte man weniger als Serenade für Yukiko Sugawara, daher das Y im Titel. Man dachte eher an eine langsame Einleitung des Präludiums einer französischen Suite unter dem Brennglas Lachenmanns. Die mächtigen, gut ausgehörten Cluster zu Beginn und virtuosen linearen, fetzenartigen Einwürfe ließen zudem an eine Art klavierauszuartige Re-Komposition der orchestralen Erweiterungen der Notations von Pierre Boulez denken. Natürlich wurde das durch die Resonanzen der stumm niedergedückten und mit dem Haltepedal gehaltenen ätherischen Klänge und Flageoletts im Korpus des Klaviers durchbrochen. Aber es verwob sich doch zu einem Ganzen, so dass es sich um ein Präludieren lachenmannscher Natur über Exzerpte aus dem realbook hätte handeln können.

Das verlangte hohe Konzentration: ab Minute 32 schien das Publikum etwas unruhig zu werden. Erst nach der Basstremolostelle und folgenden Ätherizismen, als ob eine Oboe über Stuttgart erscheinen würde, wurde man irgendwie belohnt und versöhnt. Zurecht fragte mancher später in der Pause, ob man genauso versöhnungsvoll seine Wahrnehmung auf das Werk ausgerichtet hätte, wenn nicht Helmut Lachenmann deutlich als Schöpfer angegeben gewesen wäre.

So sehr er hier sich die Tonhöhen zurückerobert, so krisenhaft wirkt dann auch sein Umgang damit: es fehlt der Mut zum Ausbruch aus dem Material, allein über Crescendodramaturgie wird das Material höchst altbacken verdichtet. Es fehlt aber auch der Mut zur killamyerisch-kiesewettrigen Reduktion auf das Wesentliche, was das manchmal unmotivierte Vagieren der Klänge, weit von Schönbergs Vagieren in dessen harmonielehre entfernt, in jene Unerbitterlichkeit transformiert hätte, wie sie der junge und mittelalte Lachenmann so wunderbar pflegte.

Helmut Lachenmann am Cello eines BRSO-Cellisten; © 2018 Astrid Ackermann

Es folgte die Marche fatale. Was soll man dazu sagen? Es ist ein Marsch in Es-Dur. Es wurden im Vorfeld Gustav Mahlers und Alban Bergs Märsche und ihre Kritik an den sozialen und historischen Situationen ihrer Entstehungszeit erwähnt, ihre weiterhin bestehende Gültigkeit für unsere Jetztzeit. Mancher dachte vielleicht an den Marsch der Enthirnung von B. A. Zimmermann. Doch bei allen Zitaten und Allusionen und sehrend geteilten Celli, kleinen und großen Übertreibungen, Momenten einer sich verspielenden Kapelle war und blieb es eines: ein Marsch in Es-Dur, dessen Tam-Tam-Ende nicht einmal von „schlimmen Zeiten“ kündete. Man kann das im Kanon von Marschnormalität im Sinne der tonalen Musik als Brechungen erleben. Man kann aber genau dies auch als virtuose Synthetisierungen verstehen, die sich nur ganz wenigen Musikkennern erschliessen. Kein sozialer und historischer Durchmarsch, keine Gaisburger Marsch. Es blieb eben: nur ein Marsch. Die größte Frage hierbei blieb rein markttechnischer Art, ob durch den Marsch nicht das gesamte Konzert bei der GEMA nach U abgerechnet werden müßte.

Nach der Pause erwartete man gespannt die Uraufführung mit dem wunderschönen Titel „My Melodies“ für acht Hörner und Orchester. Die zwei Hornistinnen und sechs Hornisten des BRSO nahmen um den Dirigenten Eötvös sitzend vorne Platz. Unter der den ganzen Abend schon bemerkenswert präzisen und unprätentiösen Leitung von Peter Eötvös ging es richtig süffig los, so dass man einen verdoppelten Erben von Robert Schumanns Konzertstück für vier Hörner vor Augen und Ohren wähnte.

Offenbarten die beiden vorangehenden Werke des Abends Lachenmanns Krise mit der Rückkehr zu hauptsächlich tonhöhengebundener Musik, die ihn in der Serynade als Abenteuergeschichtenerzähler des Moments, aber als gefährdet von der Großform zeigten, man ihn im Marsch als soliden Anspielungskünstler und gekonnten Orchestrator, aber weit halbherziger im Durchbrechen der Formvorlage Marsch erlebte, wie es sonst Ravel mit dem Walzer oder Mahler und Berg dem Marsch oder Berio mit Mahlers Scherzo aus dessen Zweiter Symphonie oder B.A. Zimmermann mit gesamten Musikgeschichte in der Ubu-Musik vollbrachten, so amalgamierte er in My Melodies seine musique concrète instrumentale mit seinem Tonhöhen-Retro.

Wie in seinem frühen Notturno für kleines Orchester mit Violoncello-Solo aus den Jahren 1966/68, wo er aus einem Zwölftonespressivo dieses in durchlöcherte Geräuschexpression überführte, suchte er nach der Tonhöhendramatik des Beginns das Melos des tonlosen Atems. Wunderbar erlebte man dies, als die Trompetensektion die Grundresonanz ihres Instruments durch doch mit ganz leisen, erkennbaren Tönen gemischten Blaselauten und durch die Griffe gegebenen Luftsäulenveränderungen als Singendes hervorbrachten, genauso die Solohörner sowie die Klarinetten. In Sologeige und Soloviola kehrte das Werk zu Tonhöhenblöcken zurück.

Gegen Ende nahm jeder sein Instrument vom Mund oder Hals und atmete instrumentenlos das Stück zu Ende, das mit einem Einatmen endete. Was es leider nicht wurde: eine großartige Auseinandersetzung mit seinem Titel. Fazit ziehend müsste man es in Mein Melos umbenennen. Denn weiträumige Klang- oder Melodielinien erlebte man nicht. Nach fünf Sekunden Ausatmen war meist Schluss mit dem Fortspinnen des Gesungenen.

Ob dies nun aus den Lufttrompeten oder dem Bratschenespressivo herausentwickelt wäre, ist nach der Traute zum selbst bereits wieder Tonalen in der Marche fatale Lachenmanns eigentlich fast egal, ja, es wäre ein unglaublicher Kontrapunkt eines gehauchten Dux und volltönenden Comes möglich gewesen, um in alter Fugentheorie zu fantasieren. Doch nicht das Durchbrechen, nur das Zerbrechen scheint Lachenmann selbst nach dem Zurücklassen seiner Dogmen möglich. Somit wurde es eine Quersumme des eigenen Schaffens, aber kein Blick in die Zukunft neuen Singens und Klingens. Und ob die hervorragend aufspielenden Hörner beim Dirigenten oder doch am angestammten Platz im Orchester gesessen wären, wurde auch nicht beantwortet.

Erzeugen die Sechsteltonflügel von Georg Friedrich Haas‘ limited approximations formale und klangliche Konsequenzen, waren hier acht Hörner eben schlichtweg mehr als vier. Einmal gab es einen unglaublichen vollen achtstimmigen Akkord. Darüber hätten sich geräuschliche oder tonhöhenproduzierende Streicher tschaikowskyartig in Blühfreude bringen können. Doch das durfte nicht sein. So heißt es weiter warten auf Helmut, Annette, Georg, Matthias, Olga, Walter, Iris oder Wolfgang.

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