Amerikanisches Tagebuch. 3. Tag

Jake Bellisimo

Diesen Sommer verbrachte ich im August 2 Wochen in den USA, diesem seltsamen Land der Widersprüche, Abgründe und dennoch immer wieder auch Hoffnung. Der Grund: Musik. Ich besuchte sowohl die Musikfestivals in Tanglewood als auch in Staunton, Virginia, nur eine halbe Stunde von Charlottesville entfernt. Diese Aufzeichnungen sind eine Fortsetzung meines Komponistentagebuchs, Tag für Tag aufgezeichnet, nun schon in der Vergangenheit, aber nicht sehr weit entfernt von der Gegenwart.

Tag 2

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Bühnenarbeiter

Wenige wissen, dass die mächtigste Lobby im Klassikbetrieb von den Bühnenarbeitern gestellt wird. So auch in Tanglewood – bei meiner Probe am Vortag für Streichquartett und Schlagzeuger mit Kleinstpercussion waren exakt 7 Bühnenarbeiter anwesend – also mehr als Musiker! Diese Mehrheitsmacht wird auch gerne ausgenutzt – so ist es den Musikern nicht etwa erlaubt, ihre Notenständer selber einzurichten, nein, für jeden Notenständer gibt es eine Fachkraft, deren kompletter Lebensinhalt darin besteht, diesen zum richtigen Zeitpunkt an die richtige Stelle zu stellen. Bühnenarbeiter haben eine starke Gewerkschaft, werden gut bezahlt und verdienen meistens mehr als die Musiker auf der Bühne (dieses unglaubliche Faktum wurde mir mehrmals von amerikanischen Kollegen bestätigt). Nach einem Musikhochschulabschluss sollte man sich also tatsächlich überlegen, ob man in den USA nicht lieber Bühnenarbeiter wird – man hat ein geregeltes Einkommen, ist vermutlich unkündbar und kann problemlos eine Familie ernähren, im Gegensatz zu den hungerleidenden Musikern.

Da meine Geigerin den Bus verpasst hatte, fing die Probe 15 Minuten später an – da die Session nur auf eine halbe Stunde ausgelegt war reichten die verbleibenden 15 Minuten gerade Mal dazu aus, um das Stück durchzuspielen. Als ich zaghaft begann, musikalische Anmerkungen zu machen, scharrten die 7 Bühnenarbeiter nervös mit den Füßen, denn die nächste Probe musste pünktlich beginnen. Natürlich hätte man die nächste Probe auch etwas nach hinten verlegen können, aber aus mysteriösen Gründen (Gewerkschaft vermutlich!) ging das nicht, obwohl es 9:15 morgens (!) war, und das nächste Konzert im Saal erst um 20 Uhr begann (!!). Selbst wenn alle Musiker dieses Konzertes jedes ihrer Stücke 5x durchspielen und zudem noch proben gewollt hätten, es wäre immer noch genug Zeit gewesen, um etwas an meinem Stück zu arbeiten, außer man wollte noch zwischendrin eine Wagneroper auf der Bühne aufführen. Aber nein – Ordnung muss sein.

Musiker und ich (ohne Bühnenarbeiter)

Breaking Mass.

Am Nachmittag treffe ich meinen amerikanischen Studenten Jake Bellissimo, der einen kleinen Konzerttrip mit einem Besuch in Tanglewood verbinden kann. Er war noch nie hier und staunt über das riesige Areal. Natürlich unterhalten wir uns über Trump, Korea und vieles andere. Ich erzähle ihm von den seltsamen heruntergekommenen Häusern, die man immer wieder am Wegrand auf dem Weg von New York durch den endlosen neuenglischen Wald sah, und er erzählt mir zu meinem Erstaunen, dass Massachusetts seit einiger Zeit ein großes Heroinproblem hat. Heroin – in dieser beschaulichen Gegend voller süßer kleiner Städtchen, hier, wo die amerikanische Welt noch in Ordnung ist? Doch, doch, meint er – die Heroinproduktion in den USA hätte sich weitestgehend nach Neuengland zurückgezogen, denn hier kann man in großer Abgeschiedenheit irgendwo im Wald sein Drogensüppchen kochen, ohne dass ständig jemand vorbeischaut. Das macht natürlich Sinn. Wer wohl der neuenglische „Heisenberg“ der Drogenszene ist? Ich werde es wohl nie erfahren…

 

Jake Bellissimo und sein Tourneevehikel

Altersdurchschnitt

Wie schon oben erwähnt handelt es sich bei dem Klassik-wie auch Neue Musik-Publikum in Tanglewood um eines der ältesten, gleichwohl aber auch reizendsten Publiken, die ich je erlebt habe. Tatsächlich herrscht hier eine Herzlichkeit und ein Enthusiasmus, die man in Europa oft vermisst, vor allem bei den typischen „Rentnerfestivals“ wie zum Beispiel Bad Kissingen. Nach meinem Konzert sind wir noch bei einer spontanen „private reception“ eingeladen. Unsere Gastgeber – ein älteres Pärchen aus Boston – trifft sich jedes Jahr mit einer großen und netten Runde von Freunden um absolut alle Konzerte des Neuen Musik-Festivals zu besuchen. Sie haben sich auf dem „Lawn“ Picknickkorb an Picknickkorb kennengelernt, und jetzt sind sie auch privat befreundet, verreisen zusammen, nehmen am Familienleben teil etc. Unsere Gastgeber sind unglaublich sympathisch, großzügig und gebildet. Natürlich sprechen wir über die Demographie des Festivals, ob man sich für die Zukunft Sorgen machen müsse usw. „Ach, das Publikum dieses Jahr war doch so jung wie überhaupt noch nie!“ sagt die Gastgeberin. Aus ihrer Perspektive bin ich geradezu ein Baby, klar. Aber ich bin auch nicht das „Publikum“, sondern quasi Mitwirkender. Auch die anderen jungen Menschen haben sich keineswegs als Zuschauer nach Neuengland verirrt, sondern sind schlicht und einfach Stipendiaten des Festivals, also ebenfalls Mitwirkende.
„All diese jungen Menschen – ist es nicht wunderbar? sagt unsere liebenswürdige Gastgeberin. Ich habe das Gefühl, dass sie vielleicht ein ganz klein wenig zu optimistisch ist.

Hier ein Film, wie es in Tanglewood so aussieht:

Moritz Eggert

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