Aribert Reimanns Lear – die Mutter der Opern ohne Mutter

Aribert Reimann, schattenhaft vor Bar; Foto: Martin Hufner

Es packt mich so, als erklänge diese Musik erstmalig. Ich habe sie schon oft gehört. In anderen Werken Aribert Reimanns, in Aufführungen von Troades oder Bernada Albas Haus, zuletzt Medea. Oder in Aufnahmen. Direkt und leibhaftig höchstselbst diesen Sommer in Salzburg. Den „Lear“. Ohne König im Titel. Denn es geht um die Zeit nach dem „L’état c’est moi“, dem Königsein. Modern gesagt: es dreht sich um die Rente, das Altern, das Verschwinden der eigenen Kinder. Für Monarchen selbst heute noch unvorstellbar: für die englische Queen gilt „weitermachen bis zum Ende“. Eher geht ein als Pensionär Papst Gewordener in Rente. Auch für Komponisten gilt die Formel der Queen. Ganz banal, weil jene Rente finanziell nicht ausreicht. Oder weil Komponieren aller Mühsal zum Trotz weniger belastet als vielmehr befreit. Nicht als Schlussverkauf: Alles muss raus. Sondern: ich muss raus. Im Offenen bleiben.

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Aribert Reimann, schattenhaft vor Bar; Foto: Martin Hufner

So stelle ich es mir auch bei „Lear“ vor. Reimann arbeitete seit den späten Sechzigern daran. Zuerst richtiggehend widerwillig. Die ersten beiden Opern „Ein Traumspiel“ und „Melusine“ sind eher spielerisches Musiktheater bzw. Kammeroper. Der überstrapazierte Begriff „Welttheater“ ist in den beiden Vorgängeropern noch nicht so gewichtig. Wie ein roter Faden im Gesamtwerk nimmt vor allem die Charakterisierung der Protagonisten mit grundlegenden musikalischen Mitteln durch Reduktion auf ein konstituierendes Element den folgenden „Lear“ bis „Medea“ vorweg. Jeder Person ist eine Zwölftonreihe oder sogar nur Teilreihe zugeordnet.

Ziehen Alban Berg in „Lulu“ und B.A. Zimmermann in „Die Soldaten“ aus einer Reihe durch Permutationen das Material jeder Rolle, setzt Reimann v.a. im Gegensatz zu Zimmermann im „Lear“ auf unterschiedliche Fakturen des musikalischen Satzes für die Hauptpersonen. Lear wird durch Riesencluster gekennzeichnet, seine verstoßene Tochter Cordelia mittels ausgeprägter lyrischer Linien, ihre gegen sie und den Vater intrigierenden Schwestern Regan und Goneril durch hysterischen Kontrapunkt, die Männer durch zerrissene Einwürfe und Edgar später als Tom durch Einstimmigkeit. Im Laufe des Stückes wird das durch Reaktion der Personen aufeinander verändert, aufgelöst.

Nachdem Lear sein Land unter Regan und Goneril aufgeteilt hat, die ihm mit ihrer gespielten Liebe zu ihm aufwarteten, er seine Jüngste, Cordelia, die ihn nur „wie eine Tochter“ liebt, verstoßen hat und gegen die Nießbrauchvereinbarung die beiden anderen Töchter dann ihn, den „tollen Greis“, vor die Tür setzen, löst sich Lear aus seiner Clusterwelt. Frisch obdachlos geworden, ist er einem furiosen Orchestersatz ausgeliefert, der so lautmalerisch als möglich einen Orkan beschreibt. Dagegen singt Lear wütend an, in modalen Linien, die die Zwölftonaura durchbrechen. Als er dem von seinem Vater Gloster verbannten Sohn Edgar als Einsiedler Tom begegnet, dessen Melos direkt von nahöstlichen geistlichen Gesangsruf geprägt ist, wird Lears Gesang gebrochener. Wenn er sich am Ende mit Cordelia versöhnt und deren Lyrizismen aufgreift, synthetisiert er nach Cordelias Tod deren sowie Toms Linearität in seinem finalen Trauergesang.

Ich frage mich, wo Reimanns Orchestersatz herkommt. Das Stichwort sind die Cluster. Diese haben aber nichts von Xenakis „Metastaseis“ oder Cowells Klavierausbrüchen. Auch mit dem grafischen und klanglich aleatorischen „Blackwork“ von Penderecki hat das nichts zu tun. Wenn die Akkordballungen pro Instrument linear gestaltet sind, denkt man ein wenig an Ligetis Mikropolyphonie. Allerdings fächert Ligeti darin meist nur eine Linie metrisch und rhythmisch differenziert auf. Reimann lässt über 40 Streicher über 40 Zwölftonreihen spielen. Die sind sich in ihren intervallischen Binnenstrukturen, meist mit der unterschiedlichen Abfolge von kleiner Sekunde, großer Sekunde und kleiner Terz, so selbstähnlich, dass man auf Ligeti als Vorbild kommen könnte.

Ich glaube aber, dass das Vorbild ein anderes ist: Alban Berg. Nachdem in dessen Wozzeck, 3. Akt, 4. Szene, die die Mordwaffe suchende Titelfigur im See verschwindet, lauschen der vorbeikommende Doktor und Hauptmann in die unheimliche Wasserszenerie. Das Orchester gurgelt und quakt. Die Stimmung wird durch in verschiedenen Geschwindigkeiten spielende Streicher und Holzbläser hervorgebracht. Deren unterschiedlich steigende und fallende Linien erfolgen in Sekund- und Terzmixturen. Daran erinnern Reimanns Orchestercluster, geschärft durch die Zwölftontechnik, in eine neue Dimension durch vierteltönige Verdoppelungen und Absenkungen gesetzt.

Aus Gurgeln und Quaken wird Stürmen und Brüllen. Wie sich Lear selbst immer mehr zur Melodie durchkämpft, so lässt am Ende auch das Orchester alle Ballung hinter sich und spielt einstimmig gegen Lear an, bevor die Streicher sich in einen mit Akzenten der Einzelmusiker Flageolettvorhang auffächern. Reimann bricht nicht mit den tradierten Spieltechniken, wie es damals Lachenmann tat. Bis auf kurze tonale Einstreuer in Gesangsfetzen des Narren oder des Männerchores gibt es auch keine postmodernen, andere Stile anspielenden, zitierenden Einstreuungen. Nur als Vater Gloster doch nicht von der Felsenklippe in den Selbstmord stürzt, sondern in den Armen seines Sohnes Edgar landet, lichtet sich die zwölftönige Streichermixtur zu Dur- und Mollklängen der Kontrabässe, die in diesem Umfeld so fremd wirken, wie Terzklänge zu Zeiten Machauts.

Bei aller Bewunderung für den Orchestersound: es ist die Behandlung der Singstimme, die trotz des Zwölftonstils ganz anders als bei B.A. Zimmermann, immer sehr sinnlich ist und bei so hervorragenden Sängern in Salzburg wie Gerald Finley (Lear), Anna Prohaska (Cordelia), Kai Wessel (Edgar), Evelyn Herlitzius (Goneril), Gun-Brit Barkmin (Regan), Charles Workman (Edmund), Lauri Vasar (Gloster) und in kleineren Rollen Matthias Klink (Kent) oder Derek Welton (Albany) und Michael Colvin (Cornwall) eigentlich selbst in der riesigen Felsenreitschule bei der herausragenden Textverständlichkeit ohne Übertitel ausgekommen wären. Das hat auch was mit dem entspannt dirigierenden Franz Welser-Möst und den brillant im Lauten leise spielenden Wiener Philharmonikern zu tun. Vielleicht auch ein wenig mit der Leonce-&-Lena-Wiese des ersten Akts und dem blutrünstigen Publikum auf dem Theater des Zweiten des Regisseurs Simon Stone.

Letztlich ist es der seit frühen Jahren manische Liedkomponist Aribert Reimann, der 1978 als Zweiundvierzigjähriger sich als Dritter in der Linie Berg-Zimmermann-Reimann zeigte. Nur am Rande: Warum fehlt hier Hans Werner Henze? Den sehe ich eher in einer Linie von Puccini-Dallapiccola-Poulenc-Henze. Wo man da Rihm und Lachenmann einreiht, ja, später Olga Neuwirth, alle auch auf einer Höhe als Opernkomponisten wie die Anderen – ein anderes Mal!

Was bleibt? In den Stil Reimanns kann man heute nicht mehr einsteigen. Worin man aber einsteigen kann: die Bemühung um Sanglichkeit und Textverständlichkeit selbst in schwersten Fakturen, die Reduzierung auf das Wesentliche – sprich auch mal weite Strecken ohne Schlagzeug und erweiterte Spieltechniken, kein instrumentales Dauergewusel wie zu oft z.B. manchmal bei Widmann, das Aufeinanderreagieren der Gesangsstimmen, die stilistische Kontingenz statt überbordende Zitatinkontinenz. Ja, und ganz „gewagt“: die Wahl literarischer Vorlagen als Oper. Ob man den originalen Theatertext kürzt wie hier oder neu schreibt wie Verdi mit seinen Schillerstoffen, wesentlich ist folgende Feststellung Reimanns: wenn man weiß, wie das Stück musikalisch endet, dann kann man mit dem Komponieren des Anfangs beginnen. Man fürchtet sich ja immer noch modisch vor „Literaturoper“. Nur, war Oper je etwas Anderes? Wenn man einen begnadeten Schriftsteller findet, dann ist es natürlich wunderbar, ganz neue Stoffe zu kreieren. Wenn man einen begnadeten Stoff findet, der im Komponisten ganz altmodisch zu klingen beginnt, dann ist es auch wunderbar. Das ist der Vater guten Gelingens.

Apropos Mutter: das macht den Stoff „Lear“ letztlich so mörderisch: es fehlt die Ehefrau Lears und die Mutter ihrer Töchter, die vielleicht noch die Konflikte kitten könnte. Stattdessen fallen die Hinterbliebenen der abwesenden Mutter übereinander her, in einer klassischen Erbstreiterei. Und es bleibt der Vererbende als einziger am Leben. Das kann man als bürgerliches Rührstück auffassen. Das kann man auch als Quintessenz jedes Krieges, auch der zeitgenössischen in Nahost auffassen. Oder ganz aktuell: manchmal ist eine zumindest gefühlte Mutter als Leiterin eines Landes gar nicht so übel, mag sich auch nur wenig verändern. Das ergibt nur leider kaum eine Oper. Da braucht es leider über das Ziel hinausschießende Männer, damit es Welttheater wird.

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