Igor und die Kugelgestalt der Zeit

Der gerne als „Modernsky“ verunglimpfte Stravinsky war vielleicht doch mehr „Modernsky“, als wir alle ahnen.

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Gerade eben dirigierte ich Stravinskys „Pulcinella“, das gemeinhin als sein Schlüsselwerk zum „Neoklassizismus“ gilt. Natürlich beschäftigt man sich dann etwas ausführlicher mit der Musik, und macht die eine oder andere erstaunliche Entdeckung.

„Pulcinella“ ist sicherlich eines der populäreren Werke von Stravinsky, gilt aber in der ästhetischen Rezeption vermutlich als eher harmloses und „nettes“ Werk. Man hat das Stück irgendwie unter „Neoklassizismus“ eingeordnet, für Hardliner ohnehin nichts weiter als eine ästhetische Verirrung. Aber wie „neoklassizistisch“ ist das Werk tatsächlich? „Neoklassisch“ schon Mal nicht, dazu ist es viel zu einfallsreich und wild. Die Eisberge brauchen sich also nicht zu fürchten.

Auftraggeber Diaghilew hatte eigentlich eine reine Bearbeitung von Pergolesi-Material bestellt (damals übrigens auch eine sehr moderne Idee) und war sichtlich überrascht, dass Stravinsky aus lauter Freude an dieser Aufgabe etwas ganz Neues und Eigenes schuf. In vielerlei Weise ging Igor frech über die Anforderungen des Auftrags hinaus, weil er etwas Neuem auf der Spur war.

Vergleicht man die berühmte „Ouvertüre“ von „Pulcinella“ mit der Vorlage von Pergolesi, so wird man feststellen, dass Stravinsky sich als Bearbeiter hier noch sehr zurückgehalten hat und eng am Original arbeitet, sieht man von einigen Fortissimo-Schroffheiten und einer seltsamen nach amerikanischer „Country-Musik“ Stelle ab (Minute 0:47 ).

Aber halt: was hat Country-Musik im Neoklassizismus zu suchen? Genau hier liegt vielleicht der Schlüssel zu einem neuen Verständnis der ästhetischen Bedeutung von „Pulcinella“. Auf den ersten Blick dominiert in „Pulcinella“ tatsächlich ein bewusst „klassischer“ Ton. Es gibt Passagen, die nach reinem Mozart klingen, auch von der Instrumentation her (auch dies schon ein Zeitsprung von knapp 50 Jahren von Pergolesi aus). In zunehmenden Stückverlauf tauchen aber immer mehr bewusst spielerisch eingesetzte Verfremdungen auf, die gar nicht in dieses klassische Muster passen. Hierbei handelt es sich einerseits um „Stravinskyismen“, typische rhythmische Motive, die z.B. an „Petruschka“ gemahnen (Minute 9:05) andererseits aber eben auch um bewusst eingesetzte stilistische Anverwandlungen von großer Fremdheit. Man höre sich zum Beispiel diese Passage (Minute 21:37) an, ohne an spanischen Flamenco zu denken. Oder auch diese (Minute 21:14), in der Stravinsky in gewisser Weise die amerikanische „Western“-Ästhetik eines Aaron Copland vorwegnimmt oder auch direkt inspiriert.

Überhaupt hat man bei detailliertem Hören bei „Pulcinella“ zunehmend das Gefühl, dass hier – quasi fast ein halbes Jahrhundert zu früh – die radikale Idee von einem umfassenden und vor allem unverkrampft spielerischen „Zusammenklingen“ extrem heterogener musikalischer Stile und Sprachen realisiert wurde, wie sie eigentlich erst später wieder vom großen Bernd Alois Zimmermann als Idee von der „Kugelgestalt der Zeit“ gedacht wurde. Dass das auch bei Stravinsky nicht ohne interessante Reibungen und Härten geschieht, zeigt diese schöne Passage (Minute 20:20), in der sich quasi die Musikgeschichte polytonal zusammenballt, um sich in einem brillianten „Rausschmeißer“-Schluss zu entladen.

„Das ist ja der kleine Modernsky! Hat sich ein Bubikopf schneiden lassen; sieht ganz gut aus! Wie echt falsches Haar! Wie eine Perücke! Ganz (wie sich ihn der kleine Modernsky vorstellt), ganz der Papa Bach!“ schrieb weiland Schönberg über seinen Konkurrenten.

Aber Stravinskys Frisur ist tatsächlich ziemlich cool.

Ich würde sie fast atopisch nennen.

Moritz Eggert

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4 Antworten

  1. Beide Werken, Strawinsky und Pergolesi, sind sehr schön.

    Der ‚Kugelform der Zeit‘ war schon vorweggenommen von Mahler, Debussy, Ravel, eigentlich von allen bedeutenden Komponisten der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts, ausgenommen einige Wiener Utopisten.

    Man kan sogar dasselbe kugelformige sagen über den späten Beethoven, und über Brahms. Und heute hat man nichts anderes als diese Kugelform.

    • Guntram Erbe sagt:

      „ausgenommen einige Wiener Utopisten“. Aber nur wenn man sie in enger Manier auf das Verfahren der Dodekaphonie reduziert. Schoenberg ist weniger utopistisch als atopistisch. Es wäre ja zum Kugeln, sähe man nicht, wie er Zeiten und Zeitstile quasi zeitlos beherrscht und vermischt hat.

  2. @Moritz: Habe die „Pulcinella-Suite“ immer als äußerst originelles und auch aufwühlendes Werk verstanden. Strawinsky war dem Surrealismus in dem Sinn nahe, dass er keine Angst vor dem Prinzip „Collage“ hatte. Collage ist mittlerweile ein abgenutzter Begriff, aber die ästhetische Irritation, die von einer gekonnten Zusammenstellung von Dingen, die „nicht zusammen gehören“, ausgeht, ist heute so effektiv wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

    Die Kunstmusik als Ganzes at *viel* weniger Collagen aufzuweisen als bsp.weise die Bildende Kunst – es gibt erstaunlicherweise auch kein kunstmusikalisches Pendant zum Surrealismus (bis auf ein paar Ansätze bei Ives und natürlich Satie), zu den meisten anderen Ismen aber schon (es gibt einen kunstmusikalischen Expressionimus / Futurismus / Impressionismus / Jugendstil / Minimalismus etc.).

  3. Guntram Erbe sagt:

    Musik selbst dürfte nicht surrealistisch sein, aber gerade bei Nichtmusikern surrealistische Wirkungen entfalten oder zumindest unterstützen, wenn sie mit anderen Medien verbunden wird. Ich habe da ein Beispiel dafür: https://www.youtube.com/watch?v=HyL04Z3TOjQ

    Vielleicht könnte man Schönbergs op. 34 Begleitungsmusik zu einer Lichtspielscene (Drohende Gefahr, Angst, Katastrophe) (1929–1930) als surrealistisch – oder besser surreal – bezeichnen, auch wenn Schönberg eher an ganz reale Szenen dachte (meine Empfehlung: Augen zu beim Zuhören): https://www.youtube.com/watch?v=yjyDs0q3KBE