Die Revolte einzelner Konzertbesucher in der Kölner Philharmonie gegen eine viertelstündiges Stück Minimal Music von Steve Reich hat in der Musikwelt zu zornigen Gegenreaktionen geführt. Wer nicht gleich (wie Axel Brüggemann in „Crescendo“) innerhalb eines Halbsatzes die Perspektive von den Kölner Konzertstörern hin zu AfD-nahen Flüchtlingsverjagern lenkte, prangerte wenigstens (wie Manuel Brug in der „Welt“ oder Moritz Eggert auf Facebook) zu Recht die rüpelhaften Manieren des Publikums an. Dennoch bleibt ein Staunen: Warum entzündete sich der Eklat, auf den der Cembalist Mahan Esfahani mit dem Abbruch des Stückes reagierte, ausgerecht an „Piano Phase“ von Steve Reich? Während Martin Hufner im Blog „Sperrsitz“ fragt, ob nicht auch der Einsatz elektronischer Mittel das Fass zum Überlaufen gebracht haben könnte, wundert sich Volker Hagedorn auf Zeit Online stellvertretend für alle: „H-Moll, du liebe Güte!“ (alle Links, siehe hier).

Hinter dem Erstaunen, dass ein 50 Jahre altes Musikstück Pöbeleien provoziert, die den großen Konzertskandalen von 1913 (Schönberg in Wien, Strawinsky in Paris) kaum nachstehen, steckt die Auffassung, dass das Neue Befremden nur so lange auslösen darf, wie es eben neu ist. In den über 10.000 Konzerten, die laut Deutscher Orchestervereinigung jährlich in Deutschland stattfinden, ist der Anteil an zeitgenössischer Musik hoch genug, als dass man einen Gewöhnungseffekt erwarten dürfte. Zumindest die Klassiker der Moderne und erst recht eine populäre Spielart der Neuen Musik wie die amerikanische Minimal Music sollten auch konservative Musikfreunde nicht mehr vom Stuhl hauen.

Das aber ist ein Irrtum.

Als das Alban Berg Quartett 1990/91 in seinen Zyklen des Wiener Konzerthauses alle sechs Bartók-Quartette auf das Programm setzte (wobei in drei Konzerten je zwei Bartóks einen Mozart umrahmten), reagierten viele Abonnenten mit Kündigung. Die beiden Zyklen im Mozart-Saal dürften die einzigen in der gloriosen Geschichte des Alban Berg Quartetts sein, für die an der Abendkasse noch Karten zu bekommen waren. Schönberg gilt für alles, was er nach der „Verklärten Nacht“ (1899) komponierte, als Kassengift; ein Orchestermanager, der eine Tournee mit den Variationen op. 31 anbieten wollte, sollte alternativ auch einen Schumann in der Tasche haben. Während sich der Erfinder der Zwölftontechnik sicher war, dass man nach einigen Jahrzehnten auch seine Musik gleich einem Ohrwurm pfeifen würde, pfeifen in Wahrheit weite Teile des Konzertpublikums selbst auf Werke, die bald 100 Jahre alt sind, oder hält sie als Mittelstück im berüchtigten Sandwich-Format (im Konzert wird das moderne Stück zwischen zwei Klassikern placiert) zähneknirschend aus. Wenn im Konzertprogramm einer Saison mehr Komponisten nach Mahler als vor ihm auftauchen, bezahlt man in der Regel mit Abonnentenrückgang. Schon wenn im einzelnen Konzert die Musik des 20. Jahrhunderts überwog, musste ich mich, ob Hamburg oder Heilbronn, vor stirnrunzelnden Zuhörern rechtfertigen. Sonntag-Nachmittag-Konzerte wie das in Köln sind das Refugium einer älteren, konservativen Publikumsschicht – daher die wütende Reaktion auf das Stück von Steve Reich, die sich zweifelsohne in der ersten Konzerthälfte bei den Werken von Fred Frith und Henryk Gorecki aufbaute.

Übertragungsdefekte

Die Hoffnung, dass die Toleranz gegenüber neuen Klängen nach wiederholter Begegnung mit diesen ansteige, mag der Hörbiografie der Programmmacher geschuldet sein – auf das Publikum übertragen lässt sie sich nicht. Dieses verspürt entweder Neugier oder lässt es bleiben. Und reagiert gereizt, wenn Erwartungen durchkreuzt werden. Allerdings, und hier kommt endlich die gute Nachricht, in beide Richtungen: Bei den Silvesterprogrammen des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg unter Ingo Metzmacher wussten die Besucher lediglich, dass sie ein Konzert lang Neues zu Gehör bekommen würden – die Konzerte standen unter dem Motto „Who Is Afraid Of 20th Century Music?“ –, und dennoch füllten sie die Hamburger Laeiszhalle, weil ihre Erwartung nicht enttäuscht wurde.