Mein Wecker klingelt. „Klingeln“ ist eigentlich ein veraltetes Verb in Verbindung mit dem morgendlichen Aufsteht-Ritual. Es klingelt ja nichts. Mein Wecker spielt ab – so müsste es eigentlich heißen. Er spielt genau den Song, den ich mir ausgesucht habe. Manchmal sogar den, den ich selbst geschrieben hab. Letztes Jahr war es aber meistens die Morgendämmerung aus Peer Gynt. Ja, kitschig und nein, kleine blaue Tauben helfen mir nicht beim Anziehen meiner Prinzessinnenschuhe.
Sobald ich wach bin schaue ich bei Facebook und Twitter, was es Neues gibt. Manchmal beantworte ich auch schnell eine Mail. Während des Frühstücks schaue ich gelegentlich Jimmy Fallon, John Oliver oder eine alte Harald Schmidt Folge. Außer ich habe eine FrühstücksgefährtIN. Dann nicht. Dann raffe ich mich zu Smalltalk auf, der jedoch meistens schlabbriger ist als mein Frühstücksei. Ich bin morgens nicht sehr gesprächig.

Auf dem Weg zur Uni höre ich meistens Musik, oder eine Zeitung (quasi als Hörzeitung). Das Navi lotst mich am Stau vorbei und kennt den Weg besser als ich.
An der Uni angekommen prokrastiniere ich mit Zeitungsartikeln, Youtube, Blogs.
Recherchiere über Onlinebibliotheken und lese häufig E-Books.

Abends schaue ich Filme/Serien/Youtube/Mediatheken oder gehe aus.

Warum diese Auflistung eines Durchschnittstages?

Um aufzuzeigen, dass es nicht mehr „Print, Radio, Fernsehen und Internet“ gibt, sondern (bei mir) nur „Internet“.
Ich habe weder einen Wecker, ein Navi, einen Fernseher noch ein Radio oder eine Printzeitung. Dennoch rezipiere ich all diese Medien ÜBER das Internet. Es ist also kein Medium neben anderen, sondern die anderen sind Medien IM Internet. In meinem Durchschnittstag fehlt das Radio. Aber die Inhalte eines Radios nehme ich dennoch wahr.

Daher konkurriert das Radio nicht nur mit Spotify, iTunes und CDs. Es konkurriert mit allen Informations- und Unterhaltunsmedien. Als Nebenbeimedium („Weniger als 10% der Radionutzung hat den Charakter konzentrierter Aufmerksamkeit; weit über 50 Prozent der Radionutzungsvorgänge in allen zugrunde gelegten Alltagssituationen haben beiläufigen Charakter“: Ekkehard Ohemichen) wurde es wohl von Facebook abgelöst.

Was ist heute noch das Alleinstellungsmerkmal des Radios?

Informationen?

„Unabhängig von den beschriebenen Alltagsszenerien der Radionutzung spielt das Interesse an hintergründigen Radioinformationen, die konzentrierte Aufmerksamkeit erfordern, nur noch eine geringe Rolle“ (Oehmichen). Außerdem: Twitter ist schneller. Zeitungen sind relevanter.
Musik?

Nein, da ist Spotify und Youtube trendgebend. Warum sollte ich denn Musik hören, die mir überhaupt nicht gefällt?

Was bleibt?

Heimatgefühl?

Da muss ich gestehen: Es ist ein gutes Gefühl, wenn nach einer langen Fahrt der „Heimatsender“ wieder erreichbar ist, aber nunja… Es ist auch ein gutes Gefühl wieder im heimischen Wlan zu sein. Oder die bekannte Umgebung wieder zu erkennen. Oder Essen bei Oma.
„Heimat“ braucht kein Radio.

Was agiert denn nun als Herz des Radios?

Ein Exkurs:

Bei Viva und MTV fragt man sich gerade: „Wtf? Wo sind denn die ganzen Jugendlichen hin?“ und die Bravo antwortet: „#Yolo, sind die vielleicht alle in der Spielhalle?“

Nein, die meisten stalken die Shopping-Eskapaden von Bibis Beauty Palace, bekommen Lifestyle-Tipps von Sami Slimani, oder messen ihre Zockerkünste mit Gronkh’s „Let’s play“ Videos.

Inhaltlich ist das alles ein altes Gut: Zeitschriften zeigten schon früher die neueste Kleidung, was man gegen Pickel machen kann und Game One oder GIGA zeigten im Fernsehen die neuesten Games.
Warum interessieren Jugendliche nun nicht mehr die Meinungen von Profis? Warum interessiert sie die Meinung von irgend einem fremden Amateur?

Die Antwort findet sich bei Apple. Apple Produkte zeichnen sich dadurch aus, dass sie kinderleicht zu bedienen sind. Früher musste man Profi sein, um passable Filme zu drehen, um Musik aufzunehmen oder vor einer Kamera sprechen zu können. Heute ist das für wenig Geld jedem zugänglich. Selbst wenn ich 100 Versuche brauche um einen geraden Satz in die Kamera zu sagen, kostet mich dass keinelei Materialkosten; nur Zeit. Und davon haben Schüler trotz G8 genug (eigene Erfahrung).

Hinzu kommt der kumpelhafte Charme. Was im Fernsehen/Radio/Print von Erwachsenen abgesegnet werden muss um veröffentlicht zu werden, braucht bei Youtube einfach nur eine gehörige Portion Selbstbewusstsein und eine Prise Schamlosigkeit gepaart mit Selbstdarstellungswahn. Dadurch entstehen Formate, die viel näher an der Zielgruppe dran sind. Erklär mal deinen Eltern, warum man ein Video von seinen neuen Schuhen machen will. Tiffany und Bibi stellen das gar nicht infrage.

Die theoretische Zielgruppe eines Youtube Videos ist weniger die Masse als der beste Freund. Wenn es den besten Freund interessieren würde, ist es relevant genug. Inhaltlich kommt da eine Menge Murks heraus, aber mir geht es mehr um die Form und die Methode, als um den Inhalt.

Exkurs Ende.

Bringen wir nun die Überlegungen zusammen:
a) Radio ist ein Teil des Internets
b) Amateure regieren das Internet

Das Radio ist linear. Das Internet nicht.
Podcasts könnten eine Lösung sein. Gleich zu Ende denken und die 24h Berieselung beenden. Radio sollte nur noch Podcasts machen, die man dann in seinem Auto/Handy/Notebook abspielen lassen kann, wann immer man möchte. Gerne als Playlists.

Das Radio ist viel zu perfekt. Mehr Versprecher, mehr Lacher, mehr „hmm, was ist da jetzt denn passiert“mehr menscheln! Nichts stört mich mehr als ein Moderator, der gern ein Roboter wär‘. Schafft euch doch nicht selbst ab! Irgendwann ist Google soweit und die Vorlesefunktion ist ausgereift: Perfekte Aussprache, fehlerloses Lesen, 24h gut gelaunt und effizienter als kleine Kinder in Taiwan.

Kommen wir zum Amateurgedanken: Den müssen wir differenzierter betrachten. Erfolgreiche Youtuber sind keine Amateure. Viele sind Unternehmer mit eigener Firma. Die richtigen „Amateure“ bleiben meist erfolglos. Amateur-sein ist bei Youtube mehr façon als méthode. Sprich: „Es ist harte Arbeit, aber darf nicht so aussehen/klingen“. Ich fordere mehr (gespielte) Authentizität. Natürlich sind die bekannten Youtuber nicht authentisch. Aber ihre fehlerhafte Art vermag es den Zuschauern das Gefühl von Authentizität zu geben.

Die Sprache ist die natürlichste Methode der Kommunikation und das Radio ist vor allem eines: Das gesprochene Wort. Doch wenn ich einem Moderator nicht mehr glaube, dass er seine eigenen Worte verwendet, seine eigene Gedanken äußert, dann verschenkt er seine wertvollste Ware.

Was ist nun das Herz des Radios?
Es ist die Nähe. Die blanke Stimme eines Moderators, der spricht.

Aber eines fehlt noch:

„Kunden, denen Taylor Swift gefällt, gefällt auch Miley Cyrus.“

Eigentlich eine super Sache: Man bekommt Musik empfohlen, die dem eigenen Geschmack ähnelt. Doch will man das? In Maßen: ja. Aber da jeder Streaming-Dienst und Videoanbieter so funktioniert, wird es fast unmöglich auf Dinge hingewiesen zu werden, die dem eigenen Geschmack zuwider sind.
Doch gerade die Empfehlung fremder, noch unbekannter aber guter Musik, die beim ersten Höreindruck noch nicht überzeugt  (komplexe Musik – E-Musik) bedarf eines Moderators, der die Musik an unerfahrene Ohren vermittelt.

Kunden, denen Taylor Swift gefällt, könnte auch Edvard Grieg gefallen“ (Eigene Erfahrung).

Das ist die Chance jenes Mediums, vor dem manch sich einst genauso fürchtete, wie heute vor der grenzenlosen Digitalisierung:

Ich fürchte mich vor dem Radio. Humanistisch gesinnte Menschen (im Gegensatz zu den Elektrotechnikern) befreunden sich schwer mit einer neuen Erfindung. Ihre Phantasie …, wiewohl doch gerade für Dichtungskraft und Blitzschnelle bekannt – kommt nicht so rasch mit. Lange Zeit steht das technisch Neue in ihrem Dasein wie ein trojanisches Pferd, das die Götter zur Versuchung ins Leben hineinpraktiziert haben.

(Anton Kuh)