Schweinigeleien im Konzertsaal

Dokufiktive Apokalypse unter Bezugnahme auf H H Stuckenschmidts Polemik „Der Deutsche im Konzertsaal“ (1927)

Was ist schlimmer als zotige Witze und Pornographie? Für den deutschen Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt ist es „die vermummte Schweinigelei in Tönen“, die er im Konzertsaal erlebt. Jedes Mal sei ihm ein kalter Schauer über den Rücken geronnen, wenn er in Deutschland ein Konzert besucht, „dieses Volk wird an seiner Musik zugrunde gehen“, orakelte Stuckenschmidt 1927. Vor Kurzem ist ein Band mit Schriften des bedeutenden Kritikers erschienen. Ich habe mir H H Stuckenschmidt unter den Arm geklemmt und den Ekstasen eines Sinfoniekonzerts hingegeben. Eine Rückkehr aus dem beschädigten Konzertleben.

Deutschland schafft sich ab. Nicht in verwaisten Kreißsälen oder an geleerten Rentenkassen. Sondern im Konzertsaal, für kurze 200 Jahre Inbegriff der bürgerlichen Kultur.

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Jedesmal, wenn ich in Deutschland einen Konzertsaal betrete, rinnt mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich haben den Eindruck eines Krankenhauses, und eines Tages wusste ich mit Gewissheit: Dieses Volk wird an seiner Musik zugrunde gehen, die ihm den letzten Rest von Beherrschung [und| Vernunft […] raubt, wie ein Vampir, eine gefährliche Seuche.

[im Hintergrund Applaus, Stille]

Das schreibt kein schnauzbärtiger Finanzsenator, sondern einer, der es wissen muss. H. H. Stuckenschmidt, einer der bedeutendsten deutschen Musikkritiker. Mit spitzer Feder hat der schillernde Schreiber das Musikleben des 20. Jahrhunderts begleitet – von Gala bis Gaga, von DADA bis Dodekaphonie. Nur eines setzte ihm zu: Wenn er im Konzert in die Gesichter seiner Sitznachbarn blickte.

[Meditation de Thais]

Es gibt keinen Ausdruck, keinen Vergleich in irgendwelcher Sprache der Welt, der die gespenstische Leere dieser wollüstig den Tönen hingegebenen Visagen zu umschreiben vermöchte. […] Die Augen schließen sich zwangsläufig, die Wirbelsäule scheint dem Gewicht des Schädels nicht mehr gewachsen, so dass die Hand als Stütze dienen muss, die Haltung wird schlaff und morbid, der ganze Körper taucht in einen Zustand fortschreitender Lethargie; es ist, als sei jegliches Belebende, Zusammenhaltende, als seien Hirn, Mark und Muskulatur durch eine magische Kraft diese Lebewesen entzogen.

Auch ohne medizinische Vorbildung legen die äußeren Anzeichen einen Verdacht nahe. Sollte mein Sitznachbar etwa nicht wegen der Musik anwesend sein?

[Seufzen.]

Er genießt die Musik, wie man Opium raucht, als eine Art höheren Rauschgifts, mit dem Willen sich unterkriegen, sich betäuben zu lassen. Von dem, was gespielt wurde, weiß er so gut wie nichts […]. Willenlos folgt er in seinem Hochschlaf den Bewegungen der Musik, kraftlos lässt er sich vom Allegro zum Andante, vom Andante zum Presto schleifen, träge macht sein Blut die Crescendi und Accelerandi mit, bis schließlich die trübe Unzucht seines Herzens sich in dem Orgasmus eines wohlberechneten Finales Luft macht.

[Lauteres Seufzen]

Nichts als Drogen und Sex also? Zu meiner Linken hat eine verantwortungslose Lehrerin mit einer Gruppe unschuldiger junger Menschen Platz genommen. Ehrgeizige Eliteeltern zwingen in der Reihe vor mir Ihre Brut zum unzüchtigen Genuss. Wissen Sie eigentlich, warum sie ins Konzert gehen? Ohne dass die Musik unterbrochen würde, drehen sich plötzlich zahlreiche Besucher des Konzerts zu mir um, als hätten Sie meine innere Frage gehört. Quer durch den Saal rufen Sie mir zu, mit erhobenen Stimmen. Andere tuscheln und zischeln. Ich mahne zur Ruhe, doch nun scheint mich niemand zu hören.

– Um mir selbst was Gutes zu tun!
– Es ist ein Wohlfühlfaktor!
– Im Konzert fühlt es sich meistens so an, dass ich total wegdrifte und irgendwie total ertrinke in dieser Atmosphäre und darin, dass die Musik so direkt ist, ohne irgendwas dazwischen.
– Es liegt was in der Luft.
– Manchmal kommt man in so ne melancholische stimmung,
– Musik ist für mich das, was mich am allermeisten berühren kann.
– Es ist etwas Großes.

Ich staune. Nicht nur, dass die Einnahme der bewusstseinserweiternden Rauschdroge Musik öffentlich subventioniert wird, es ist sogar gesellschaftlich sanktioniert, sich über die wollüstigen Musikerlebnisse freimütig zu äußern.

– Aber ich muss gestehen, je älter ich werde, desto mehr berührt mich Musik emotional. Ganz, ganz stark.

Was mich ärgert, ist das metaphysische Getue, das Seelenbrimborium, die esoterische Draperie, die um den klaren Tatbestand der pervertierten Sexualität herumgelegt wird. Außerdem finde ich Exhibitionismus immer unappetitlich.

[Ein Pianist tritt auf. Er ist jung und schön und androgyn. Und irgendwie auch ein bisschen exotisch. Er hat Träumeraugen und Mädchenfinger. Aber seine Rücken bildet zwischen Schultern und Hüften ein V wie bei einem Schwimmer. Er tänzelt, nein, er schwebt zum Klavier und beginnt, Schumanns Träumerei zu spielen. Jeder Ton ist überartikuliert und körperlos zugleich. Als er nach zehn Minuten die Träumerei beendet hat, spielt er Bachs Goldbergvariationen in der halben Geschwindigkeit. Um seinen Hals trägt er eine Art Kette. Es ist ein Mikrophon, das aussieht wie ein funkelndes Diadem. Es verstärkt die Resonanzen, die er beim Spielen der Goldbergvariationen in seiner Milz erzeugt.]

Musikhören ist die totale Regression.

– Das verbinde ich auch mit Zuhause sein oder Wiederkindsein manchmal.
– Weil ich hingeschleift werde, muss ich zugeben.

Um die Anwendung von Gewalt zu mindern und die wahren Motive des Konzertbesuchs zu verschleiern, haben Musiker und Veranstalter perfide Strategien entwickeln.

Wie ein glitschiger nasser Lederhandschuh hat sich das deutsche Musikleben den Bedürfnissen seiner Konsumenten angepasst. Mit äußerstem Raffinement fischen die Konzertgeber aus dem unerschöpflichen Reservoir der deutschen Musik die Stücke heraus, deren betäubende Wirkung seit Generationen erprobt und anerkannt ist. Und auch die Werke, deren Temperament und Ablauf sich solcher hypnotischen Wirkung widersetzen, werden […] soweit umgebogen, dass der Musikhörige gegen den Willen des Autors auf seine Kosten kommt und zu seiner schleimigen Ekstase gelangt.

Nicht auszudenken was geschähe, wenn das beschriebene Phänomen auch weitere Kreise des Musiklebens erfasste. Wenn schließlich auch Rundfunkhörer von der beschriebenen Sucht befallen würden. Weil die verbliebenen Kulturradios anstatt Bewusstsein zu schaffen und Wahrnehmung zu schärfen, gleichfalls auf Opium fürs Volk setzen. Nie war dieses Land seinem Ende so nahe. In einer Ecke des Foyers, verborgen hinter ihren Programmheften, entdecke ich zwei athletische Gestalten. Ihr Blick ist klar und ihre Haltung aufrecht. Nicht ganz selbstbewusst weichen sie den verächtlichen Blicken des übrigen Publikums aus, das von seiner „Seelenmasturbation“ ermattet das Foyer durchstreift.

– Wenn ich ins Konzert gehe, dann erleb ich die Musik einfach bewusster und das faszniniert mich.
– Manchmal kann das sehr erfrischend wirken.

Noch gibt es Hoffnung.

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Musikjournalist, Dramaturg

5 Antworten

  1. eggy sagt:

    FREUDE über einen neuen Beitrag von Dir, Patrick – wir wähnten Dich schon verschollen!

  2. querstand sagt:

    „Augen zu und durch“ – so könnte man das von HH Stuckenschmidt ins Auge gefasste Publikum beschreiben, wie sie satt die ewig gleichen B’s geniessen – das Programm des Nicht-Weltklasse-Orchesters mit de Nicht-Weltklasse-Querelen, die Münchner Philharmoniker, spricht da immer wieder Bände, Ausnahmen sind auch dabei, aber bestätigen mit der Leere der Ränge Hr. Stuckenschmidt.

    Wenn sie so feist und satt, die augenschliessenden Nur-Klassik-Romantik-Genuss-Hörer, in ihren Stühlen, im engen Anzug die Herren, die Damen aufgetafftet, ihr Philharmonie-Yoga betreiben, sollen sie gefälligst ihre Devise auch bei behutsam exotischen Programmen oder Neuer Musik einsetzen: „Augen zu und durch“! Allerdings so wie diese Herrschaften uralte halbtonale Schönbergsche Kammersinfonien heute noch mit Türeschlagen goutieren, so die andere Taftfrisur wegdrängelnd benehmen sie sich auch an der Gaderobe, im Eilmarsch zu ihrer S-Bahn nach JWD. Manchmal kommen sie mir so sonderbar vor, wie die mongolischen Souvenirverkäufer in Plastikmänteln auf der chinesischen Mauer. Nur sind die dort die Abwechslung gegen das Dauerdröhnen von chinesischer Soft-Zithermusik (die Lautsprecher dieser Beschallung sind übrigens z.T. viel spektakulärer installiert als die restaurierte Disney-Mauer).

    Ich wünsche mir also eine chinesische Mauer um unsre Kulturtempel. Mögen diese Taft-Klassik-Yoga-S-Bahn-Renner-Gaderobe-Rempler in ihrem vedammtem JWD bleiben, dafür kann man gerne auch das bisherige Philharmoniker-System opfern und schafft wirklich „wat Mondänes“, ohne je den neuen Dresdner Kapell-„Wat“-Sager zu vermissen. Apropos Einstampfen: so taff und respektwürdig viele der Musiker der Münchner Philharmoniker sind, so viel Mut und Tradition sich in Einzelnen verbindet: die viel beschworene Celi-Disziplin ist sowieso „dawai“. Ein echter Neuanfang wäre geboten, samt neuen Saal oder gänzlichem Gasteigumbau. Weder seine Planung noch sein jetziges Dasein wird geliebt, so wenig ich die JWD-Konzert-Assis schätze.

    Also Erneuerung von Innen nach Aussen, vielleicht dazu einen Lupen- und Hörgerätservice, eine Mauer um die Konzerttempel und die JWDler rauschen der verlorenen Winterolympiade hinterhertrauernd einfach Non-Stop von Ost bis West im neuen Tunnel. Das ist eigentlich das Geschenk an diesem: dass die tumben Taft-Abonenntinnen samt Gatte gar nicht mehr an die verwunschenen Musikorte gelangen… Das wäre mal so richtig Klasse. Und im neuen Konzertsaal prügeln sich die Interessierten um die verbliebenen 1200 Plätze.

    So – jetzt sind Alle wieder da, 2011 hat nun auch wahrhaftig im Badblog begonnen. Also doch eine „Neue Wahrhaftigkeit“?

    Bis Sonntag Nacht, jetzt heisst’s für mich selbst nach JWD rudern und meinen Chor, die Philhomoniker, die so oft mit den Philharmonikern verwechselt werden, durch Popularismen zu tüfteln, ganz taftfrei, so dass ich mir ab Sonntag abends nichts Anderes als 72 Töne pro Halbton wünschen werde…

    Gruss,
    Alexander Strauch

  3. mehrlicht sagt:

    Lieber Alexander, ein winziger Widerspruch: Yoga ist in dem Zusammenhang möglicherweise als Klischee-Green-Card naheliegend, ist aber genau das Gegenteil von dem was Du (bin ansonsten vollkommen d’accord) kritisierst: im Yoga entsteht nämlich genau eine – sehr gewinnbringende und oft auch kreative – Beschäftigung mit dem Bewusstsein, die auch auf Musik und Künste hin „öffnend“ wirken würde (setze ich mal als These hin), eben weil man sich mit Körper und Geist in eine ganz gegenwärtige Situation begibt. Wer also yogisch Musik hören würde, wäre nur zu beglückwünschen ob seiner focussierten Aufmerksamkeit. Zudem ist Yoga (ebenfalls im Gegensatz zu einer landläufigen Meinung) eine höchst aktive Art der Auseinandersetzung mit Körper, Atem, Bewegung. Das unterscheidet Yoga grundlegend vom drömelig-daddeligen Passivzustand, den der gewöhnliche Konzerthörer im verschlissenen Parkett einnimmt und im welchen das Gehirn sich während einer Sinfoniedauer von 45 Minuten dermaßen auf einen Hohlzustand herabfahren kann, dass dem Drömdaddel am Ausgang höchstens noch ein „war schön“ entfährt, ungeachtet der Tatsache dass er längst vergessen hat, was gespielt wurde.

  4. querstand sagt:

    @ mehrlicht: danke des hinweis. kenne yoga tatsächlich nur rudimentär, schätze es durchaus bewusstseinsschärfend ein, kenne leute, die es ernsthaft betreiben, lege selbst wert auf ausgedehnte atemübungen – die ein wenig von yoga inspiriert sein mögen. also bitte überall oben vor yoga „pseudo-“ ergänzen.

    mancher hörer wird wirklich yoga einsetzen, die meisten anderen ergehen sich allerdings selbstverliebt im augenschluss, reduzieren damit gute musik auf fahrstuhlmusik. so könnten sie eigentlich aller musik qualitäten abgewinnen. die augen schliesst man leider nur bei sachen, die man kennt. bei fremden sachen kennt man nur panik vor seiner eigenen augenschliesslust. da würde echtes yoga wohl wirklich neue wahrhaftigkeit eröffnen. oder man bleibt seinem augen-zu-und-durch-prinzip banal treu, so ganz ohne atemstrom des ostens, panikklischee des westens.

  5. strieder sagt:

    @Alexander: Habe letzthin den Chor im Gespräch erwähnt und (es war spät) ihn folgendermassen ausgesprochen: „Homophoniker … hmm … was habe ich gerade gesagt?“