Ich bin ein Genie und ich darf alles (Kommentar zur Barenboim-Debatte)

In der Debatte um das Fehlverhalten prominenter Figuren der Klassik (aktuell ist Barenboim Thema) fällt eines auf: selbst die kritischsten Artikel überschlagen sich geradezu in unterwürfigsten Geniebekundigungen. Eine schnelle Google-Suche mit den Begriffen “Barenboim” und “Genie” fördert gleich alle Artikel zum Thema zutage:

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“Barenboim ist eines der wenigen Genies” schreibt zum Beispiel Eleonore Büning zu seiner Verteidigung, wobei sich die Frage stellt, ob Eleonore Büning die führende Vertretung der Genieerkennung darstellt und woher sie so genau weiß, dass es momentan nur wenige Genies gibt.

Auch Manuel Brug verbeugt sich – “Barenboim ist ein Genie – und ein Diktator” – aber obwohl sein Artikel sehr kritisch ist, kommt er doch nicht umhin, die Begriffe “Diktator” und “Genie” in einen direkten Zusammenhang zu stellen. Warum eigentlich muss ein Genie ein “Diktator” sein? Hat das irgendetwas miteinander zu tun?

Die Berliner Zeitung überschlägt sich geradezu: “Barenboim ist ein Genie. Musikstudenten geben alles, unter ihm spielen zu dürfen, weil hier einer alles hört, alles kann und….”, ok, ist ja gut…Letztlich ist das alles nur Wiederholen des Joachim Kaiser – Zitats “Daniel Barenboim ist das letzte Genie der klassischen Musik”. Was ja auch erst einmal eine Ansage ist. Warum ist er das „letzte Genie“? Kann nach ihm keiner mehr kommen?

Kurzum: man kann alle Artikel – Pro oder Contra Barenboim – jeweils auf einen gemeinsamen Nenner bringen:

a) Barenboim ist das größte Genie überhaupt und darf das.

b) Barenboim ist zwar das größte Genie überhaupt, aber vielleicht sollte er ja doch ein bisschen netter sein.

Ich sage jetzt mal etwas, was vielleicht noch keiner gesagt hat: Es ist mir bei der Thematik um die es geht scheißegal ob Barenboim ein Genie ist oder nicht. I don’t give a damn. Und warum?

Wenn Leonardo da Vinci das Auto, das wir ihm geliehen haben, zu Schrott fahren würde, würde sicherlich keiner auf die Idee kommen, kein Geld zu verlangen, nur weil es DER Leonardo da Vinci ist. Es fiele einem leicht, genau zu trennen zwischen dem Genie von Leonardo da Vinci und der simplen Tatsache, dass ein Sachschaden entstanden ist, der nun ersetzt werden muss. Denn die zwei Dinge haben nicht das Geringste miteinander zu tun.

Oder anders gesagt: weil da Vinci das Auto zu Schrott gefahren hat, ist er weder weniger genial, noch ist er – weil er genial ist – erhaben über den Schaden. Nachdem er den Schaden bezahlt hat, kann man ihn ohne Probleme weiter bewundern, aber in dem Moment, in dem man das Geld ersetzt haben möchte, spielte diese Bewunderung nicht die geringste Rolle, weil es einfach um ein normales Verhalten innerhalb einer akzeptierten und auch zum friedlichen Zusammenleben notwendigen gesellschaftlichen Konvention geht: Wer den Schaden verursacht, muss die Verantwortung übernehmen.

Kaum betreten wir aber den Bereich von psychischem Schaden, wird es anscheinend für viele Menschen nebulös, und plötzlich erscheinen lauter Verteidigungsstrategien, die jeweils die Karte des „Besonderen“ ausspielen. Schon bei Siegfried Mauser – welche genaue Stufe der Genialitätsskala er hat, kann uns sicherlich Eleonore Büning sagen – war plötzlich ständig von dem “wunderbaren Künstler” die Rede, dabei ging es nicht um die Interpretation von Mozart-Sonaten sondern um schnöde sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung.

Auch bei Barenboim greifen schon wieder dieselben Mechanismen: ja, warum hat denn dieser Posaunist so lange bei mir gespielt, wenn ich angeblich so schlimm bin, fragt Barenboim, und vergisst dabei das entscheidende Detail: dass es auch keine Entschuldigung für ihre Ehefrauen prügelnde Männer ist, wenn ihre Frau dennoch aus einem Abhängigkeitsverhältnis heraus bei ihnen bleibt.

Ich will die Barenboim-Übergriffe gar nicht beurteilen, da ich zu wenig darüber weiß. Tatsache ist aber, dass man in der Musikszene – genau wie im Fall Levine – schon sehr lange hörte, was da läuft (und das nicht nur von vier einzelnen Personen), und dass es sich sicherlich nicht nur um eine Handvoll Beleidigter handelt, sondern ein größeres Problem ist. Wenn ein mächtiger und jähzorniger Tyrann in die Runde fragt “wer hat denn was gegen mich?” ist nicht damit zu rechnen, dass alle begeistert die Hand heben und “ich” schreien, eher im Gegenteil. Und genau diese Situation haben wir hier.

Ich gebe aber Barenboim auch nicht allein die Schuld – er kommt aus einer Generation, in der psychische Übergriffe und das brutale Bloßstellen wie auch Quälen von Musikern quasi an der Tagesordnung war, weil man sich Disziplin eben so vorstellte. Ein Celibidache z.B. war damals nicht anders, vielleicht sogar schlimmer, und das unter der Maske des friedlichen Buddhisten. Viele haben darunter gelitten, aber sie haben darüber geschwiegen, weil die Zeit anscheinend noch nicht genügend Mut aufbrachte, dies zu thematisieren.

Eine kleine Geschichtserinnerung: wie jeder, der sich ein bisschen mit der Historie der industriellen Revolution beschäftigt hat (oder mal Charles Dickens gelesen hat) weiß, arbeiteten um die vorletzte Jahrhundertwende z.B. in England Erwachsene und sogar Kinder unter den unwürdigsten und qualvollsten Bedingungen in Fabriken oder Minen. Mit der Zeit entstand ein öffentliches Bewusstsein dafür, dass ein Fabrikbesitzer auch für die Gesundheit und das Wohlergehen seiner Arbeiter verantwortlich ist. Es entstanden Gewerkschaften, die die Rechte der Arbeiter stärkten und ihre Lebensbedingungen verbesserten. Bis heute aber arbeiten an vielen Orten dieses Planeten weiterhin Menschen unter den schlimmsten Umständen, und der einzige Weg, dies zu ändern, ist die Rechte dieser Menschen zu stärken und ihnen mehr Mitbestimmung zu ermöglichen. Niemand käme auf die Idee zu sagen, dass die Stärkung der Rechte der Arbeiter zum Niedergang der Weltwirtschaft geführt hat. Klar, die Industriellen müssen mehr Energie aufwenden, um ihre Arbeiter besser zu versorgen, aber gesunde und zufriedene Arbeiter stärken eben auch die Qualität der Produktion. Geldgier und Ungeduld erzeugen kurzfristig Profit auf Kosten anderer Menschen, aber wer eine stabile Konjunktur haben will, muss auch an die Arbeitskräfte denken. In Orchestern sollte es eigentlich nicht anders sein, oder doch?

Orchester sind zwar keine Fabriken, aber gerade deswegen hat sich vielleicht ein gewisser Geist des industriellen Zeitalters erhalten. Im 19. Jahrhundert wurde die Saat für den Maestro-und Geniekult gelegt, der vor allem in der klassischen Musik aber auch in den Theatern bis heute überdauert. Während Schriftsteller schon lange (anders als der zu Lebzeiten noch vom Geniekult profitierende Goethe) Personen des öffentlichen Lebens sind, und sich in diesem auch stets Kritik aussetzen müssen (das Wort “Genie” fällt in der Literatur selten bis kaum, obwohl es heute genausoviel außergewöhnliche Schriftstellerinnen und Schriftsteller gibt wie auch in den Zeiten davor), während selbst die genialsten Architekten Kritik einstecken müssen und bildende Künstler selten bedingungslose Kniefälle vor ihrer Arbeit erleben, hat sich allein in der Musik – der für die Laien mysteriösesten und undurchschaubarsten Kunst – der Geniekult des 19. Jahrhunderts perfekt gehalten. Müssten wir uns also jetzt nicht die dringende Frage stellen: Brauchen wir ihn überhaupt noch?

Hat ein Barenboim davon profitiert, dass man vor ihm ständig den Kotau des untertänigen Geniebewunderers gemacht hat? Wurde er dadurch netter, umgänglicher, sozialer? Vielleicht nicht eher das Gegenteil? Und überhaupt: profitieren echte Genies überhaupt davon, wenn man sie immer ehrfürchtig und untertänig behandelt? Auch ein Einstein wurde nicht Einstein, weil alle seine Wissenschaftskollegen ihn ständig wie ein rohes Ei behandelten und ihn nie kritisierten. Ganz im Gegenteil: sie forderten ihn heraus, wiesen ihm Denkfehler nach, diskutierten mit ihm. So funktioniert Wissenschaft, und Einstein profitierte davon, er nahm keinerlei Schaden sondern wuchs mit der Herausforderung. Deswegen ist er als Genie auch ein positives Beispiel: Seine Eitelkeit hinderte ihn nicht daran, ständig Selbstkritik und Reflektion seiner Ideen zu betreiben.

Daher sage ich: kloppt doch diesen ganzen Geniequatsch endlich mal einfach in die Tonne. Behandelt die Menschen alle fair, freut euch über Talente und fördert sie (selbstverständlich!), aber macht ihnen nicht ständig weis, dass sie alles dürften und dass für sie keinerlei Regeln des Umgangs gelten, denn dann werden sie ganz bestimmt nicht bessere Menschen und auch nicht bessere Genies. Und wer dann ein Genie (und bitte auch eine Genie-in, denn die gibt es auch!) war oder nicht, sollen nachfolgende Generationen entscheiden, die dann auch weiterhin darüber rätseln dürfen, ob Shakespeare nun seine Werke geschrieben hat oder nicht. Aber ist das nicht eigentlich egal? Irgendein menschlicher Drang, dem wir irgendwann einmal den Namen “Shakespeare” gegeben haben, hat etwas Wunderschönes und Unvergleichliches in die Welt gebracht, an dem sich noch viele Generationen erfreuen werden. Und daran haben wir letztlich alle mitgewirkt. Ohne Menschheit kein Einstein, kein Descartes, keine Marie Curie und auch keine Jane Austen. Ohne Menschheit kein Barenboim. Und als Menschheit haben wir auch Mitverantwortung für dieManieren unserer Genies.

Daher würde ich mir wünschen, dass alle diejenigen, die unter Barenboim etwas zu erleiden hatten, das Gespräch mit Barenboim suchen. Es geht letztlich darum, eine Situation zu erzeugen, in der man auch ermutigt wird, jemandem wie Barenboim auf Augenhöhe mit Kritik zu begegnen, ohne dass man um seinen Job fürchten muss oder gleich vorgeworfen bekommen muss, dass man an einem heiligen Idol kratzt. Habt Mut: wenn ihr diese Kritik anbringt, hat das nicht das Geringste mit seinem Dirigat zu tun, und macht dies auch nicht schlechter. Und von Barenboim würde ich mir das Genie wünschen, dass er diese Kritik nicht wie viele seiner eilfertigen Verteidiger als Ehrverletzung abtut, sondern sie annimmt und vielleicht auch etwas an seinem Verhalten ändert bzw. sich auch entschuldigt. Dann stünde doch auch einer Vertragsverlängerung nichts im Weg – beide Seiten müssten nur einfach miteinander sprechen, ohne dass irgendeine 19 Jahrhundert-Geniekultscheiße, die schon längst nicht mehr zeitgemäß ist, zwischen ihnen steht.

Miteinander sprechen – als Menschen.

Moritz Eggert

 

 

 

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22 Antworten

  1. Stefan Hetzel sagt:

    @Moritz: Stimme vollinhaltlich zu.

    Allerdings stellt sich mir die weitergehende Frage, ob das bürgerliche Musikfeuilleton **ganz** ohne Genies überhaupt funktionieren kann. Der Feuilletonist hat nämlich weiterhin das Bedürfnis, sich gelegentlich einer irgendwie mysteriös „künstlerisch“ legitimierten Autorität bedingungslos zu unterwerfen, schon damit er mal aus seinem alltäglichen Nörgelmodus raus kann. Denn **eigentlich** bewundern KritikerInenn ja lieber, als zu verreißen (Ich spreche hier aus eigener Erfahrung als Musikkritiker.) Meistens allerdings haben sie keinen Bock, das zuzugeben. Auch verständlich.

    Kommt noch dazu, dass der Klassikbetrieb eine Zeitmaschine ist, die die Sehnsucht meist etwas besserverdienender EurozentrikerInnen nach einer Epoche klarer Hierarchie befriedigt. An der Spitze steht dann immer jemand, der es auch verdient hat, denn die Klassik-Klientel ist durch und durch meritokratisch gesinnt. Bei einer Komponistin tritt die Schöpfungshöhe offen zutage, sie hat etwas erschaffen, was vorher noch nicht da war. Beim lediglich interpretierenden Dirigenten ist das nicht so offensichtlich. Muss er deswegen so besonders „besonders“ auftreten? (vgl. auch das Verhältnis von TheaterautorInnen und SchauspielerInnen).

    Ich denke, eine bestimmte Form von „Genialität“ als soziokulturelles Phänomen kommt grade an ihr Ende (vgl. auch die #MeToo-Debatte), aber das menschliche Bewunderungs- und Unterwerfungsbedürfnis bleibt uns erhalten. Lediglich das Rollenmodell wird upgedatet, von „Herbert von Karajan“ nach „Steve Jobs“.

  2. Lüneburg sagt:

    Eine sehr beeindruckende Stellungnahme, vielen Dank dafür !
    Heinrich Lüneburg

  3. @Stefan: Du hast sicherlich Recht, dass es diesen Drang zur Heldenverehrung immer geben wird, weil der Alltag immer wieder überhöht werden möchte. Wenn ich die Abschaffung von „Geniekult“ fordere, meine ich nicht, dass man besondere Leistungen nicht mehr anerkennen und nicht mehr bewundern darf, sondern dass man den zwischenmenschlichen Umgang besser von diesen Leistungen trennt. Der Schriftsteller Stanislaw Lem (auch ein Genie, meiner Meinung nach) hat übrigens die klügste Definition von „Genies“ aufgestellt, die ich kenne, in seinem Essayband „Die vollkommene Leere“, siehe hier: https://books.google.de/books?id=Qug7CgAAQBAJ&pg=PT90&lpg=PT90&dq=am+ende+werden+die+genies+zweiter+klasse+erkannt+stanislaw+lem&source=bl&ots=ZQa28EXWFu&sig=ACfU3U0iCIh4fPh-d2PRHnZbOi5e2hQjZA&hl=en&sa=X&ved=2ahUKEwiAtpjKn-rgAhXFjqQKHV8AB1oQ6AEwAHoECAgQAQ#v=onepage&q=am%20ende%20werden%20die%20genies%20zweiter%20klasse%20erkannt%20stanislaw%20lem&f=false
    Nach seiner Erklärung werden die eigentlichen Genies (der Extraklasse) nämlich von der Gesellschaft gar nicht als solche erkannt :-)

  4. Jürgen sagt:

    Was hat denn Barenboim angeblich gemacht?

  5. Gefällt mir sehr gut dieser Kommentar. Möchte nur mal eines zu bedenken geben: den leichtfertigen Umgang mit dem Begriff GENIE. sollte man den wirklich für nachschaffende Künstler benutzen und nicht vielleicht besser den primär Kreativen vorbehalten, also Komponisten, Dichtern, Malern, Dramatikern?

  6. Andreas Böhlke sagt:

    Liebe Grüße, ich habe den Artikel nicht ganz gelesen, aber ich finde die Schuldfrage richtig gesehen. Es ist nicht notwendig einen Musiker vor versammelter Mannschaft fertig zu machen. Dirigenten wie z.B. Ivan Fischer zeigen, dass ein gemeinsames erarbeiten eines Stückes ohne Druck und Vorführen möglich ist. Jeder Instrumentalist eines Orchesters hat Probespiel gegen viele gute Kandidaten gewonnen und Probejahr bestanden, ist also in der Lage alle Anforderungen zu erfüllen. Menschen wie Herr Barenboim vergessen oft, dass die Musiker am Abend spielen und keiner die Fehler und Gurken des Dirigenten sieht und hört, sondern nur ob ein Horn gekiekst oder eine Geige zu früh eingesetzt hat – weiterhin können sich Dirigenten wohl nicht erinnern, dass es auch Familie, Freunde und Freizeit geben sollte und darum nicht jedes Konzert zur ersten Probe optimal vorbereitet sein kann. Gute Dirigenten nehmen dies zur Kenntnis und wissen, das am nächsten Tag die Stellen in Ordnung sind . Andreas

  7. Schneider sagt:

    Lieber Moritz, das ist ein sehr wichtiger Denkanstoss, den Du geschrieben hast. „Genie“ oder „Ausnahme-Künstler“, (Begriff, der mir persönlich besser gefällt, da ich den Bereich der schaffenden Künstler als der, einer möglichen Genialität ansehe) sind wir als Sänger, Instrumentalisten oder Dirigenten unabhängig vom Verhalten, das finde ich einen äußerst wichtigen Punkt. Das eine hat mit dem Anderen nichts zu tun und die Vergleiche mit Da Vinci z. B. Finde ich einleuchtend. Dir Vielen Dank dafür
    Valentine Schneider geb. Deschenaux

  8. Gregor Witt sagt:

    Lieber Herr Eggert, ich würde gern ein wenig zur Versachlichung der Debatte und Beruhigung Ihrers Furors beitragen. Ich befürchte Sie sitzen einigen Missverständnissen auf. Es ist ja geradezu rührend, wie Sie nichts weniger als stellvertretend für die ganze Menschheit fragen, ob „wir“ „IHN“ noch brauchen. (Es hat Sie persönlich allerdings niemand gefragt.) Lassen Sie doch diese Frage jene beantworten, die ihn in Konzert und Oper hören möchten und die mit ihm Musik machen. Das ist in der Kunst eine gute Gepflogenheit. Wie diese Antwort ausfällt ist ja hinlänglich bekannt. Dabei ist es völlig nebensächlich wer Daniel Barenboim für ein Genie hält. Und nein, Sie müssen sich diese Frage nicht dringend stellen, auch nicht beim gendern des Genie-Begriffes (vergessen Sie bitte nicht das dritte Geschlecht dabei). – Ich bin eher nachdenklich gestimmt und bestimmt kein „eilfertiger Verteidiger“ , finde allerdings die vorauseilende Diskreditierung von Menschen, die möglicherweise nicht Ihrer Meinung sind ausgesprochen unpassend zu Ihrer Attitüde der Menschlichkeit. Ich würde mir ein Minimum an Kenntnis wünschen, bevor man sich über andere Menschen äußert. Auch das gehört zu den von Ihnen postulierten guten Manieren. Und etwas weniger Fäkaljargon in einem öffentlichen Beitrag nach meinem Geschmack auch. – Alle anderen Fragen kann die Staatskapelle Berlin sehr gut selbst klären. Dass es in 28 Jahren intensiver und oft leidenschaftlicher Zusammenarbeit unter hohem und von Publikum und Kritik befeuertem Leistungsdruck in einem Spitzenorchester auch schwierige Situationen gibt ist sicher im Einzelfall unerfreulich aber auch nicht so ungewöhnlich. Es geht eben um eine gemeinschaftlich zu erbringende Spitzenleistung, die nicht immer ohne Druck, wohl aber ohne Verletzungen erbracht werden sollte. Das ist Konsens. Darüber befindet sich die Staatskapelle, wie im übrigen auch in der Presse (FAZ) zu lesen, im Lichte sich verändernder Ansprüche an den Führungsstil in einem Dialog auch mit ihrem Chefdirigenten. – Mitarbeiter in jedem Beruf werden über kurz oder lang Frustration erfahren, wenn sie ihren Aufgaben nicht voll gerecht werden können. Es ist bedauerlich, wenn -allerdings nicht mal eine Hand voll- ehemalige Kollegen sich verletzt fühlen, es ist auch sicher deren Recht. Warum sie in einer für sie kriesehaften Situation nicht aktiv Unterstützung in den dafür zuständigen Gremien bis hin zum Personalrat gesucht haben ist nicht ganz klar. Dafür nach 10-20 Jahren nach ihrem Weggang das „System Barenboim“ in Unkenntnis unserer derzeitigen Arbeit medienwirksam erklären zu wollen ist mehr als fraglich und man darf doch nach der Motivation fragen .- Die sehr offensichtliche mediale Überhöhung nicht repräsentativer Einzelmeinungen ist ja typisch für die Gier nach Sensationen. Auf diesem Trittbrett reist es sich leicht „likes“ heischend durch das Netz. Da gibt es hier ein Opfer, da den Bösewicht, Differenzierungen unerwünscht. Der Mode folgend lässt sich über die mediale Herabsetzung anderer die eigene Bedeutung gern erhöhen und eigene Macht durch Deutungshoheit gewinnen. Diese Strukturen sollte man zu durchschauen versuchen und nicht noch befeuern. Zum Beispiel durch Sorgfalt in Kommentaren. Man kann ja zu allem eine Meinung äußern, man muss aber nicht, wenn man nicht genügend Informationen hat. – Zum Schluss: ein Spitzenorchester ist kein Streichelzoo und die Staatskapelle Berlin kein Kindergarten, der der Fürsorge der Netzgemeinde bedarf. Ich arbeite gerne in einem sehr kollegialen Orchester wie dem unseren. Diese Meinung muss rückblickend nicht jeder teilen aber sie ist auch eine, die man hören sollte. – Haben Sie einfach den Respekt, das Orchester selbstbestimmt seine Angelegenheiten in die Hand nehmen zu lassen! Vielen Dank! Gregor Witt, Solo-Oboist der Staatskapelle Berlin seit 1992

    • Sehr geehrter Herr Witt,

      Danke für Ihren Kommentar. Bitte haben Sie den Respekt, dass wir uns aus München nach Berlin herab die Berichterstattung ansehen, analysieren und unsere weiteren Recherchen anstellen bzw. Kommentare dazu verfassen. Sie sprechen von Stellen wie Orchestervorstand, etc., wohin sich Betroffene hätten hinwenden können. Sie sprechen von der aktuellen Arbeit. Ihr Intendant Matthias Schulz sah sich nun aktuell veranlasst eine externe Ombudsstelle zu beauftragen. Das mag den Berichten geschuldet sein; diesen doch beachtlichen Schritt unternimmt heute allerdings dann, wenn durchaus Problemlagen auftreten könnten.

      Zur Sache des langjährigen Weggangs: Sie und Ihre aktuellen KollegInnen sowie Ihre ehemaligen KollegInnen stehen ja durchaus in Kontakt, so dass den Ehemaligen die aktuelle Arbeit wohl basal bekannt sein könnte. Nun reden sie öffentlich, nachdem andere es bereits anonym taten. Mögen auch Jahre vergangen sein: die zeitliche Distanz ist eher typisch für ein erst jetzt erfolgendes Sich-Melden, wenn man sich negativ betroffen fühlt/e.

      Daher würde ich Sie bitten, nicht in diese Falle zu laufen, in die vox populi so gerne tappt, wenn es z.B. um richtig schlimme Sachen geht, wie sie z.B. metoo ja beträfen. Wie gesagt, mir geht es nur um das Faktum, dass sich verletzt Fühlende erst Jahre später sprechen: es senkt nicht ihre Glaubwürdigkeit, Opfer welcher Art auch immer melden sich typologisch sehr häufig erst nach längerer Zeit. Daher bitte ich Sie auch um Respekt für die sich als Betroffene gemeldet Habenden. Danke dafür im Voraus!

      Herzlichst, Alexander Strauch

  9. SMeier sagt:

    „Spitzenorchester“, „Spitzenleistung“…..
    Wahrscheinlich muss man das so betonen, wenn man in der gleichen Stadt ein wirkliches Spitzenorchester wie die Berliner Philharmoniker hat…

  10. @Gregor Witt: Ich habe den Eindruck, dass sie die Intention meines Artikels missverstanden haben. Zuerst einmal geht es in dem Artikel eigentlich wenig um Barenboim selber, sondern um die Hauptargumentation seiner Verteidigung, die – anstatt auf die Kritik seriös einzugehen – alles auf die Schiene „Wie kann man nur ein Genie in Frage stellen!“ schiebt. Deswegen ist es auch im Titel ganz klar: es ist kein Kommentar zu Barenboim, sondern ein Kommentar zur Barenboim-Debatte (sic!). Deswegen verstehe ich auch Ihre Bemerkung „Es hat Sie persönlich niemand gefragt“ nicht, da es in der Natur einer öffentlichen Debatte liegt, dass man dazu Stellung nehmen kann, denn sonst wäre es keine öffentliche Debatte. Ich stelle auch nirgends die Frage danach, ob wir ihn „brauchen“ und beurteile ihn auch nirgendwo als Menschen, obwohl Sie das seltsamerweise so lesen. Ich schreibe sogar explizit, dass mir dazu ausführliche Informationen fehlen und ich mir das nicht anmaße. Sie versuchen jetzt auch, die Vorwürfe gegen Herrn Barenboim zu verkleinern, diesmal mit der Taktik „Es ist alles nur modische Hysterie“. Das ist ihr gutes Recht, ich gebe nur zu bedenken, dass ein Zustand, von dem quasi die gesamte Musikwelt schon seit langer Zeit weiß und über den ständig ängstlich hinter vorgehaltener Hand geredet wird, vielleicht doch etwas ernster zu sein scheint, als Sie es gerne sehen würden. Mich haben nach dem Artikel zahlreiche Zuschriften von direkt Betroffenen – auch aus Ihrem Orchester – erreicht, durch die der Eindruck entsteht, all dies sei eigentlich nur die Spitze des Eisbergs. Wie kann das sein, wenn Sie sagen, es seien alles nur orchesterübliche kleine Reibungen im Eifer des Gefechts? Von außen entsteht hier immer mehr der Eindruck, dass es dringenden Redebedarf gibt, bei dem man Kritik nicht gleich abschmettert und kleinredet, sondern ihr offen begegnet. Das wäre auch absolut im Sinne einer guten weiteren künstlerischen Zusammenarbeit mit Herrn Barenboim, die ich im Artikel sogar offen als Möglichkeit wünsche. Aber es ist ganz eindeutig sichtbar, dass es solche Gespräche geben muss, denn wo offensichtlich so viel Angst herrscht, ist dringend Handlungsbedarf. Ich bin eigentlich ziemlich sicher, dass diese Gespräche in diesem Moment bei ihnen hinter den Kulissen stattfinden, und kann Sie nur bitten, die offensichtlichen Ängste der Musiker auch ernst zu nehmen, im Sinne eines besseren Miteinanders.

  11. Gregor Witt sagt:

    @Moritz Eggert
    Danke für Ihre sachliche Antwort. In einer weniger aufgekratzten Tonlage sind Ihre Intentionen verständlicher und eine öffentliche Debatte möglich. – Ich habe meinerseits nicht versucht die Vorwürfe an sich kleinzureden, ja nicht einmal zu werten. Meine Absicht war, sie in Zahl und Umfang in eine angemessene Relation zu setzen und das ist auch von einer ausgewogenen Berichterstattung zu erwarten. Ob die Reibungen in einem „üblichen“ Umfang waren kann ich gar nicht einschätzen, aber zu keinem Zeitpunkt waren sie von dauerhafter Natur. Ich kenne zahlreiche Beispiele aus anderen Häusern, wo es auch verletzte Kollegen gibt, die bei passender Gelegenheit ihrem (vorzugsweise) ehemaligem Chef mal was mitteilen wollen würden (was man eben zeitnah persönlich tun sollte und nicht unbedingt mit 10 Jahren Verspätung öffentlich). Dass es insgesamt mehr Sensibilität gibt ist richtig und begrüßenswert. Deshalb hat der Bühnenverein auch schon vor einem Jahr die Einrichtung entsprechender Ansprechpartner beschlossen, ganz unabhängig von unserem Hause. – Die Vorwürfe sind nun gehört worden und ganz gleich, wie berechtigt sie sind und wie die Genese jedes einzelnen Falles ist, wir haben das als Orchester ernst genommen und beschäftigen uns damit und Daniel Barenboim ist dazu, wie er auch öffentlich erklärt hat, gesprächsbereit. Dass dies intern und mit Ruhe geschieht ist ja selbstverständlich. – Im übrigen reagiert jeder anders auf die gleichen Sachverhalte. Ob aus einer Meinungsverschiedenheit Angst, Wut, Frustration, Motivation oder sonst was entsteht ist sehr individuell und hängt auch von den Strategien BEIDER Seiten ab. Aber einen Grund für Angst gab es für mich in 28 Jahren nie. Angst wovor als festangestellter unkündbarer Musiker? Angst ist auch mit Sicherheit nicht das vorherrschende Gefühl bei Reibungen in einem Orchester. – Es braucht nun Ruhe und Zeit für Dialoge statt einem sehr undifferenzierten und letztlich kontraproduktiven Shitstorm, um insgesamt (und eben nicht nur in Berlin, wie Sie suggerieren) über Führungsstil zu sprechen. Das ist zwar für die Medien langweiliger, dafür aber produktiver. Wir tun das unsererseits und um dies zu nochmal abseits der Presseerklärung der Staatskapelle (FAZ v.2.3.19) mitzuteilen habe ich mich in diese Debatte eingebracht. Eine Schlussbemerkung: gute Führung ist keine Einbahnstraße. Es braucht schon immer mündige und selbstbewußte Musiker, die ihre Rechte wahrnehmen und positiv einen Dialog mit ihrem Chefdirigenten suchen, notfalls auch mit roten Linien. Und das geht fast immer, glauben Sie mir.

    • Sonia G.Y. sagt:

      „Es braucht schon immer mündige und selbstbewußte Musiker, die ihre Rechte wahrnehmen und positiv einen Dialog mit ihrem Chefdirigenten suchen, notfalls auch mit roten Linien. Und das geht fast immer, glauben Sie mir.“

      Das Gegenteil Ihres Arguments erweist der folgende VAN-Bericht: „In mindestens einem Fall fand ein Treffen zwischen Staatsopern-Intendant Matthias Schulz, Barenboim und einem Mitarbeiter statt, in dem eine körperliche Aggression Barenboims thematisiert werden sollte. Schulz habe es abgelehnt, konkrete Maßnahmen zu ergreifen..“

      Der Intendant scheint nicht einmal in der Lage zu sein, seine Mitarbeiter vor der körperlichen Aggression des Dirigenten zu schützen. Ist er überhaupt als Chef in der öffentlich kräftig subventionierten Staatsoper tauglich? Gegen Beide sollte eigentlich ein Disziplinarverfahren wegen Schikane und unterlassener Hilfeleistung eingeleitet werden. Mit derart unzivilisiertem Verhalten dieser Herren sollten Bürger einfach hin wegschauen? Schließlich werden sie durch Steuergelder fürstlich belohnt.

      Sie, Herr Solo-Oboist, bezeichnen die medialen Diskussionen um den Fall Barenboim als „kontraproduktiven Shitstorm“. Sollte Barenboim sich künftig besser benehmen, ist der „Shitstorm“ doch durchaus produktiv verlaufen, nicht wahr?
      A leopard never changes its spots, aber wir warten mal ab.

  12. Sonia G.Y. sagt:

    Das Fehlverhalten Barenboim ist nichts anderes als Machtausübung und Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses. Verbale Beleidigung ist klare Gewalt, die auf den Betroffenen lange Zeit Wirkung hinterlässt. Man sollte präventiv und endlich gegen solche Schikane vorgehen, und es sollten gesetzliche Verbote in Arbeitsräumen geschaffen werden. Dabei sollten Beleidigungen in Anwesenheit mehrerer Personen noch härter bestraft werden. Übrigens, einen Interpreten als Genie zu bezeichnen finde ich maßlos übertrieben.

  13. k. sagt:

    Danke für den wichtigen Kommentar.

    Ich war zugegebenermaßen überrascht über den VAN Artikel – nicht wegen der Inhalte, sondern weil ich davon ausgegangen war, dass die Medien noch länger brauchen würden, um sich an solche großen Namen zu wagen.

    VAN ist nun ein Webmagazin für klassische Musik und beschrieben wurden die vergleichsweise milderen Fälle (seine psychischen Grenzübertretungen und Affären sind immer wieder Gesprächsstoff bei Orchestermusikerkollegen und -kolleginnen). Aber bei dem Namen war zu erwarten, dass auch die allgemeinen Medien den Artikel aufgreifen.

    Klassische Musiker wie Mauser und Kuhn sind zwar in ihren Kreisen übermächtig aber der großen Öffentlichkeit nicht wirklich bekannt. Nicht so Barenboim. Seinen Namen kennen auch Leute, die mit Klassik nichts am Hut haben. (Um Missverständnisse vorzubeugen – ich will damit Barenboim nicht Sexualstraftaten vorwerfen!). Bei Barenboim besteht also die Gefahr, dass die Boulevardpresse die Sache sensationslustig als Skandale ausschlachtet und gleich schwarz-weiß seinen Abgang fordert, womit keinem geholfen ist.

    Mein Eindruck ist, dass die Kulturjournalisten der allgemeinen Medien noch unsicher sind, wieweit sie bei Barenboim gehen können/wollen/dürfen. Es geht nicht nur um die musikalische Genie Barenboims sondern um Machtstrukturen, Finanzen und politische Einflüsse. Und hier geht es nicht nur um Barenboim selber. Es geht nicht nur um die Staatskapelle. Auch seine Familie (alles Musiker) und die Barenboim-Said Akademie werden indirekt betroffen sein, will man dafür verantwortlich sein? Meine Vermutung ist, dass man bei Barenboim schiebt man auch deshalb die Genialität in den Vordergrund schiebt, weil das andere Dilemma noch viel komplexer ist (z.B. dass er sich in anderen Bereichen durchaus als Humanist engagiert mit bewundernswerten Ergebnissen, und dass seine Bekanntheitsgard letztendlich nicht nur auf seinen musikalischen Aktivitäten basiert sondern auf seine politischen Aktivitäten).

    Unabhängig davon haben der Geniekult („der ist nun mal ein genialer Künstler, und er ist nur deshalb so toll, weil er so eine Persönlichkeit hat, das müsse man tolerieren“) und das Bild eines Dirigenten als Despoten („er hat nun mal hohe Ansprüche und ist nur deshalb so streng mit seinem Orchester“) lange gehalten und halten immer noch.

    Aber auch bei nicht-genialen Despoten hat die Musikwelt lang genug weggeschaut (z.B. beim Wettbewerbsjuroren, der seinen Wunschkandidaten durchbekommt, weil die Kollegen keine Lust haben, mit ihm anzulegen, z.B. beim Kinderchorleiter am Theater, der Kinderschutzrichtlinien -Arbeitszeiten – ignoriert, die Kinder für eine Aufführung verwechselt).

    Interessant ist, dass Instutitionen solchen Grenzverletzungen oft erst dann nachgehen, wenn die Vorwürfe in den Medien veröffentlicht werden. Bis dahin fand man das in Ordnung nach dem Motto:

    „Nur Du hast ein Problem“ (also muss es an Dir liegen, dass Du überempfindlich bist, nicht schlagfertig genug bist, Du zuwenig Selbstbewußtsein hast, dass Du nicht hart genug für den Musikerberuf bist).

    „Nur Du hast ein Problem“ (also muss es an Dir liegen, dass Du nicht fähig genug bist, keine Spitzenleistung erbringen kannst, zuwenig Talent hast)

    „Nur Du hast ein Problem“ (und kannst doch gehen, wenn es Dir hier nicht gefällt.)

    (Und nein, die Angst, was man dann hat, muss nicht die Angst vor einer Kündigung sein – es kann genauso die Angst vor den nächsten Wutausbrüchen und Demütigung sein. Denn das ist eigentlich das Krankmachende an solchen Situationen, nämlich, dass das Selbstbewußtsein des Betroffenen irgendwann tatsächlich darunter leidet, der Betroffene also bedingt durch die Grenzverletzungen tatsächlich nicht mehr genügend wehrhaftig ist und dass auch die Leistung darunter leidet.)

    Und wo die Vorwürfe öffentlich werden, findet man die Grenzverletzungen doch so schlimm („so wie sie stattgefunden haben, warum haben die Leute nicht früher geredet?“), dass man eine Diskreditigungskampagne vermutet.

    Warum eigentlich?

    Zum Schluss: Moritz Eggert hat das faire Miteinander erwähnt, Gregor Witt mündige und selbstbewußte Musiker. Hier sind auch Musikpädagogen und andere, die mit dem Nachwuchs arbeiten. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene müssen die Erfahrung machen können, dass ein faires Miteinander sich lohnt.

    Bei uns gab es z.B. eine Jugend musiziert Verantwortliche, die ihren Sohn bei der Anschlussförderung bevorzugt hat. Bis zu einem gewissen Grad ist das ja menschlich verständlich und solange die Förderung fair läuft, ist gegen die Förderung an sich nichts zu sagen. Wenn dies aber hinterlistig auf Kosten der anderen passiert, ist das nicht in Ordnung z.B. wurde mal für ein Preisträgerkonzert mit Orchester einen falschen Probetermin durchgegeben und den betroffenen Jugendlichen dann zum Vorwurf gemacht, dass sie nicht zur Probe erschienen sind, und sie wurden vom Konzert ausgeschlossen. Wer der Einspringer war, kann man sich leicht vorstellen. Heute würde ich mich wehren, und wenn meinem Schüler sowas passieren würde, würde ich einschreiten. Damals haben wir gelernt: so funktioniert das System. Jeder zieht aus solchen Situationen seine eigenen Schlüsse. Manche setzen sich für eine Verbesserung ein, manche verlieren das Vertrauen in die Erwachsenenwelt, manche geben den Berufwunsch aus, manche werden zu Mitläufern, und manche werden zu Tätern. Vielleicht ist den Tätern ja selber auch gar nicht klar, dass sie falsch handeln, man hat es ihnen ja vorgemacht und ihnen beigebracht „so muss man es machen, um Erfolg zu haben“.

    Daher sind alle gefragt – auch diejenigen, die mit Herrn Barenboim persönlich nichts zu tun haben.

  14. Klaus Joter sagt:

    Ich finde den Kommentar zum Teil völlig abwegig – und er „menschelt“ mir zu sehr.

    Der Vergleich mit Leonardo da Vinci und dem kaputten Auto ist völlig abwegig, denn dieses imaginäre Auto und das Missgeschick, es zu Schrott zu fahren, hat nichts mit Leonardos genialem Schaffen zu tun. Bei Barenboim steht die Debatte aber in einem direkten Zusammenhang mit seinem künstlerischen Tun. Der Vergleich hinkt also gewaltig.

    Vorab: Ich kenne keine Interna seines Orchesters und des Konflikts. Aber ich weiß aus eigener, langer Berufserfahrung als Musiker, dass es erstens nur einen Musiker inneralb eines Ensembles geben kann, der leitet. Alles andere könnte oder würde zu endlosen Diskussionen bis hin zu Konflikten führen. Außerdem ist Musik ein so breit angelegtes Gebilde, bei dem derartig viele Wege nach Rom führen, dass eine stringent durchgeführte Interpretation eigentlich nur durch eine singuläre Führung denkbar ist – Ausnahmen bestätigen die Regel.
    Zweitens: Der Begriff „Genie“ ist etwas für diejenigen, die für alles ein Etikett benötigen, sprich für Nicht-Musiker oder Musikjournalisten. Prinzipiell aber ist es ein Prädikat, das erst im Nachhinein vergeben werden kann, d.h. nach dem Ableben der entsprechenden Person, da man erst dann deren Wirken im Kontext mit ihrer Zeit vernünftig evaluieren kann.
    Drittens: Die besten Musiker, mit denen ich zu tun hatte, waren in der Regel die bestimmtesten, die unnachgiebigsten, aber eben auch die besten – und die fleißigsten. Das heißt, dass sie nicht nur mit einem außergewöhnlichen Talent geboren wurden, sondern dass sie ihr gesamtes Leben vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit Musik verbracht haben. Natürlich ergeben sich dadurch gänzlich andere, d.h. deutlich konkretere und begründetere Sichtweisen auf musikalische Werke, als sie von quasi „normalen“ Musikern eworben werden können. Und so tun Musikstudenten gut daran, ihren Professoren zu trauen und zu folgen, wie auch Orchestermusiker ihren Dirigenten folgen sollten.
    Aber: Das kann sich natürlich nur auf künstlerische Aspekte beziehen. Aber nicht nur das. Ein Dirigent, der von sich derartig überzeugt ist, dass er andere Meinungen sofort im Keim erstickt, muss dumm sein (und dumme „Genies“ gibt es nicht). Wenn er klug ist, führt er sein Orchester, lässt aber einen gewissen Freiraum für Anregungen offen, denn diese können nur produktiv sein und den kollektiven Horizont erweitern.
    Es ist ein sehr schmaler Grat, den man für sich selbst immer wieder neu justieren muss, aber gute Dirigenten schaffen das. Es kommt aber noch ein weiterer Punkt hinzu, der mir auf Tourneen bewusst wurde:
    Ab einem gewissen Punkt des Erfolgs und der Bekanntheitsgrades leben Künstler in einer widerspruchslosen Welt. Denn ihre Umwelt wagt es nicht mehr – oder traut sich nicht, ihnen Kritik entgegenzubringen. Und so verfallen diese Künstler allmählich in eine Selbstwahrnehmung von Unfehlbarkeit. Und je länger dieser Prozess fortschreitet, desto stärker verfestigt er sich. Barenboim ist natürlich ein phänomenaler Musiker mit einer ungeheuren Reputation. Welcher Musiker, Agent, Kritiker oder Produzent würde es wagen, seine Qualifikation durch Kriik in Frage zu stellen?
    Und – obwohl ich wie gesagt keine Interna kenne – meistens wird er in seinem künstlerischen Urteil Recht haben, vermute ich. Die meisten Musiker werden ihm also folgen. Aber diejenigen, die künstlerisch überfordert sind, werden sich eine Abwehrstrategie zurechtlegen und die wird sein menschliches Verhalten attackieren – auf künstlerischem Gebiet halten sie sich aus gutem Grund zurück. Auch dieses Vorgehen kenne ich von vielen Begebenheiten aus meinem Leben. Eine weitere Zusammenarbeit ist danach nicht mehr möglich, denn es wird auf zwei völlig unterschielichen Ebenen argumentiert, auch wenn sie während der Zusammenarbeit miteinander verbunden sind. Die „überforderten“ Musiker werden permanent versuchen, den Charakter des Dirigenten zu diskreditieren, und der Dirigent wird seine künstlerische Qualifikation und Aufgabe in den Vordergrund stellen und sich damit zu legitimieren versuchen. Wenn die Fronten aber erst einmal so hoffnungslos verhärtet sind, sollte man sich trennen.
    Generell: Das gesamte Thema ist ein hoch-komplexes und es ist unmöglich, alle Facetten aufzuzeichnen.
    Doch noch ein Punkt: Ich bezweifle sehr stark, dass sich Barenboim selbst als „Genie“ bezeichnet. Ich weiß es nicht, aber ich bezweifle es. insofern finde ich die Überschrift oberflächlich und allzu provokant. Wie eben auch der Leonardo-Vergleich ein völlig abstruser ist.
    Schade, denn das Thema hätte gerade in der momentanen Situation, in der die Rolle und das Selbstverständnis des Dirigenten neu gedacht wird, eine bessere Reflexion verdient.

  15. @Klaus Joter: Wieso hinkt der Vergleich mit da Vinci? Wenn da Vinci mit dem Auto auf dem Weg zur Erschaffung eines seiner Meisterwerke war, ist das absolut damit zu vergleichen mit Barenboim, der z.B. einen Musiker bei der Probe mobbt. Weder hat die Autofahrt von da Vinci mit seinem Meisterwerk zu tun, sie fand nur auf dem Weg dahin statt, noch hat das Mobben von Barenboim etwas mit seiner künstlerischen Arbeit zu tun, denn um eine Symphonie einzustudieren, muss man niemanden krass runtermachen. Kritik im Rahmen einer künstlerischen Arbeit und die Anwendung von psychischer Qual sind zwei verschiedene Dinge.
    Bei Ihrer Beschreibung der „widerspruchslosen Welt“ würde ich dagegen voll zustimmen – diese Widerspruchslosigkeit verschlimmert das Verhalten, und daran sind wir alle mitverantwortlich, wenn wir stets aus übertriebener Ehrfurcht schweigen. Ich bin sicher, dass bei Levine, Weinstein etc. ähnliche Mechanismen am Werk waren…

    • Klaus Joter sagt:

      @ Moritz Eggert
      Wenn Ihnen nicht auffällt, dass Ihre Analogie mehr als nur hinkt, kann ich daran leider nichts ändern.
      Es kommt aber noch ein weiterer und bislang nicht angesprochener Punkt hinzu, der mir auch in Teilen der „Me Too“-Bewegung übel aufstößt: Das Fehlen der Unschuldsvermutung.
      Ich kenne bislang zwar nur die Aussage des angeblch gemobbten Paukers, aber alleine die kann ich nicht als Beweis für Barenboims angebliches Fehlverhalten akzeptieren.
      Um es dabei klarzustellen: Ich möchte beileibe nicht als Barenboim-Verteidiger auftreten. Aber – wie bereits beschrieben – ich kenne die meisten der typischen Mechanismen und Probleme, die sich in der Interaktion zwischen Dirigent und Musikern ergeben. Und fast immer wird von Musikerseite mit Vorwürfen im zwischenmenschlichen Bereich argumentiert, während sich Dirigenten primär künstlerisch äußern. Dabei habe ich feststellen müssen, dass diese „menschelnden“ Argumente meistens eine Alibi-Funktion ausüben, die die wahren künstlerischen Probleme überdecken sollen.
      Natürlich kann es sein, dass die Anschuldigungen begründet sind. Das kann ich nicht beurteilen. Aber bevor dieses nicht objekiv evaluiert wird, sollte man sich im Sinne der Unschuldsvermutung zurückhalten.

  16. Der beste Artikel von Herr Eggert bis heute.

  1. 14. März 2019

    […] ist. Diese Vorstellung ist überkommen.“ Und Moritz Eggert schrieb im lesenswerten Kommentar „Ich bin ein Genie und ich darf alles“ auf dem Bad Blog of Musick: „ […] während selbst die genialsten Architekten Kritik […]