Alt vs. Neu Teil 2: Das Restaurantgleichnis

Zwei der häufigsten Gegenargumente gegen meine These, dass zuviel Kuschelklassik auch der Kuschelklassik nicht gut tut (sowohl in der Oper wie auch im Konzertsaal) sind wie folgt:

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– Die Musik von heute ist einfach nicht mehr so gut wie früher
– das Publikum von heute will die zeitgenössische Musik nicht

Natürlich ist klar, dass diese Argumente meist von Menschen kommen, die entweder kaum heutige „klassische“ Musik kennen oder dieser mit den schlimmsten Vorurteilen begegnen. Sicherlich spielt auch die eine oder andere schlechte Erfahrung eine Rolle. Wie sehr diese Erfahrungen das eigene Musikverständnis prägen, hat Laura Wikert von „Musik mit viel scharf“ hier sehr schön und ehrlich beschrieben.

Allerdings werden negative Erfahrungen auch mit „schöner“ klassischer Musik gemacht – es gibt Menschen, denen selbst die allerliebste und harmloseste Klassikdarbietung nichts gibt und die lieber ein „Rammstein“-Konzert besuchen. Manche wiederum mögen sowohl „Rammstein“ als auch Wolfgang Rihm. Manche wiederum mögen sowohl „Rammstein“ als auch Rihm als auch Mozart. Kurzum: es gibt keine Regel dafür, was Menschen gut finden sollen oder können, und das ist auch sehr gut so, denn die Diktatur eines Geschmacks – egal welcher dies ist – bedeutet Unfreiheit und Stillstand.

Die Geschmäcker sind so verschieden wie Menschen verschieden sind. Es gibt nicht „das“ Publikum, und auch keinen allgemeinen Publikumsgeschmack, auch wenn das immer wieder behauptet wird. Man nehme eine zufällige Gruppe von Musikliebhabern (oder auch nur zwei davon) und es wird garantiert nie einen Konsens darüber geben, was die „beste“ und „schlechteste“ Musik ist. Deswegen sind diese Diskussionen auch so fruchtlos – die Behauptung „alle neue Musik ist schlecht“ ist genauso dumm wie die Behauptung „alle neue Musik ist gut“. Man könnte IMMER eine Musik finden, die das Gegenüber bisher nicht kennt und die die kategorische Ablehnung derselben in Frage stellt. Am Ende des Tages siegt – wie so oft – die Neugier. Wer neugierig ist, macht neue Erfahrungen – natürlich auch neue positive und neue überraschende Erfahrungen – und erweitert seinen Horizont. Wer neugierig ist, kann gar nicht anders, als sich auch für die Kunst seiner Zeit zu interessieren. Wer neugierig ist, interessiert sich auch für die Kunst der Vergangenheit, wer neugierig ist, befragt diese Kunst „wie geht es weiter?“, wer neugierig ist befragt auch die Kunst von heute, wie sie „weiter“ geht.

Aber es geht hier nicht nur um Neugier (nicht alle Menschen sind von sich aus neugierig) sondern vor allem um die Erfahrungen selber. Wer noch nie eine bisher ihm nicht bekannte Frucht gegessen hat, kann sich keinerlei Vorstellung darüber machen, ob sie ihm schmecken wird oder nicht. Sie kann dann nicht schmecken oder eine neue Lieblingsfrucht werden, man weiß es einfach nicht, bevor man nicht selber die Erfahrung gemacht hat. Diejenigen die also behaupten, dass Musik von heute einfach nicht mehr so „emotional“ oder „schön“ wie früher ist, haben bisher einfach nicht die Erfahrung gemacht, emotionale oder schöne Musik von heute zu hören. Das könnte ihnen aber jederzeit passieren, wenn es einen größeren Raum für heutige Musik gäbe und damit die Wahrscheinlichkeit einer solchen Erfahrung steigen würde. Dass es IMMER die Möglichkeit einer solchen Erfahrung gibt, ist objektiv gesehen eine Tatsache, stattdessen argumentieren aber die Feinde des Neuen nie wirklich objektiv sondern aus einer kategorischen Ablehnung des Ungewohnten und Unbekannten heraus, weil es ihr kontrolliertes Wertesystem durcheinander bringen könnte.

Letztlich geht es also um mehr Raum für Erfahrungen. Braucht man dafür eine Quote? Nein, man braucht dafür ein Bewusstsein. Läuft das Publikum dann weg? Nein, wie folgendes einfaches Gleichnis zeigt:

DAS RESTAURANTGLEICHNIS

Man stelle sich eine Stadt mit exakt 100 Restaurants vor. 99 von diesen Restaurants bieten gutbürgerliche traditionelle heimische Küche, ein einziges Restaurant bietet indisches (exotisches) Essen an. So ungefähr sieht die heutige „Klassik“-Welt aus, wenn man das indische Essen neuer Kunstmusik gleichsetzt. Die Quote ist 99% altbekanntes, 1% „anderes“. Und ja, das Beispiel hinkt nicht – sowohl beim Essen gehen wie auch beim Besuch eines Konzertes spielt der Genussaspekt eine Rolle, und es gibt Menschen, die diesen Genuss „bereiten“, kochend oder musizierend.

Viele der Bewohner dieser Stadt kennen das indische Restaurant gar nicht, da es aufgrund seiner Seltenheit ein „Geheimtipp“ ist. Sie sind zufrieden mit ihrer gutbürgerlichen traditionellen heimische Küche und gehen nur in solchen Restaurants essen. Andere wiederum finden es toll, mal was Neues auszuprobieren. Sie gehen gerne zum Inder, aber auch weiterhin in die gutbürgerlichen Restaurants, da sie die Abwechslung schätzen. Einige ganz wenige wiederum haben komplett die Schnauze voll von der gutbürgerlichen Küche und gehen nur noch zum Inder.

Soweit also ein erwartbares Spektrum von Verhaltensweisen, ganz wie im richtigen Leben. Statistisch können wir davon ausgehen, dass an einem beliebigen Abend in dieser Stadt 99% in einem gutbürgerlichem Restaurant speisen werden, 1% beim Inder.

Schauen wir uns nun die selbe Stadt 50 Jahre später an. Die Welt ist mobiler geworden, es ist leichter geworden, fremde Speisen zu importieren. Auch gab es neue Entwicklungen in der Kochkunst, alte Speisen werden auf bisher neue und ungewohnte Weise zubereitet oder auch ganz neue Rezepte entwickelt. Auch ist das Bewusstsein um Allergien und besondere Essensvorlieben gestiegen. Man hat auch festgestellt, dass das gutbürgerliche Essen sehr einseitig und daher nicht immer gesund ist, manchmal auch zu Verfettung führt. Einige Restaurants haben zugemacht, andere neu aufgemacht. Nun gibt es nur noch 50% gutbürgerliche Restaurants, die in der heimischen Tradition kochen. Die anderen 50% sind andere Restaurants aller Couleur: es gibt Molekularküche, Nouvelle Cuisine, veganes Essen, asiatische Küche, italienische Küche, mexikanische Küche, russische Küche usw. Natürlich hat nach wie vor jeder Bürger dieses Stadt seinen eigenen Geschmack. Es gibt Bewohner, die weiterhin ausschließlich ihre gutbürgerliche traditionelle Küche wollen, und nur solche Lokalitäten aufsuchen. Durch das neue vielseitige Angebot ist aber auch das Interesse an den anderen Kochstilen gewachsen, wobei die Vorlieben nach wie vor individuell und unterschiedlich sind. Manche gehen nur zum Inder, andere essen italienisch und asiatisch, aber nicht vegan, andere wiederum essen sowohl gerne Döner als auch Schnitzel.

Die Bewohner der Stadt gehen aber immer noch Essen. Die Lust am Essen ist ihnen nicht vergangen, nur weil das Angebot vielfältiger geworden ist, ganz im Gegenteil. Nein. Essen gehen macht sogar mehr Spaß, weil es nicht mehr so langweilig wie früher ist, als man nur zwei Alternativen hatte. Auch die Allergiker freuen sich, dass es nun auch Essen speziell für sie gibt, was vorher nicht der Fall war. Generell sind die Bürger neugieriger geworden, wenn wieder ein neues Restaurant aufmacht, denn sie sind glücklich und stolz, eine vielseitige Gastroszene zu haben. Natürlich gibt es auch Grantler, die das alles ganz furchtbar finden, aber auch diese haben nach wie vor ihre 50% gutbürgerlichen Restaurants, in denen allein die Tradition hochgehalten wird. Aber die meisten Bürger waren nun auch einmal in einem „anderen“ Restaurant, haben dort schlechte wie gute Erfahrungen gemacht, neue Lieblingsspeisen gefunden und wissen generell mehr über die Kochkunst ihrer Zeit. Und vor allem ist die Ernährung in dieser Stadt gesünder geworden, da weniger einseitig. Auch die Köche der gutbürgerlichen Küche haben einige neue Tricks dazu gelernt, was ihr Können enorm steigert. Wie man sich aber genau ernährt, kann immer noch jeder Bürger selber entscheiden, und das wird auch so bleiben.

Wenn wir nun dieses Gleichnis wieder zur Musik zurückbringen, wird schnell ersichtlich, dass ein größeres und zeitgemäßeres, vor allem ausgewogeneres Angebot in unseren Konzertsälen keineswegs eine Katastrophe für das Angebot an sich darstellen würde, sondern schlicht und einfach eine Bereicherung. Wenn der Erfahrungshorizont wächst, wird auch dieses vielseitigere Angebot ganz sicher wahrgenommen werden. Es geht nicht nur darum, schon vorhandene Abonnenten mit immer denselbem Angebot zufriedenzustellen, sondern auch darum, neue Abonnenten für neue Angebote zu gewinnen. Letzteres ist auch wesentlich spannender.

Wie wir sehen: es geht also nicht um gut gegen schlecht, auch nicht um alt gegen neu, sondern allein um gesunde Vielfalt, wider den Inzest des Klassikeinheitsbreis, in den Küchen wie in den Konzertsälen. Wer die Vielfalt der Musik aber dauerhaft einschränkt, das andere oder neue beharrlich ausblendet, handelt genauso wie jemand der behauptet, dass es nicht sinnvoll wäre, ein anderes als ein gutbürgerliches Restaurant aufzusuchen, da ja dort einmal 99% der Menschen gegessen haben (weil sie nichts anderes kannten).

Ergo: Das Angebot bestimmt die Nachfrage, nicht nur umgekehrt. Es geht nicht um old vs. new oder gut gegen schlecht: Auf die Vielfalt der Erfahrungsmöglichkeiten kommt es an.

Daher brauchen wir mehr heutige Musik in den Konzertsälen.

Moritz Eggert

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3 Antworten

  1. De gus­ti­bus non est dis­pu­tan­dum

    Über Geschmack lässt sich bekanntlich schlecht streiten. Das zeigte sehr schön der Herr Publikumsgeschmack. Nun denn, zur Sache.

    1% Anteil – darum geht es, aber nicht nur. Es geht auch um die 1% selbst. Wenn Herr Neugierig, der noch sehr unbedarft ist, zu besagtem Inder geht, dann wird der Inder nicht mit Ihm eine Sprache sprechen (Indisch statt Deutsch). Die Speisekarte ist auf russischer (!) Schrift ohne Übersetzung, sodass der Besucher gar nicht weiß, wie er bestellen soll („orientalische Hackfleisch-Rolle“ = „Восточный фарша-Роль“). Die Körpersprache des Kellners ist völlig fremd und uninterpretierbar sodass Herr Neugierig sich noch nicht einmal mit Händen und Füßen unterhalten, geschweige denn bestellen kann. Herr Neugierig hat damit noch nicht einmal den Hauch einer Chance auf den Geschmack zu kommen um den Inder später vielleicht ein wiederholtes mal mit seinem Besuch zu beglücken. Eine Expansion des Restaurant-Marktes von 1% auf 50% scheint unter diesen Voraussetzungen unmöglich. Das wäre sehr schade, denn ich bin für Vielfalt und nicht für Einfalt.

    Herr Neugierig müsste von seiner Seite her erstmal Russisch oder Indisch lernen sowie indische Körpersprache um beim Inder überhaupt bestellen gehen zu können. Um überhaupt die Möglichkeit zu haben eine neue Erfahrung machen zu können. In diesem Sinne geht es nicht nur um das Verhältnis von Angebot und Nachfrage sondern ob der Nachfrager überhaupt in der Lage ist ein Angebot auch annehmen zu können. Warum sollte sich ein Huhn einen Kühlschrank kaufen. Nein, Scherz. Auf jeden Fall ein ganz schöner Aufstand für mal-was-neues-probieren. Und ja, Herr Neugierig muss schon auch seinen eigenen Arsch hochkriegen um gefälligst mal eine Möglichkeit einer neuen Erfahrung zu machen. Popopudern ist nicht. Natürlich! Das meine ich wörtlich!

    Es stellt sich gleichzeitig die Frage ob der Inder dem Herrn Neugierig bei allem Russischlernen nicht netterweise entgegen kommen könnte. Ohne natürlich seine Küche zu verraten! Diese Seite wird oft vergessen im sich-andauernd-beklagen-Sumpf. Einige Inder machen das netterweise auch schon. Dadurch wird Herrn Neugierig eine Vielfalt an neuen Erfahrungsmöglichkeiten von dieser Seite her eröffnet. Es wäre doch wünschenswert, wenn von beiden Seiten mehr geschähe. Kein Beklagen. Mehr Bewegung. Ein Mensch geht auf einen anderen Menschen zu. Ganz ohne Sumpf sondern auf begehbaren Wegen.

    Lebende sind lebendiger als Tote.

  2. Moritz Eggert sagt:

    @Markus: Danke! Ich habe schon sehr oft gesagt, dass es auch Aufgabe von uns Komponisten ist, diese grundsätzliche Notwendigkeit der Kommunikation (die Du oben schön in der Fortsetzung meines Beispiels beschreibst) zu verstehen, und damit als Herausforderung mehr umzugehen. Zur notwendigen Lebendigkeit gehört auch das Interesse für das Leben außerhalb der eigenen Welt. Die guten exotischen Restaurants geben sich immer auch sehr Mühe, die Gäste in die Welt ihrer Speisen einzuführen :-)

  3. Hendrik sagt:

    Die internationale Küche spielt musikalisch wie kulinarisch im Fast-Food-Bereich eine große Rolle, im Gourmet-Bereich dominiert auch bei den Restaurants das Gutbürgerliche. Sollte man (um im Bild zu bleiben) zur Unterstützung der experimentellen Sterneköche nicht in erster Linie predigen, dass die Leute grundsätzlich mehr auf ihre (geistige) Ernährung achten mögen, damit sie nach dem dritten Mal Rehrücken vielleicht auch einmal Lust haben, etwas Neues kennenzulernen? Exotische Musik-Döner zum Mitnehmen gibt es wahrlich genügend, den Feinschmecker-Döner probieren dann eher die Stammgäste der gehobenen Lokale; wer nur einmal im Jahr in die Philharmonie geht, wählt natürlich das approbierte Menü.