„Wenn Helmut das darf…“ – was der „Marche Fatale“ von Lachenmann uns eigentlich sagen will

Vor ein paar Tagen schrieb mir ein Freund eine kurze Mail mit dem einzigen Inhalt „Mein Leben ist sinnlos geworden“, darunter ein Link zu einem Video mit dem neuesten Stück des großen Doyens der Neuen Musik, Helmut Lachenmann.

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Natürlich handelte es sich um das momentan viel diskutierte Stück der Neuen Musik, den „Marche Fatale“, den Lachenmann gerade zum 425. Jubiläum des Staatsorchesters Stuttgart schrieb, und der für großes Aufsehen sorgt, da er so gar nicht dem entspricht, was man bisher von der Speerspitze der Avantgarde kannte.

Hat das wirklich unser Helmut geschrieben? Ein Marsch in Es-Dur (nach den Worten des Meisters „so wie es sich gehört“), milde postmodern mit kleinen Rückungen, Verrücktheiten, kleinen Ausrutschern in andere Tonalitäten, jedoch letztlich weder durch besondere Radikalität oder ein provokantes „Konzept“ auffallend? Im Grunde ein gut geschriebenes Showstück mit kleinen Doppelbödigkeiten?

Das verwirrt auch Rafael Rennicke auf der Website des Staatsorchesters, der sich virtuos in typische Neue-Musik-Prosa rettet, um dem Ganzen irgendeine tiefe Hintergründigkeit abzuringen.
Da wird man von dieser Marschmusik zu einer „neuen veränderten Wahrnehmung des Vertrauten“ gebracht (was eines der Klischees der Neuen Musik zitiert, nämlich das, den Hörer immerfort zu irgendetwas Besserem zu erziehen). Nach Rennickes Worten wird die Marschmelodie „…von Gegenstimmen durchkreuzt, von rhythmischen Widerhaken zersetzt und von »bewegungslosen« Generalpausen sabotiert…“, was in normale-Sterblichen-Sprache übersetzt einfach so viel heißt, dass die Banalität des Marsches ab und zu auch Mal ins Schräge abdriftet.

Wer sich jetzt unter den „rhythmischen Widerhaken“ irgendwelche sensationellen Lachenmannschen Grenzüberschreitungen vorstellt, wird aber definitiv enttäuscht sein, denn letztlich schert Lachenmann nur mittels milder und – von einer sehr interessanten harmonisch sich totlaufenden „Dreh“-Passage gegen Ende abgesehen – durchaus vertrauter orchestralen Mittel aus dem Gewohnten aus. Über weite Strecken klingt das Werk sogar so, als ob es auch von Mahler oder Ives sein könnte, hätten sie sich einer solchen Marschmelodie angenommen. Was auch verwirrt: Das Stück ist eine Orchestration eines schon existierenden Klavierstückes. Das bedeutet einerseits, dass es Lachenmann wichtig genug war, sich dieser Musik noch einmal zu widmen und sie zu „vergrößern“. Andererseits greift er hier auch auf sehr traditionelle (19. Jahrhundert!) Kompositionstechniken zurück, die bisher in seiner Musik keine Rolle spielten: die klangliche Ausarbeitung einer Klaviervorlage.

Als ich meine Studenten nach dem Vorspielen des Stückes fragte, wie sie prozentual die „Verrücktheiten“ zum „Konventionellen“ in diesem Stück betrachten würden, kam ein Prozentsatz von ungefähr 80/20 heraus, manch einer meinte sogar 90/10.

Überwiegt also das Konventionelle? Ist es deswegen ein uninteressantes Stück? Keineswegs – in jedem Moment merkt man die Meisterschaft Lachenmanns heraus, einem Komponisten, der sich immer ganz besonders dadurch auszeichnete, dass er selbst am Rande der Klangerzeugung und an den äußersten Grenzen einer „Nichtmusik“ stets auch hochmusikalisch agiert. Man nimmt Lachenmann in jedem Moment ab, dass er ein hervorragender Musiker ist, etwas, was man bei uninteressanteren Klangergüssen oft sehr schmerzlich vermisst. Das Stück ist unterhaltsam, abwechslungsreich, ein richtiger „Orchesterrausschmeißer“, der sogar bei einem Neue-Musik-feindlichen Publikum großen Applaus ernten könnte. Dennoch bleibt am Ende das starke Gefühl, dass noch mehr als das Stück selber vor allem interessant ist, wer das Stück geschrieben hat. Hätte es ein anderer als Lachenmann komponiert – zum Beispiel ein Vertreter einer weniger radikal sich gerierenden Moderne – hätte wahrscheinlich niemand mit der Wimper gezuckt.

Tatsächlich HAT sogar ein Vertreter dieser Richtung ein solches Stück geschrieben, nämlich der große und oft unterschätzte Günter Bialas, in seiner „Marsch-Fantasie“ von 1988 (ebenfalls für Orchester). Wer dieses Stück kennt (von dem leider keine Aufnahme im Internet zu finden ist), weiß, dass es sich um einen ziemlich genialen Kracher handelt, auf jeden Fall bissiger, krasser und böser als Lachenmanns Stück, handwerklich auch auf absolut demselben Niveau. Auch dies war schon das Stück eines Altmeisters, der sich nur noch um wenig schert, was auch bei Lachenmann so sympathisch ist.

Nein, gerade weil ein Lachenmann dieses Stück geschrieben hat, ist es so interessant. Denn in gewisser Weise ist das Interessante am „Marche Fatale“ die Provokation Lachenmanns eigener und übereifrigen Jünger. Hiermit folgt Lachenmann durchaus biblischem Vorbild, ist doch auch im Neuen Testament stets zu lesen, wie Jesus seine Jünger durch Handlungen verwirrt, die gegen ihr Verständnis von dem gehen, was „richtig“ ist. Und ihnen damit neue Weisheiten vermittelt. Und natürlich ist hier das Stichwort „Tonalität“ der „Elefant im Raum“, wie es so schön im Englischen heißt.

Lachenmann hat auch schon in der Vergangenheit Tonalitätsanklänge in seiner Musik gehabt, meist in zitathaften oder extrem verfremdeten Momenten, nie aber affirmativ sich darin suhlend und vor allem aber nie „zum Spaß“. Dass sich nun der Meister selber einen solchen selber erlaubt (auch wenn er sich bescheiden in seinem übrigens sehr schönen Text zum Stück nicht in die Reihe der großen musikalischen Späße wie den Beethovenschen „Bagatellen“ einreihen will), ist für viele nicht nur verwirrend, sondern richtiggehend niederschmetternd.

Man stelle sich vor man lebt als Nonne jahrzehntelang in einem Kloster, in dem strengstes Zölibat herrscht, und dann eröffnet einem die Mutter Oberin, dass sie es nun vollkommen unproblematisch findet, einen Swinger-Club aufzumachen. Ungefähr so muss es sich für strenge Lachenmann-Jünger anhören, wenn ihr Prophet sich nun einen kleinen musikalischen Scherz in Es-Dur erlaubt. Es ist der ultimative Affront, die komplette Verneinung einer Philosophie, die vorher auch immer wieder dogmatisch ausgelegt wurde. War es nicht Lachenmann, der einmal Henze zu viel „Banalität“ vorwarf? Und nun beschäftigt er sich selber damit?

Die letzten Sätze des eigenen Stücktextes von Lachenmann sind besonders bemerkenswert:

„Meine alte Forderung an mich und meine musikschaffende Umgebung, eine »Nicht-Musik« zu schreiben, von wo aus der vertraute Musikbegriff sich neu und immer wieder anders bestimmt, so dass der Konzertsaal statt zur Zuflucht in trügerische Geborgenheiten zum Ort von geist-öffnenden Abenteuern wird, ist hier – vielleicht? – auf verräterische Weise »entgleist«. Wie konnte das passieren?
Der Rest ist – Denken.“

Lachenmann ist sich also dieses Affronts durchaus bewusst. Und gerade dies scheint ihn besonders gereizt zu haben. Und er stellt die entscheidende Frage „Wie konnte das passieren?“, die ich zusammen mit dem Schlusssatz als Aufforderung verstehe. Denn noch nie war die „traditionelle Avantgarde“ mehr an einem Punkt, wo ein neues Denken beginnen müsste. Die Tonalität in Lachenmanns Stück ist hierbei nur Mittel der Provokation, aber nicht deren Sinninhalt. Es würde uns keine neuen Impulse geben, in eine scheinbare zurückgewonnene Unschuld der Durklänge zurückzukehren. Aber es gibt uns – und das ist das Entscheidende – auch keinerlei Impulse, wenn das Errungene Neuer Klanglandschaften zum Status Quo wird und in seiner eigenen Negation auf der Stelle tritt. Dies hat Lachenmann erkannt, und darauf will er hinweisen. Der Rest ist nicht Schweigen, sondern größere Freiheit.

Mit seinem Stück kehrt er also viel mehr als es scheint zu seinen Wurzeln zurück, in denen er als junger „Revoluzzer“ spießige Musiker und Hörer schockte. Nun ist mit Kratzen und Kruschteln allein heute kein neuer Erkenntnisgewinn mehr zu holen, daher muss man das machen, was der Denkfaulheit einen kleinen aber nicht unbedeutenden Stachel setzt.

Der fatale Marsch ist also eine Aufforderung zum Denken – und das beginnt meistens dann, wenn das stumpfe Marschieren aufhört.

Moritz Eggert

PS: Und für alle, die sich jetzt endlich auch Mal trauen wollen, sich einen musikalischen Spaß zu erlauben, ohne dass gleich der Rachegeist von Adorno als Nazgul herbeischwebt, hier ein kleines Internet-Mem, mit freundlicher Erlaubnis zur Verbreitung, Dank an R.J.

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2 Antworten

  1. Freiheit & Verwunderung

    Ich bin über diese Vorgänge im Musikbetrieb immer etwas verwundert (-> Mem). Die Musik ist frei. Sie war schon immer frei. Jeder darf dort alles. Es gibt dort keine Gesetzte wie in der Physik oder anderen Bereichen, die wesentlich einschränkender sind als die Gesetze der Kunst.

    Wenn etwas so frei ist wie die Kunst, warum braucht man dann ein „wenn der und der das darf, dann darf ich das auch“? Äußerst unlogisch. Da geht es wohl mehr um Personalien als um die Kunst. Und das lehne ich ab. So soll es um die Kunst gehen und nicht um die Wichtigkeit einer Person. Naiv? Ein wenig Realitätsfern? Vielleicht. Ist mir egal, ich bin da konsequent. Auf meinem letzten CD-Cover ist deshalb bewusst NICHT mein Name. Es soll einzig und allein um die Musik gehen.

    Ich wünsche mir, dass niemand durch irgendwas eingeengt ist. Weder durch Tonalität, wovon man sich angeblich befreien musste, noch durch Personen, die angeblich irgendwas dürfen was andere angeblich nicht dürfen. Noch durch Regeln, die dann doch irgendwie in der sog. Neuen Musik herrschen und so weiter und so fort.

    In der Musik muss man sich nicht frei machen, man IST per se frei. Alles andere ist Hirnwichse, die niemandem etwas bringt. Ich würde sagen: macht Euch nicht frei, denn Ihr ward schon immer frei!

    MG*

    Markus

    *Musikalische Grüße

  2. @Moritz: Als ich Musik & Titel erstmaiig wahrnahm, fiel mir sofort ein, dass uns Lachenmann auf diese Weise vermutlich vor dem Kulturbegriff der AfD warnen möchte. So gesehen wäre er sich durchaus treu geblieben: ein ewiger Warner & Mahner der Kunstmusik, der vor allem um das „richtige Bewusstsein“ seiner HörerInnen ringt. Es ging und geht im dabei offenbar nicht in erster Linie um irgendeine Stilistik, sondern um Gehalte (vgl. Harry Lehmanns Begriff „Gehaltsästhetik“). In diesem Sinne ist „Marche fatale“ ein schönes Beispiel gehaltsästhetischen Komponierens: Die Ästhetik folgt dem Anliegen und nicht umgekehrt.

    Nicht, dass mich diese Musik irgendwie vom Stuhl reißen würde, aber ihre Präsentation im Kontext „Neuer Musik“ ist dann doch ein cooler Move und wirkt somit der allgegenwärtigen Entropie in dieser Kunstrichtung auf erfrischende Weise entgegen.