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op. 111 – Eine Analyse in 335 Teilen – Takt 1

Kein Werk habe ich so oft anlässlich von gefühlt unzähligen Gesprächskonzerten analysiert wie Ludwig van Beethovens letzte Sonate für Klavier c-Moll op. 111. Ein Stück Musik, von dem viele sagen, man brauche Zeit, viel Zeit, um es irgendwann einmal zu verstehen. Auch ich maße mir nicht an, das Werk in all seinen Facetten durchdrungen zu haben. Im Gegenteil. Ich will mich dieser letzten Sonate noch einmal ganz neu widmen. Und zwar in aller „angemessenen“ Ausführlichkeit. Ab heute werde ich hier jeden Takt einzeln analysieren. Insgesamt 335 Takte. Ich hoffe, dass ich das bis Ende 2019 schaffe…

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Heute widmen wir uns also dem ersten Takt des ersten Satzes (Maestoso).

Beethoven op. 111 - 1. Satz - Takt 1

Adolf Bernhard Marx, Beethoven-Zeitgenosse und einer der ersten Beethoven-Biographen, hat über diesen Sonaten-Anfang 1824 (als sein Alter Ego in Schreibgestalt eines konservativen Kritikers) geschrieben: „Diese Schläge im Einleitungssatze, dieses wüste, ungebändigte Stürmen und Toben im Allegro: ist das Musik?“

Und tatsächlich denkt man sich beim ersten Takt: „OMG!“ Oder alternativ gleichsam auch: „WTF!“

Don’t call it c-Moll. That’s a f***in‘ verminderter Septakkord, der erst einmal durch die ersten zwei Oktaven abgesteckt, eingerahmt, nein: eingerammt wird. Also im Grunde: Noch gar kein verminderter Septakkord, sondern nur die Ecktöne des Ganzen. How shocking is that?!?

Ich habe als Kind sehr ausdauernd Beethoven-Sonaten gehört. Aber dieser Beginn hat mich schockiert wie kein anderer Beethoven-Sonaten-Beginn. Es gibt eigentlich keine tonale Orientierung, das Ohr muss einfach mit diesem schockierenden Moment der (harmonischen) Haltlosigkeit klarkommen. Ein Akt der Wut, eine Geste wütenden Beginnens…

Dann folgt auf Zählzeit „zwei“ – mit erneutem Auftakt; überhaupt geht es in diesem ersten Satz gestisch nur um Auftakte – ein voller verminderter Septakkord. Zumindest die/der geschulte Hörende fühlt sich etwas beruhigt: Ein verminderter Septakkord. „Kennt man.“ Und mit einer anderen Variation des gleichen verminderten Septakkordes geht es weiter… Wieder mit Auftakt. Doch als erneutes Überraschungsmoment kommt ein Triller in der obersten Stimme hinzu. Ein Triller auf einem Sforzato-Akkord mit anschließendem Diminuendo. Also doch keine Kraftmeierei. Sondern ein überraschendes Abziehen des Klanges – mit dem Triller als Verschleierungstaktik…

Beethoven op. 13 - 1. Satz - Takt 1

Schon die „Pathétique“, Beethovens Sonate c-Moll op. 13, beginnt, klar, mit einem reinen c-Moll-Akkord. Aber auch da taucht auf Zählzeit „drei“ bereits ein verminderter Septakkord auf. Und zwar ist es dort der gleiche Ton (fis) wie zu Beginn von Beethovens letzter Sonate, auf dem sich der Akkord aufbaut.

Zufall? Oder hat Beethoven – der taube Beethoven – beim Komponieren seiner letzten Klaviersonate an den Beginn der „Pathétique“ gedacht? Und was wird als nächste Harmonie in unserer Sonate op. 111 folgen? G-Dur? Schess-Moll? Oder vielleicht eine überraschende Pause? Fragen über Fragen. Aber: Wir müssen warten. Bis nächstes Jahr. Denn ich bin ab jetzt weg und nicht erreichbar.

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

4 Antworten

  1. Wendelin Bitzan sagt:

    Trefflich beschrieben! Aber ich stelle fest: In der Analyse kommt kein einziges Mal das Wort »Punktierung« vor. Bist du etwa kontra Punktierung?

  2. Dave sagt:

    Großartig!
    Hoffentlich bleibt das Niveau der Fragestellungen in den nächsten 334 Folgen haltbar … :D
    Ich bin jedenfalls gespannt …

  3. „Kontrapunkt ist der Feind“ (Morton Feldman)

  4. Guntram Erbe sagt:

    Ja, dieser Anfang ist wirklich überraschend, vor allem wenn man ihn mit Beethovens Skizze dazu vergleicht. Des Meisters Sauklaue war zwar schwer zu entziffern, doch ich habe die Übertragung der Skizze trotzdem einigermaßen hinbekommen.

    Siehe:
    http://www.guntramerbe.de/beethovenskizze.jpg