In meinem letzten Beitrag bin ich ja bereits auf den E&U-Musik-Aspekt in Renners Rede eingegangen. Der Berliner Kulturstaatssekretär wirft auf der gleichen Veranstaltung aber noch einen anderen Köder aus: er fordert (für Berlin) die KOSTENLOSE Liveübertragung von Opern- und Sprechtheateraufführungen ins Internet (wohl für die ganze Welt). Als Analogie führt er die Einführung des Kunstdrucks an. Der Louvre sei ja heute wie zu allen Zeiten trotzdem sehr gut besucht. Der Vergleich hinkt ein wenig, auch wenn er für die großen Kulturtanker (und das sind die Berliner Bühnen allemal) gelten mag. Die Frage ist doch: wie sind die Auswirkungen auf die Kulturgrundversorger (das ist keinesfalls böse gemeint) vor Ort?

Ich bin ja selbst nicht unbedingt ein Verfechter der Alles-umsonst-Mentalität. Und eine pixelige Übertragung kann das Liveerlebnis nicht annähernd ersetzen, aber vielleicht lassen sich ja dadurch neue potentielle Zuschauerschichten erreichen. Die Frage ist nun, ob das kostenlose Livestreaming der Großen der Theaterlandschaft insgesamt mehr Zuschauer beschert oder – und das ist meine Sorge – ob damit nicht auch zu einem gewissen Teil eine Kannibalisierung stattfindet: die Theaterinteressierten in Rostock, Augsburg und Wiesbaden gehen weniger ins Theater vor Ort, um sich ab und an eine schillernde Aufführung aus der Weltstadt Berlin ins Wohnzimmer zu holen. Das städtische Theater bekommt einen Konkurrenten mehr, der die begrenzte Zeit der Kulturkonsumenten in Anspruch nehmen will.

Dumpfbacke vs. Kultur-#aufschrei

Dennoch: die heftigen allergischen Reaktionen aus der Kulturszene, wie ich sie etwa auf Twitter mitbekomme, halte ich für überzogen. Der „Kultursenatorendumpfbacke“, die das Popbusiness in- und auswendig kennt, wird Ahnungslosigkeit vorgeworfen, wenn es um das hohe deutsche Gut, die Theaterlandschaft geht… Ist aber manchmal nicht ein frischer, vielleicht auch naiv wirkender Blickwinkel von außen doch hilfreich, um festgefahrene Situationen aufzubrechen? Will Renner eventuell nur eine Debatte in den Kulturbetrieb tragen (und dort selbständig ausdiskutieren lassen), die er für wichtig hält und tut dies durch seine überspitzten Äußerungen?

Aber aufs diskutieren scheinen leider wenige so richtig Lust zu haben, aufs ausprobieren noch viel weniger.

Olaf Zimmermann (Deutscher Kulturrat) lehnt bereits fünf Tage nach der besagten SPD-Veranstaltung den dort vorgebrachten Renner-Vorschlag strikt ab. Seine Argumente gegen den Wertverfall von Kultur in allen Ehren! Aber entweder ist der Mann ein Sehr-Schnelldenker oder er erstickt da eine meiner Ansicht nach spannende Debatte im Keim.

Zwei Dinge sollte man bedenken, bevor die Hochkulturszene reflexhaft das Hashtag #Kulturaufschrei einführt:

Erstens wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Vermutlich wollte Renner die o.g. deutsche Theaterlandschaft bewusst (zum nachdenken) provozieren, eine Debatte ANREGEN und nicht vollendete Tatsachen präsentieren.

Und zweitens sollte man es doch zumindest mal ausprobieren mit den Umsonst-Livestreams, um zu wissen, ob das klappen kann oder zum scheitern verurteilt ist. Eine Diskussion mit Bauchgefühlen statt mit halbwegs belastbaren Zahlen zu führen, klingt für mich nach einem klavierspielenden Elefanten: faszinierend anzusehen, aber schön ist das nur mit Oropax.

Best practice

Aus persönlicher Erfahrung kann ich nur auf das Theater Ulm verweisen, das seit geraumer Zeit einzelne Vorstellungen in homöopathischen Dosen auf der eigenen Webseite präsentiert. (Kann der Kulturrat diese Praxis bitte auch gleich „strikt ablehnen“, auch wenn die das aus eigenem Antrieb machen?)

Flankiert, bzw. gegenüber dem Vororterlebnis aufgewertet wird das in Ulm durch Einführungsclips und die Verweise auf andere Vorstellungen im Haus sowie eine betreute Gruppenchatfunktion, die die sofortige Interaktion untereinander oder Detailfragen an das Theater Ulm erlaubt. Vielleicht sogar ein Mehr-/Anderswert gegenüber dem stillen Konsum im dunklen Zuschauerraum?

Tina Lorenz erwähnt in ihrem lesenswerten Nachtkritik-Beitrag „Auf die Plätze, fertig, stream“ noch die Bayerische Staatsoper, die dank Sponsoren einzelne Aufführungen live ins Netz streamt.
Aber sonst ist das www-Feld von Theaterseite* her noch ziemlich unbeackert. Leider.

Es fehlen die praktischen (negativen) Erfahrungen für ein kategorisches Nein zu kostenlosen Theaterübertragungen. Ich freue mich auf belastbare Ergebnisse, auch wenn es Fehlschläge sein könnten!

*Im Konzertsektor scheint sich ein (wirklich kleines) bisschen mehr zu tun. Das würde an dieser Stelle aber den Rahmen sprengen, daher empfehle ich als leichte Einstiegskost den RONDO-Artikel Virtuelle Konzertsäle. Live, in Farbe und im Internet, der dieses Thema anschneidet.

Update: nachtkritik.de haut mit dezentem Ping in die selbe Kerbe