Aus dem Leben eines Komponasten (1)

Diese neue Serie ist der Versuch eines einigermaßen geordneten persönlichen Tagebuchs. Schon lange merke ich, dass sich in jeder Woche mehr Themen und Gedanken ansammeln, als man Blogs schreiben kann, daher hier die kürzere (Tages)form. Der Titel ist eine Hommage an den großen verstorbenen Darmstädter Komponisten Hans-Ulrich Engelmann, der in seinen unvergesslichen Seminaren stets von „Komponasten“ sprach, da ihm eine andere Aussprache dialekttechnisch nicht möglich war.

DIENSTAG 20.6.2017
– Skurrile Mail heute. Ein Ondrej Cikan wendet sich per Mail an die gesamte Musikhochschule München, um auf den „musikalisch-theaterhaften, surrealen Sandalenfilm Menandros und Thais“ aufmerksam zu machen. Normalerweise klicke ich sowas sofort weg, aber dann blieb ich doch an der Handlungsbeschreibung hängen:
„Thaïs wird während ihrer Hochzeit mit Menandros von Piraten geraubt. Auf der Suche nach ihr verwandelt sich der Bräutigam in ein blutrünstiges Monster, seinem Pferd wachsen Flügel, eine Hexe verspricht ihn einer anderen Frau, König Xerxes lässt ihn entmannen, aber am Ende geht trotzdem alles glücklich aus. Oder doch nicht? “
„Die Regie teilten sich ein Prager Theater-Bühnenbildner (Antonín Šilar) und ein in Wien lebender Autor und Altphilologe (ich). So kam es mit dem sonst professionellen Filmteam zu einem interessanten Austausch. Der Ton wurde komplett in der Postproduktion hergestellt, wobei der Tonmeister Hannes Plattmeier das präparierte Klavier von Philip Zoubek als roten Faden verwendet hat. Der Soundtrack stammt vom in Wien lebenden Berliner Komponisten Hans Wagner (s.u.). “
WTF? Das klingt jetzt alles so, als müsse man es nicht unbedingt sehen. Aber Ondrej Cikan schreibt weiter: „Lassen sie sich von den Trailern überzeugen“. Und wisst ihr was? Ich ließ mich überzeugen!

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Das Ganze sieht nämlich tatsächlich auf eine seltsame Art interessant aus. Vielleicht ein verborgenes Meisterwerk? Einziger Wermutstropfen: Ich kann das Ding gar nicht sehen, denn es läuft nur an 3 Tagen in München, an denen ich nicht da bin. Wenn irgendjemand den Film sieht: Bitte mir in den Kommentaren sagen wie das Teil war!

– Heute werden in meinem Arbeitszimmern neue Regale eingebaut, weil sich mein Besitz schon auf Tischen oder dem Boden stapelt. Schon lange habe ich den Punkt erreicht, an dem ich so viele Bücher, CDs, Noten, Spiele, Whiskies und Comics besitze, dass selbst ein ganzes Leben nicht mehr ausreichen würde, um alles davon auszuschöpfen. Gleichzeitig lese ich in Harry Lehmanns „Die digitale Revolution der Musik“, dass Komponisten zunehmend virtuelle Orchester basteln werden, um ihre Musik milliardenfach auf Soundclouds hochzuladen, vorbei an der akademischen Welt und den Verlagen. Schon jetzt bekomme ich monatlich dutzende von Zeitschriften, manche physisch, manche digital. Ich komme mit dem Lesen schon lange nicht mehr nach. Wer soll all diese Sachen noch überblicken, wenn jeder Mensch Künstler ist und produziert, produziert, produziert? Hätte Beuys gewusst, dass inzwischen jeder Hobbykünstler das Internet mit seinen Werken überschwemmen kann, wäre er vielleicht nicht ganz so eifrig damit gewesen, alle Menschen und Nachbars Lumpi zu Künstlern zu erklären.
Schon jetzt sammeln sich sekündlich gigantische Datenberge von Blogs (wie diesem), Artikeln, Videos, Audiofiles, Apps etc. im Internet an, und täglich wird der Platz im Internet dafür vergrößert, da die Speicherkapazitäten steigen. Allein eine einzige Folge der neuen „Twin Peaks“-Serie erzeugt soviele Kommentare im Netz, dass das Lesen all dieser Kommentare 1000x so lange dauern würde, wie die Folge selber anzuschauen. Wann ist ein Ende erreicht? Wird es irgendwann eine „Kunstentsorgung“ geben? Womöglich (schauder) eine „Datenvernichtung entarteter Kunst“? Oder vergrößern wir unsere eigenen Speicher/Aufnahmekapazitäten in dem wir unsere Hirne kybernetisch erweitern und mehr „Erinnerungsplatz“ erzeugen, bei gleichzeitiger Verlängerung der Lebenszeit?
Würde ich doppelt so lange leben, käme ich ja vielleicht doch dazu, alle meine CDs zu hören…Wissenschaftler, gebt euch Mühe!

– Der Name der Autorin dieses FAZ-Artikels lässt uns daran glauben, dass alle Dinge irgendwie geheim magisch miteinander verbunden sind….

MITTWOCH 21.6.2017
Ein Geheimprojekt ist langsam nicht mehr geheim: meine Late-Night-Show für das Lucerne Festival, die dieses Jahr im September starten wird. Heute verbrachten wir quasi den ganzen Tag, um am Konzept zu arbeiten, wie diese konspirativen Fotos beweisen. Die Flipchart-Papiere hält übrigens Mark Sattler. Nicht auf dem Bild: Dominik Deuber und Martin Baumgartner, meine Partners in Crime. Würden Köpfe wirklich rauchen, hätte es Smog-Alarm in München gegeben!

DONNERSTAG 22.6.2017
– In der Musikhochschule München befindet sich direkt neben meinem Unterrichtsraum eine Vitrine mit Partituren von Jan Koetsier, einem mit München verbundenen holländischen Komponisten. In dieser Vitrine befindet sich eine handschriftliche und aufgeschlagene Partitur, die nur Notenköpfe zeigt, keine Linien. Täglich stehen Studenten davor und rätseln: War Koetsier vielleicht so genial, dass er die Positionen der Notenköpfe auswendig wusste und daher keine Notenlinien mehr brauchte? Die Wahrheit ist anders: diese Vitrine ist seit mindestens 30 Jahren unverändert. Die Notenlinien wurden von der Sonne komplett ausgebleicht, die mit Tusche gezeichneten Notenköpfe nicht. Moral von der Geschicht‘: Die Ideen überleben, nur weiß man nicht mehr, wo genau sie hingehören.

– In der „Circle Bar“ gibt es eine Bartenderin, die auf dem Kreuzfahrtschiff „Crystal Symphony“ gearbeitet hat und mir davon neulich erzählte. Dieses Kreuzfahrtschiff hat Dauerkabinen, die den Reichen gehören, die sie einst gekauft haben. Diese sind angeordnet wie die Wohnungen in J.G. Ballards „High-Rise“ – die Reichsten ganz oben, die Ärmeren (aber immer noch ziemlich reichen) ganz unten. Manche verbringen Wochen oder Monate auf dem Schiff, andere leben dort das ganze Jahr. Da sie ihre Pässe abgegeben haben, treiben die Bewohner nationalitäten- und heimatlos durch die Weltmeere, an einem Tag in New York, an einem anderen in Tokyo. Die gesamte Schiffbesatzung gehört ihnen, ebenso auch das Schiff. Sie müssen kein Trinkgeld geben und auch quasi nichts zahlen, da alle Annehmlichkeiten pauschal fürs ganze Jahr vorausbezahlt werden. Wie das Leben auf so einem Schiff wohl sein mag?
Irgendwie spüre ich hier einen Opernstoff lauern…das Ganze erinnert an Karl-Birger Blomdahls Oper „Aniara“, die von einem Generationenraumschiff handelt, das eine sterbende Erde verlassen hat. Übrigens ein wunderschönes Stück!

Moritz Eggert

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2 Antworten

  1. @Moritz: Schöner Text, danke.

    „Wer soll all diese Sachen noch überblicken, wenn jeder Mensch Künstler ist und produziert, produziert, produziert?“ – Ich habe mich mittlerweile an die Übersichtlichkeit gewöhnt. Die Umwelt ist für mich da, nicht umgekehrt. Ich verpasse nichts. Abgesehen davon gilt das Prinzip der Filtersouveränität nach Michael Seemann:

    http://www.goethe.de/ges/prj/rue/mag/de7974173.htm

  2. Das Schlimme ist nur: ich bin so neugierig! Ich möchte eigentlich alles kennenlernen und es ist schrecklich, ständig etwas zu verpassen. Aber natürlich hast Du Recht :-)