Die Gabe der Unmittelbarkeit

Zu Weihnachten werde ich mal besinnlich, und suche für euch raus, was eine bedeutende Komponistenpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts über Musik geschrieben hat:

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„Ich selbst höre Musik nur aus einem Grund: Zum Vergnügen. Ich höre nur Musik, die mir gefällt. Das bedeutet natürlich, dass ich eine Menge Musik hören muss, die mir nicht gefällt, bevor ich auf diejenige stosse, die mir gefällt. Aber wenn ich sie tatsächlich finde, kann ich nur sagen: „Na endlich“ und singe sie mir dann zum Vergnügen laut vor.
Hören Sie die Musik, die Ihnen gefällt. Kümmern Sie sich nicht darum, ob sie wichtig ist oder ob es sich um große Musik handelt. Warum ist es überhaupt wichtig, was große Musik ist und was nicht? Wenn Sie eine Definition von Musik haben wollen, z.B. „Musik ist, was mich zum Lachen bringt, oder zum Weinen, oder zum Gähnen, was meine Fußnägel strahlen lässt, was mich dazu bringt, dies tun zu wollen, oder das, oder nichts“, belassen wir es dabei. Bei der Musik kommt es nur darauf an, dass sie Spaß macht, wie tragisch sie im Grunde auch sein mag. Wichtig ist allein der ewige Fluß, die gewaltige Unterströmung aus menschlichem Leid, aus Torheit, Anmaßung, Begeisterung oder Ignoranz, mag die Absicht einer Musik auch noch so profan sein“

Ihr glaubt mir nicht? Ach, ihr habt recht. Unvorstellbar, dass irgendeiner der Theoretiker der Musik im 20. Jahrhundert jemals etwas so strahlendes und lebensbejahendes, schlicht die Freude an Musik selber zelebrierendes gesagt oder geschrieben hätte. Einzig und allein Ferrucio Busoni würde man das zutrauen, aber dann hört es auch schon auf. Ansonsten – Manifeste, Zukunftsentwürfe, Methodenbeschreibungen, Selbstzelebrierungen, Grabenkämpfe.

Nein, gesagt hat das obige überhaupt kein Komponist, sondern ein großer Dichter, und zwar der nach wie vor unvergleichliche Dylan Thomas. Und er hat es auch nicht über Musik gesagt, sondern über Lyrik – ihr müsst einfach oben nur das Wort „Musik“ durch „Lyrik“ ersetzen, und ihr habt das Originalzitat von Dylan Thomas.

Warum ist es so unvorstellbar, dass ein Komponist Neuer Musik so etwas hätte schreiben können? Mehr sogar noch heute, im 21. Jahrhundert?

Was schreiben Komponisten heute so, zum Beispiel über ihre eigene Musik?

Hier ein Beispiel:

Mittels der strukturellen Überlagerung der algorithmisierten Büchnerpreisrede des Geschichtenzerstörers Thomas Bernhard und des Figurengedichts XXVIII des scholastischen Universalgelehrten karolingischer Frührenaissance Rhabanus Maurus (780-865), die dekontextualisierte Fragmente des „Musikalischen Opfers“ (BWV 1079) J.S. Bachs und eigener, früherer Werke aufnimmt, realisiert und expliziert [mein Stück] „Tombeau“ zugleich Inkommensurabilität der Diskursfelder zueinander, als auch jene damit verbundene Einsicht in die Endgültigkeit jener Verlustsituation, eines stetigen, sisyphosartigen Verlustiggehens.
Zum symptomatischen Bild geistiger Verfasstheit, aber auch zum als Dritten entscheidend in eine „Gesamtstruktur“ eingreifend, die in sich nicht mehr vermitteln zu vermag, bloß noch additive Summe, nicht qualitativ Sublimiertes in der Ganzheit meinen kann, wird die enigmatische Meditation des Augustinus über das Vergessen erhoben, das er im zehnten Buch seiner „Confessiones“ vorlegt.
Die Partitur, gleichsam ein funktional gestörter Hypertext, trägt über der Oberfläche der Zeitstruktur, die das Kreuzgedicht des Rhabanus Maurus liefert (also Phasen der ausgefüllten und nichtausgefüllten musikalischen Zeit regelt) dyadisch die Fragmente einer holistische Systeme und konträr dazu die neuzeitliche Dezentralisierung suggerierenden Komposition.

(Kai Polzhofer, über sein Stück „Tombeau“, der komplette Text ist hier veröffentlicht)

Nun möchte ich hier nicht das Intellektuelle (das in dem Polzhofer-Text definitiv überwiegt) gegen das Intuitive (das im D. Thomas-Text überwiegt) gegeneinander ausspielen. Mein Gefühl ist aber, dass wenn im Impuls des Schöpferischen allein der „gelehrte“ Impuls überwiegt, wenn es also vor allem darum geht, anderen zu zeigen, was man weiß, sich irgendwann Gräue und Leere breitmachen muss. Der komplett intuitive Ansatz kann grandios Scheitern, aber es gibt in ihm immer die Hoffnung auf die Entdeckung von etwas Unverhofften.

Dylan Thomas scheiterte am Tresen und soff sich kaputt, seine Lyrik aber ist von einer Unmittelbarkeit und Lebensnähe, die ich mir von heutiger Musik manchmal wünschen würde. Seltsamerweise gibt es sehr viel alte Musik, die den Wunsch nach Lebensnähe wunderbar erfüllt, und dennoch keine großen Worte darüber verlieren muss. Als Beispiel mag hier eines der grandiosesten Werke des ohnehin grandiosen Haydn dienen, nämlich „Die Schöpfung“. So lebensnah weltzugewandt und liebevoll ist diese Musik, dass Haydn nach der Beschreibung der Erschaffung der Erde bis hin zu Adam und Eva den öden Sündenfall einfach wegließ und stattdessen nur noch kurz gegen Schluss einen nervig mahnenden Engel auftreten lässt, der vor dem Baum der Erkenntnis warnt, kurz nachdem sich Adam und Eva in einem wunderschönen Duett die ewige Liebe geschworen haben. Und dann ist auch schon aus: nix Erbsünde und Luzifer, nein, Haydn gefiel das liebevolle Tableau am Ende so gut, dass er es einfach dabei beließ – das wurde damals als so radikal und sündenvoll empfunden, dass die katholische Kirche das Werk lange aus ihren Kirchen verbannte.

Das überrascht nicht – den meisten Institutionen ist das Lebenszugewandte unheimlich, weil Institutionen im strengen Sinne eher gen Atrophierung und Konservierung streben, Ausnahmen bestätigen die Regel.

Heute morgen sagte meine kluge Frau zu mir: „Warum ist es bei euch in der Neuen Musik immer so kompliziert? Warum freut ihr euch nicht an der Gabe der Umittelbarkeit, die jeder Musik innewohnt, und um die wir euch als Dichter beneiden?“. Nicht ohne dann nachträglich zu bemerken, dass es in der modernen Lyrik eigentlich genauso verkrampft zugeht, und vieles nur noch wahnsinnig ambitioniert, verschachtelt und um tausend Ecken gesagt wird. Jede Kunstsparte hat ihre eigenen Probleme.
Und wir kamen darauf, dass z.B. ein Goethe das „Gelegenheitsgedicht“ als Form geliebt hat, das Unprätentiöse und Direkte zutiefst schätzte (und dennoch universal belesen und hochgebildet war). Alle späten Gedichte Hölderlins, deren Verständnis eigentlich erst Ende des 20. Jahrhunderts beginnt, sind samt und sonders „Gelegenheitsgedichte“, auf Zuruf geschrieben, spontan und ohne Umschweife. Bei einem Großteil der „klassischen“ Musik handelt es sich um Gelegenheits- oder Liebhaberwerke, und mit der wachsenden individuellen Ambition, die ungefähr zeitgleich mit der Industrialisierung beginnt, beginnt auch eine zunehmende Entfremdung vom bisherigen Thema der Musik, dem Menschen selber.

Nicht, dass wir uns wieder künstlich naiv geben können (diese Naivität wäre verlogen und eher Raffinesse als ehrlicher Impetus, wie z.B. bei Haydns „Schöpfung“). Aber zu Weihnachten, dem Fest des Lebens und der Liebe, sollten wir uns zumindest daran erinnern, dass man eigentlich gar nicht erklären muss, warum man etwas schreibt.

Und auf Dylan Thomas hören, der sagt:

„Die Freude und Funktion der Musik [äh…Lyrik] liegt darin, den Menschen zu feiern (…)“

und, bei einem Radiointerview mit der BBC im Jahr 1947:

„(…)ich habe keine Philosophie. Ich glaube an die universale, turbulente Akzeptanz, was nichts anderes besagen will, als daß ich lebe.“

Schöner kann man’s nicht sagen. Darauf einen Whisky, Freunde!

Frohe Weihnachten,

Euer

Moritz Eggert

Dylan Thomas und seine Frau Caitlin

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