Getrenntes vereint: Richard Boulez und Pierre Strauss

Denke ich, an wen mich Pierre Boulez erinnert, fällt mir auf der emotionalen Ebene zuerst Richard Strauss ein. Würde man nur auf der Gefühlsebene bleiben, also an Musik, die vor allem an der Oberfläche dieser Wahrnehmung entlang komponiert wurde, denkt man eher an Hans Werner Henze als Pierre Boulez. Henze und Boulez wären sich in ihrer Ablehnung von Strauss als Komponist wieder einig. Aber es ist bei mir ein viel kleinerer Rahmen des Künstlerischen, abgesehen vom Technischen: Boulez wie Strauss waren in ihrer Zeit bedeutende Dirigenten, die für ihre effiziente, zurückgenommene Schlagtechnik bekannt waren. Beide verbindet darin auch eine lebenslange Auseinandersetzung mit Richard Wagner. Und dann waren beide auch wichtige Musikfunktionäre in ihren Heimatländen: Boulez als Initiator des IRCAM und des Ensemble Intercontemporaine, Strauss als Initiator der GEMA.

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Daneben gibt es auch eine kompositorische Gemeinsamkeit, ja, darin eine kurze zeitliche Überschneidung ihrer Tätigkeiten für eine Instrumentengattung. Das letzte rein orchestrale Werk von Richard Strauss sind die Metamorphosen für 23 Solostreicher. Das erste Werk ohne Klavier von Pierre Boulez ist sein Livre pour Quatuor. Strauss komponierte sein Stück im März und April 1945, Boulez sein Quartett in den Jahren 1948 und 1949. Strauss musste nur bis Januar 1946 warten, bis seine Metamorphosen in Zürich uraufgeführt wurden, Boulez bis zur ersten Aufführung eines Teils in Donaueschingen im Oktober 1955. Ein antithetisches Bonmot dazu wäre ausserdem, dass Strauss sein Stück angesichts der seinerzeit zerbombten Opernhäuser komponierte, Boulez‘ später den Satz prägte, man müsse die vermieften Musiktheater in die Luft sprengen.

Hört man die ersten Takte des Livre, denkt man an den Gestus von Weberns Bagatellen op. 9 oder den letzten Satz dessen Streichquartett op. 28: einzelne Töne, die Quart-Tritonusklänge ergeben, im Satz reduziert auf Punkt und Strich, häufig Tremolo und sul ponticello. Lauscht man in die Metamorphosen von Strauss hinein, vernimmt man den satten Klang mittlerer Streicherlagen. Blickt man in die beiden Partituren, erschliessen sich allerdings selbst im Gegensatz Gemeinsamkeiten. Strauss schreibt einen kontrapunktisch durchbrochenen Satz, wird die unendliche melodische Linie immer von Instrument zu Instrument weitergegeben, verschwindet der gerade noch präsente Vordergrund in den Hintergrund, was einer spielte, spielen mehrere, was Floskel war, ist tragendes Bauteil, was durch Harmonik generiert wurde, ist autonome Linie.

Das Livre in der Quartettfassung ist allein aufgrund der kleineren Besetzung nicht das klangliche Vexierspiel wie ist die Metamorphosen sind. Im Strukturellen nähern sie sich aber erstaunlich an: das Livre ist im Mikroskopischen, die Metamorphosen sind im Makroskopischen Vertreter eines strukturellen, pausenlosen Meta-Kontrapunkts, der beide Kompositionen vereint, so unterschiedlich beide klanglich ans Werk gehen. Strauss hängt einer alten Welt nach, Boulez baut an einer neuen mit, beide in der Umbruchsphase zwischen Weltkriegsendes und des sich in den fünf folgenden Jahren geistigen, politischen wie infrastrukturellen Neuanfangs, der die Nachkriegsordnung etablierte. Frankreich wie Deutschland hatten ihre ganz eigenen kritischen Momente in dieser Zeit, aber eben in beiden Ländern politische wie wirtschaftlich instabile Situationen: Deutschland löste sich in BRD und DDR auf, die Vierte Republik in Frankreich integriert ab 1947 die in allen Wahlen stärkste Partei, nämlich die PCF, die französischen Kommunisten, in keiner Regierung. Beide Länder profitieren gleichermassen vom Marshall-Plan, beide beenden die fragile Zeit Gründung der gemeinsamen Montanunion.

Und musikalisch reagiert der Deutsche Strauss mit seinem noch einmal extrem ausdifferenzierten Klangsog, der Franzose Boulez mit seiner soghaften Klangdifferenzierung. Und als Boulez das frühe Livre pour Quatuor 1968 in Teilen zum Livre pour Chordes umarbeitet, nähert er sich auch dem Klangsog Strauss‘ extrem an: was zuvor karg Punkt und Strich war, wird nun wie ein Halleffekt im vervielfachenden Streichorchester ausgehalten, was ein kurzer Halt war, wird zu einer mehrschlägigen Pfundnote, sonorité wohin man hört, Verschmelzung hochgradiger als bei den staffellaufhaften Klangübergaben von Instrument zu Instrument bei Strauss. Bedenkt man, dass Boulez genau in den späten Sechzigern zu dem Dirgierstar wurde, der Strauss einmal war, dann könnte man Boulez beinahe als dessen Erben bezeichnen, aber eben auch als Komponist. Beziehungsweise gelang spätestens jetzt Boulez die Synthese aus dem effizienten instrumentatorischen Spätstil Strauss‘ und dem musikalischen Pointilismus im Spätwerk Weberns, wobei alle drei bereits in den Vierzigern im Meta-Kontrapunkt näher beieinander waren, als ihnen vielleicht lieb gewesen sein dürfte. Mögen sich Stile noch so en detail unterscheiden, so verknüpft sie in Zeitgenossenschaft der geschichtliche Rahmen, der auch künstlerisch seine Meta-Ebenen hervorbringt, wie in den Vierzigern in Zeiten des extrem Fragilen der extreme Kontrapunkt in der Musik, egal ob spätromantisch oder frühseriell. Ein nächster Schritt wäre nun herauszuarbeiten, was heute Enno Poppe und Sarah Nemtsov auf einer Meta-Ebene des Künstlerisch-Technischen verbindet…

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