Die Liste der ewig gestrigen Opernhäuser, Edition Spielzeit 2017/2018 (Teil 2)

 

Immer wieder kommentieren Leser meine Opernartikel, und ein häufig vorgebrachtes Argument ist, dass die alten Opern ja alle so wahnsinnig schön seien, und dass man es doch dem Publikum nicht übelnehmen solle, dass es auch vor allem nur diese alten Opern gerne sehen möchte, und nicht irgendeinen modernen Scheiß, in dem immer alle kreischen.

Werbung

Mal abgesehen davon, dass es zu den Zeiten absolut aller heute viel gespielten Opernkomponisten jeweils IMMER Menschen gab, die deren Werke als “irgendeinen modernen Scheiß, in dem immer alle kreischen” empfanden, hinkt das Argument auf gleich mehrere Weisen.

Aber leider verstehe ich auch, warum dieses Argument immer wieder kommt, denn über einen relativ langen Zeitraum gerierte sich “Neue Musik” als etwas, zu dem man erzogen werden müsse; das man keineswegs genießen dürfe. Das ist natürlich Blödsinn. Und ich verstehe, dass Menschen sich intuitiv gegen solche Erziehungsmaßnahmen auflehnen.

Aber erstens ist das nicht mehr so, und zweitens geht es in keiner Weise darum, ob das Alte „besser“ und das Neue „schlechter“ ist, und auch nicht darum, ob es umgekehrt ist.

Hierzu ein kleines Beispiel: Nehmen wir an, wir leben in einer Stadt. Diese Stadt hat vielleicht eine lange, wechselvolle Geschichte. Mal war sie größer, Mal war sie kleiner. Einmal war sie von den Türken erobert, einmal gab es darin eine Hungersnot. Es gab glanzvolle und weniger glanzvolle Zeiten. Nehmen wir an, dies ist die einzige Stadt auf der Welt, und es ist die Stadt in der wir leben. Jedes Mal wenn wir durch eine Straße in dieser Stadt gehen, kann auf ein beliebiges Haus darin jede der folgenden Möglichkeiten zutreffen:

  1. a) es kann sein, dass früher dort ein schöneres Haus stand.
  2. b) es kann sein, dass das Haus das jetzt dort steht, das schönste Haus ist, das jemals dort stand.
  3. c) es kann sein, dass weder in der Vergangenheit dort ein schönes Haus stand, noch dass heute dort ein schönes Haus steht, aber dass irgendwann dort einmal ein sehr schönes Haus stehen wird.

Für unser Leben in dieser Stadt ist es aber vollkommen unerheblich, ob a), b) oder c) zutrifft, denn wir laufen durch diese Straße, weil es eben eine Straße unserer Stadt ist. Vielleicht gab es dort früher keine Straße, vielleicht wird es dort einmal keine Straße mehr geben. Weder waren die Häuser früher grundsätzlich hässlicher, noch sind sie heute grundsätzlich schöner, noch werden sie in der Zukunft grundsätzlich schöner oder grundsätzlich hässlicher sein. Alles ist möglich. Manchmal stehen hässliche und schöne Häuser direkt nebeneinander.

Der Name dieser Stadt ist Gegenwart. Vor einer Sekunde war der Name der Stadt Vergangenheit, in einer Sekunde ist der Name der Stadt Zukunft. Aber dort wo wir uns aufhalten, ist auf immer und ewig „Gegenwart“ der Name dieser Stadt. Da sich die Stadt ständig verändert, ist sie aber auch ständig lebendig, es ist ein Kommen und Gehen in dieser Stadt, und sie blüht auf, je bunter dieses Treiben ist.

In der sehr modernen chinesischen Großstadt Chengdu gibt es vor allem Hochhäuser, da fast nichts von der alten Stadt übriggeblieben ist. Mitten im Zentrum aber, hat man aus Nostalgie einen Distrikt gebaut, der genauso aussieht, wie es früher dort aussah. Das sieht sehr hübsch aus, und die Touristen oder Bewohner dieser Stadt besuchen die kleinen malerischen Fake-Gässchen, die voller Souvenirgeschäfte sind. Wenn der letzte Besucher gegangen ist, schließt man dort die Pforten und macht das Licht aus, denn dieser Distrikt ist nichts weiter als ein Museum, niemand lebt dort. Es ist schön, dass es dieses Museum gibt, aber das Leben, die Stadt mit Namen Chengdu oder Gegenwart, findet woanders statt.

Für mich ist zum Beispiel ein Unternehmen wie die Metropolitan Opera ein solcher Museumsdistrikt. Es gibt viele Besucher, auch Touristen, die sehr viel Geld dafür zahlen, um zu sehen, wie Oper im vor allem 19. Jahrhundert aussah. Das ist schön anzusehen, und da das als Business funktioniert, ist dagegen auch grundsätzlich nichts einzuwenden. Aber ich würde nie und nimmer erwarten, dass die Met die Gegenwart abbildet, sie bildet allein die Vergangenheit ab, mit kostümierten Stars die so tun, als stünden sie in der Scala im Jahre 1850.

Von einem öffentlich-rechtlichen Sender erwarte ich, dass ich etwas von der Gegenwart mitbekomme. Ich möchte nicht, dass der Nachrichtensprecher mir alleine Nachrichten aus dem 19. Jahrhundert vorliest, und ich möchte auch nicht, dass alle Tatorte im Wien des 18. Jahrhunderts spielen. Ich möchte das aktuelle Fußballspiel aus der aktuellen Liga kommentiert bekommen, und nicht nur Cricket-Spiele aus dem Jahre 1880. Genauso erwarte ich von einem “Stadttheater”, einem “Staatstheater” oder einem “Landestheater” (die allesamt genauso wie die öffentlich-rechtlichen Sender letztlich von meinem eigenen Geld mitfinanziert werden), dass sie – auch – Gegenwart abbilden, und das bitte nicht zu wenig.

“Cosí fan tutte” ist eine wunderschöne Oper, in der ich sehr viel über das komplexe Verhältnis verschiedener Stände im 18. Jahrhundert erfahre. Ich erfahre darin aber nichts über das Flirtverhalten heutiger Menschen im Zeitalter von whatsapp, nichts über die Vereinsamung in den Großstädten, nichts über die Veränderung traditioneller Geschlechterrollen oder über Fake News und Internetverdummung. Um über diese Themen etwas heutzutage in einer Inszenierung von “Cosí fan tutte” zu erfahren, müsste ein engagierter Regisseur diese Oper mühsam umdeuten, verfälschen, verändern, gegensätzlich interpretieren, konterkarieren. Das ist möglich, macht aber letztlich sehr viel Arbeit, so als ob man einen Schuh herstellt, den man über einen anderen Schuh überstülpen muss. Warum dann nicht gleich einen davon unabhängigen, neuen Schuh? Warum kann der alte Schuh nicht einfach so bleiben wie er ist? Das würde seiner Funktion keineswegs irgendeinen Abbruch tun.

Schließlich geht ja auch nicht jeden Tag jemand ins Museum, und malt das schöne Bild von Rembrandt nochmal neu um. Nein, es ist schön und wahrhaftig so wie es ist.

Das Alte erstrahlt in der Erinnerung an das Vergangene. Das Neue erstrahlt in seiner Gegenwärtigkeit und in seinem Ausblick auf die Zukunft

Beides brauchen wir gleichzeitig in den Opernhäusern dieser Welt, zumindest in denen, die keine kommerziellen Touristenbetriebe sind. Für beides – das Alte und das Neue –  ist genug Platz.

Am besten zu gleichen Teilen.

Aber wie sieht es wirklich heute aus? Schauen wir uns das Durchschnittsalter der gespielten Opern in den folgenden Städten an…

 

 

(FRANKFURT bis LEIPZIG)

 

OPER FRANKFURT                                                            113 Jahre (modernstes Stück: 2 Uraufführungen)

MITTELSÄCHSISCHES THEATER FREIBERG-DÖBLIN  224 Jahre (modernstes Stück: Smetana/Die verkaufte Braut, 151 Jahre alt)

THEATER FREIBURG                                                        55 Jahre (modernstes Stück: 2 Uraufführungen)

STADTTHEATER FÜRTH                                                 16 Jahre (modernstes und einziges Stück: Glanert/Scherz, Satire…,16 Jahre alt, Wiederaufführung)

MUSIKTHEATER i.R. GELSENKIRCHEN                       125 Jahre (modernstes Stück: Poulenc/Dialogues…60 Jahre alt)

STADTTHEATER GIESSEN                                              152 Jahre (modernstes Stück: Strauss/Ariadne auf Naxos, 56 Jahre alt)

GERHART-HAUPTMANN-TEATER GÖRLITZ-Z.         158 Jahre (modernstes Stück: Menotti/Konsul, 67 Jahre alt)

OPER GRAZ                                                                         138 Jahre (modernstes Stück: Piazzolla/Maria d. Buenos Aires, 49 Jahre alt)

THEATER GREIFSWALD-STRALSUND                         121 Jahre (modernstes Stück: Previn/A Streetcar…, 19 Jahre, Wiederaufführung)

THEATER HAGEN                                                             198 Jahre (modernstes Stück: Talbot/Everest, 3 Jahre, Wiederaufführung)

HALBERSTADT/QUEDLINBURG                                    182 Jahre (modernstes Stück: Smetana/Die verkaufte Braut, 151 Jahre alt)

THEATER HALLE                                                              111 Jahre (modernstes Stück: 2 Uraufführungen)

HAMBURGISCHE STAATSOPER                                    114 Jahre (modernstes Stück: 4 Uraufführungen)

NIEDERSÄCHSISCHES STAATSTHEATER HANNOVER  99 Jahre (modernstes Stück: 1 Uraufführung)

THEATER HEIDELBERG                                                  173 Jahre (modernstes Stück: Andriessen/Writing to Vermeer, 18 Jahre alt)

THEATER HEILBRONN                                                    207 Jahre (modernstes Stück: Weber/Freischütz, 196 Jahre alt)

THEATER HILDESHEIM                                                   151 Jahre (modernstes Stück: Frid/ Das Tagebuch der Anne Frank, 48 Jahre alt)

THEATER HOF                                                                   170 Jahre (modernstes Stück: Reimann/Traumspiel, 53 Jahre alt)

PFALZTHEATER KAISERSLAUTERN                            137 Jahre (modernstes Stück: Stravinsky/Rake’s Progress, 66 Jahre alt)

BADISCHES STAATSTHEATER KARLSRUHE             199 Jahre (modernstes Stück: Gounod/Romeo und Julia, 150 Jahre alt)

STAATSTHEATER KASSEL                                             171 Jahre (modernstes Stück: Stravinsky/Rake’s Progress, 66 Jahre alt)

THEATER KIEL                                                                  178 Jahre (modernstes Stück: Strauss/Arabella, 85 Jahre alt)

THEATER KOBLENZ                                                         102 Jahre (modernstes Stück: Eötvös/D.gold.Dr., 3 Jahre alt, Wiederaufführung)

BÜHNEN KÖLN                                                                  143 Jahre (modernstes Stück: Oehring/Kunstmuss…UA)                                                                                                                                  THEATER KREF.-MÖNCHENGLADBACH                    133 Jahre (modernstes Stück: Nyman/Der Mann…24 Jahre alt, Wiederaufführung)

LANDESTHEATER NIEDERBAYERN                              173 Jahre (modernstes Stück: Strauss/Rosenkavalier, 106 Jahre alt)

OPER LEIPZIG                                                                    124 Jahre (modernstes Stück: Berg/Lulu, 80 Jahre)

 

(Fortsetzung folgt)

(Moritz Eggert)

5 Antworten

  1. Volker Blumenthaler sagt:

    Lieber Moritz Eggert,
    doch ein paar kleine Korrekturen am Rande:

    Musiktheater i.R.Gelsenkirchen 1986 UA meiner Oper DEINEN KOPF, HOLOFERNES
    Meines Wissens wurden danach auch weitere Opern uraufgeführt.

    Theater Kiel: Philip Glass „In der Strafkolonie“ EA 2015

    Viele Grüße
    Volker Blumenthaler
    Nürnberg

  2. Volker Blumenthaler sagt:

    Lieber Moritz Eggert,
    …ergänzend zu Theater Kiel: Philip Glass „In der Strafkolonie“ EA 2015
    dort 2002 UA der Kafka-Oper „Der Prozess“ von Alberto Colla

  3. Lieber Volker Blumenthaler, schön, dass Sie hier posten!
    Wie oben steht geht es um die aktuelle Spielzeit 2017/2018, nicht um vergangene Spielzeiten, sonst wären die von Ihnen genannten Opern selbstverständlich berücksichtigt worden.

  4. Tobias Hänschke sagt:

    Erstmal vielen Dank für diese Artikelserie, die Frage nach der Spielplangestaltung treibt mich als Stadttheater-Beschäftigten nun auch schon seit einiger Zeit um. Viel verschmierter Rembrandt, eine obligatorische, publikums- und/oder medienwirksame Uraufführung (Stücke, die zu mindestens 90% nicht nachgespielt werden), nach 10 Jahren werden die bereits gespielten Kamellen wieder aufgewärmt, künstlerisch macht das leider wenig Spaß. Für mich persönlich steht außer Frage, dass die Musik sich, besonders im Bereich der Oper, die leider immer zuallererst entertainment sein soll, stilistisch seit der Nachkriegszeit eher vom Publikum weg entwickelt hat (selbstverständlich mit Ausnahmen!), diese Entwicklung scheint aber erfreulicherweise zur Zeit rückläufig zu sein. Die zeitlose Schönheit eines Mozart oder Rembrandt berührt uns natürlich immer noch, zeitgenössische und „moderne“ Kunst (zumindest die wenigen wirklich gut gelungenen Werke, das war vor zwei- bis dreihundert Jahren nicht anders) ist aber sowohl intellektuell als auch gefühlsmäßig näher an uns dran und kann daher mindestens genauso berühren. Eine größere Gewichtung auf dem Opernrepertoire der letzten 100 bis 120 Jahre (da kann man immer noch viel schöne Sträusse und Puccinis spielen;)) wäre für mich absolut wünschenswert, eine Carmen (so sehr ich das Stück auch liebe!), die an 50 Häusern gleichzeitig gespielt wird und vom Regisseur verunstaltet werden muss, um ihr eine Daseinsberechtigung zu geben, nervt leider nur noch.

  5. @Tobias Hänschke: Vielen Dank für den netten Kommentar – ich stimme Ihnen in jeder Hinsicht zu!