op. 111 – Eine Analyse in 335 Teilen – Takt 100 – Warum Beethoven so gut ist – Oder: Von op. 111 zurück zu op. 11

Im Dezember 2015 begann Arno Lücker die längste Bad-Blog-Serie aller Zeiten. Jeder einzelne Takt von Beethovens letzter Klaviersonate c-Moll op. 111 (1822) bekommt eine eigene Analyse. Bei 335 Takten sind das 335 Analysen. Nun denn.

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Die bisherigen Folgen:
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Buffff-da-da-daaaaaaa, daddel-da-da-da-bufff-da-da-daaaaaa!

Takt 100 ist erreicht! Ein Drittel ist fast geschafft. Jetzt ist der Rest so easy wie ein lauschiger Sommerspaziergang ohne fucking Mücken. Und endlich gibt es Taktzahlen mitten in der Partitur!

Anlässlich der 100. Folge versuche ich heute – ernsthaft – zu erklären, warum Beethoven eigentlich so gut ist.

Dazu springen wir zurück vom Jahr 1822 (Entstehungsjahr der Klaviersonate op. 111 c-Moll) ins Jahr 1797. In diesem Jahr schrieb Beethoven sein Trio op. 11 B-Dur für Klarinette, Violoncello und Klavier – besser bekannt unter dem Populärtitel „Gassenhauer-Trio“.

Von op. 111 zurück zu op. 11.

Warum? Weil man bereits an diesem frühen Stück Kammermusik die ganze Originalität Beethovens erkennt.

Warum also ist Beethoven genial?

Allein die Überleitung zum zweiten Thema des ersten Satzes (hier bei Minute 0.55 zu hören)…

So gut wie jeder andere Komponist zu Beethovens Zeit hätte nach dem – im Rahmen der Sonatenhauptsatzform dieses B-Dur-Satzes erwartbaren – C7-F-Dur-Abschlusses des ersten Themenkopfes mit F-Dur weiter gemacht.

Doch Beethoven bringt auf den F-Dur-Akkord: D-Dur! Kühl, kühn, verwegen, überraschend, leuchtend, wohlig irritierend. Keiner im Publikum merkt es so richtig. Nur unterschwellig vielleicht… „Da ist etwas komisch“. In jedem Fall hört man wacher zu… Das ist Beethovens Geheimrezept.

„Gassenhauer-Trio“ heißt das Stück ja deshalb, weil Beethoven im dritten Satz einen vermeintlichen Gassenhauer variiert – und zwar die Arie „Pria ch’io l’impegno“ (was ungefähr so viel heißt wie: „Wenn ich zur Arbeit gehe, muss ich vorher etwas essen!“) aus der Oper „L’amor marinaro“ von Joseph Weigl (1766-1846).

Das Thema ist – seien wir ehrlich – in seiner Auftaktigkeit gefährlich einfach gestrickt…

Um allzu große Nervigkeit zu umgehen lässt Beethoven das Thema gleich in der ersten Variation einfach weg! (Vielleicht war er so kreativ-aggressiv von dem Thema angewidert wie anlässlich des Diabelli-Walzers… Auch dort in den Diabelli-Variationen „fehlt“ das Thema – in Variation XIII).

Die erste „Gassenhauer“-Variation beginnt also wie folgt…

Das Klavier spielt eine potentielle (!) Begleitung, auf die die Melodie der Klarinette perfekt passen würde (ausprobieren!). Aber: Da ist keine Klarinette! Fantastisch.

In Variation IV – eine Moll-Variation – stellt das Klavier dem Duo Klarinette-Cello jeweils so’n „Block“ gegenüber (und umgekehrt).

Von der eigentlichen Melodie ist kaum etwas zu spüren, nur die Auftaktigkeit und Partikel der Melodiebewegung haben überlebt. (Auch typisch Beethoven – #neuemusik.) Das, was Beethoven da macht, ist in seiner Einfachheit dreist – dreist genial. Diese „Blöcke“ könnte man übrigens – so allgemein ist das, was Beethoven da eigentlich macht! – auch einfach umstellen, was ich mir mal erlaubt habe…

Dann, zum Ende dieses abschließenden Variationssatzes hin, kommt es zur folgenden Szene…

Beethoven hebelt die enervierende Auftaktigkeit des Themas durch eine rhythmische Versetzung in einen 6/8-Takt aus (ab „Allegro“) – (ab Minute 20.30 in dieser Aufnahme). Außerdem steht der achttaktige Abschnitt in G-Dur, was angesichts der Grundtonart B-Dur wieder schön dreist ist. Eine weitere Überraschung. Erst ab dem „Pianissimo“ danach erobern sich die Instrumente die Auftaktigkeit des Themas schüchtern zurück.

Eine ähnliche – noch etwas genialere – Stelle gibt es in Beethovens etwa zeitgleich komponiertem zweiten Klavierkonzert (das eigentlich das erste Klavierkonzert ist). Das Thema des dritten Satzes tut so, als sei es auftaktig (hier bei Minute 24.41). Ist es aber gar nicht! Dieser „Kuckucksruf“ kommt „auf die Eins“. Das ist zwar schon mal schön – aber noch nicht sooooo genial.

Dann aber später wirklich ein Moment zum Anbeten, ein Ort des Freuens, ein Angebot zum Kurzflug: Die Stelle, an der Beethoven dann dieses Pseudo-Auftakt-Thema quasi „rückführt“ – nämlich zu einre tatsächlichen Auftaktigkeit (anhören bei Minute 29.15).

Und wieder steht diese Irritation innerhalb eines B-Dur-Satzes in G-Dur! Klingelt’s? (Ja – und zwar in G-Dur!).

Genau solche Momente, in denen Beethoven mit viel in Butter angebratenem Bacon mit viel Schalk im Nacken ein Thema ganz elegant und trotzdem frech „umkrempelt“, machen seine Musik genial.

Also, wenn Sie demnächst jemand fragt, was an Beethoven so toll ist: Seine Musik ist unverfroren, überraschend und irritierend – gerade in der Detailarbeit…

Doch halt! Was passiert eigentlich im 100. Takt „unserer“ letzten Klaviersonate?

Och, nicht viel. Wieder einmal erscheint das Thema in bassigen „Forte“-Oktaven in der linken Pianist*innenhand. Heute halt mal in f-Moll. Darüber Geläuf. Allerdings wird die allerletzte Note (ein b1) zur nächsten Note des folgenden Taktes hinübergezogen. Was das jetzt wieder soll?

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.