Finale Donaueschingen 2015 – Urlaubsfotos und Leichtgläubigkeit

Mahlers Erbin
Es gibt viel zu erzählen. Das kann man über Olga Neuwirths „Encantadas o le avventure nel mare delle meraviglie“ für Ensemble und Elektronik sagen. Olga Neuwirth hatte auf alle Fälle Vieles mitzuteilen: ihre Nostalgie für Venedig, dessen Wasser, dessen Kirchenräume und Glocken, für Luigi Nono. Ihre Faszination für Henry Melville. Ihre Begeisterung für kybernetische Stimmsynthese. Damit könnte man gut eine halbe Stunde Musik ausfüllen. Sie schaffte siebzig Minuten. Das musikalische Konzept hätte dies nicht allein getragen. Denn der Wechsel von field-recordings venezianischen Kanalplätscherns, Glockengeläut und Strasseneindrücken und musikalischen Blöcken hätte sich sehr schnell abnutzen können, so wie sich an den vorangehenden Tagen geringe Strukturideen vor allem durch performativen Einsatz retteten. Olga Neuwirth hat allerdings etwas, was sie dieses Jahr über alle Massen heraushob, ja, im Vergleich selbst zu den Ideen der Komponisten des Vorjahres, von Ablinger über Kyburz, Walshe, Pauset, Sciarrino bis Adamek: sie hat eine kaum zu bremsende Fantasie! Ich wünschte mir in den siebzig Minuten zwar hier und da einmal ein längeres Verweilen bei einem neuen Sound oder einer neuen Struktur von mehr als meist nur ein bis zwei Minuten. Olga muss aber weiter! Schaurig-schön war der androide Vocaloid-Gesang und eine urzeitliche Synthie-Oboe, wie man es aus Plastiktechno der frühen Neunziger kennt. Das brach wie ein Ufo in die Nono-Prometeo-Quinten und den durch das IRCAM aufgenommenen und mitgebrachten Nachhall der venezianischen San-Lorenzo-Kirche ein. Und wäre ein feiner Schluss gewesen, der aus all der Andre-Richard-Romantik herausgeführt hätte. Dagegen nochmals ein Aufbauschen wie der Schluss von Mahlers Achter samt einer Reminiszenz an Hans Rotts Dauertriangel aus dessen einziger Symphonie. Also ein sehr austriakisches Konzert mit all der Wehmut ans viel zu früh an die Irredenta verlorene Venedig. Aber vielleicht muss man Olga Neuwirth nach all den wandernden Klängen, den aussermusikalischen Elementen, den gleissenden Girlanden, den verstimmten Zupfinstrumenten, den polyphonen Sololinien im Endtutti, den durch sie sublimierten Elementen Nonos, des Spektralismus und der Postmoderne zurecht in einem Atemzug mit Schubert, Bruckner, Mahler, Berg, Krenek und Cerha nennen. Chapeau Madame!

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Falsche Importance
Allerdings hatte dieses Konzert auch einen deutlichen Minuspunkt. Was hinter all der Freude über das gelungene Werk nicht vergessen werden darf, ist eine kräftige Kritik an Saint IRCAM! Es mag dem Geld geschuldet sein sowie dem Aufwand eines solchen Konzertes, dass es nur einmal im Rahmen der Musiktage erklingen konnte. In der grössten der Donauhallen bot es auch vielen Zuhörern die Gelegenheit, dabei zu sein. In den absolut perfekten Genuss der teuren französischen Staatstechnik kam aber nur das Häuflein, für das nahezu alle Plätze in der Saalmitte reserviert waren. Die Prominenz sass in Zentrum der Lautsprecherinstallation und der rundum aufgebauten Musiker des Ensemble Intercontemporain. Wenn man nun das Wort „Steuermittel“ bemüht, mag das wie ein alter Zopf klingen. Allerdings sind dies ja Finanzen der demokratischen Republik Frankreich gepaart mit dem baden-württembergischen Anteil am deutschen Rundfunkbeitrag. Der brave Normalbesucher, auch Normalbürger, der das Konzert besuchte hatte davon aber nur eine Ahnung beziehungsweise gar nichts! Ausser dem Eindruck, dass das IRCAM dabei war, als in Venedig akustische Urlaubsbilder aufgenommen worden sind, Hall und öffentlicher Raum. Und hier kommt die Kritik des Konzeptualismus, der Institutionskritik der digital natives zum Tragen: vielleicht nicht in der Brillanz, aber annähernd beeindruckend hätte es unter Umständen ein einfacher Logic-Platinum-Hall samt eines kleinen, guten Aufnahmegerätes auch getan. Dann hätte man nur 50 Leute pro Aufführung in den Saal einlassen können, aber für diese in perfekter raumzentraler Position, mit etlichen Wiederholungen der Aufführung. Da wird von entwickelnden Notwendigkeit des Neuen, implementierten Gesellschaftskritik der Neuen Musik, tausenden Lippenbekenntnissen zur Unterstützung dessen durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Und bei dem zentralen Festival dieser Credi wird verfahren, als sein man Teil des globalen, neoliberalen First-Class-Gewese. Wie gesagt, das mag fast keinem aufgefallen sein. Kam hier aber doch besonders deutlich zur Geltung. Qualität durch die Quantität an individueller Importance. Ist das die Zukunft auch bei den Musiktagen? Beziehungsweise gab es das schon immer: wann wird es also abgeschafft? Wenn schon die Grosszügigkeit an Freikarten nach Köhlers Tod deutlich reduziert wurde, dann aber bitte mehr hoch-künstlerische Teilhabe für Alle!

Ausblick
Wie in meinem letzten Text zu Patrick Franks Theorieoper beschrieben, könnte zum Beispiel mit dem „Commission Sharing“ eine neue Zeit eingeläutet worden sein. Die Zukunft wird nach der Pressekonferenz aber vor allem in der Erhöhung des Frauenanteils sein. Was aber auch vonnöten sein wird, ist der Ausbau der Transparenz von künstlerischen Leitungsentscheidungen. Bei denen soll sehr wohl die Kunst und die Musik im Zentrum stehen. Aber auch der Namenspool könnte leicht verändert werden. Das wird allerdings nicht wie bei Next Generation funktionieren, wo kein einziger deutscher Namen dieses Jahr auf dem Programm stand. Das national wichtigste Festival soll natürlich das Beste aus aller Welt an die Donau bringen. Aber es sollte auch bedacht sein, nicht weniger als die Hälfte des Programms mit Komponisten und Komponistinnen aus dem Musikleben des eigenen Landes zu besetzen, was ja dann eine durchaus internationale Szene widerspiegeln würde. Wir kennen alle die Bedingungen unter denen Kommunen und Bundesländer Mittel für die Kultur vergeben, wo das Künstlerische hinter Quoten verschwindet. Das sollte bei den Musiktagen auf keinen Fall passieren. Das wird sich daran bemessen lassen, wie stark das Management des neufusionierten SWR-Orchesters sein wird, wie stark die Musiktage-Leitung bleibt. Es ist zu hoffen, dass Gottstein genauso mit den Künstlern in direkten Kontakt sein darf wie Köhler, ja, es vielleicht doch institutionsautonomer, verlagsferner als sein Vorgänger hin bekommt, vielleicht auch einen Open-Space wie den der Darmstädter Ferienkurse schafft, das System composer and their friends selbst für grössere Besetzungen zulässt.

Nettigkeiten
Schon einmal merkte ich an, dass 2015 kein einziger wirklich neuer Name auf der Musiktage-Agenda auftauchte. So bestätigte es sich im abschliessenden Orchesterkonzert, dass zum letzten Mal auch ein Forum des Protests gegen die SWR-Orchesterfusion, des vorläufigen Abschieds des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden/Freiburg und seines Chefs Francois Xavier Roth von den Donaueschinger Musiktagen war. Alvin Curran mag einige Jahre nicht mehr dabei gewesen sein. Dafür durfte er jetzt mit einem Werk für Orchester, Jugendorchester, Selbstspielklaviere und eine eigene Partizipations-App ran: The Book of Beginnings war für das beteiligte Jugendorchester garantiert eine wie auch immer geartete einzigartige Erfahrung. Es war zudem für die besten Momente zuständig, wenn es etwas verstimmt klingend die Berufsmusiker des SWR-Sinfonieorchesters spiegelte. Die eingespielten App-Disklaviermomente wirkten disparat, der musikalische Ideenreichtum erschöpfte sich im performativen Nachvorne-Schreiten des Jugendorchesters mit Mundharmonikas und Blaseschläuchen und die vergeblichen Winke an den Tonmeister, den lauten Sound noch lauter zu machen: wann verbannt man endlich Komponisten von Mischpult? Das Beste war die windschiefe Instrumentierung von „Einschlummerndes Kind“ aus Schumanns Kinderszenen. Yves Chauris „Why so quiet“ erging es ähnlich wie Kreidlers TT1, wo man sich ohne Probleme einen leibhaftigen Pianisten am Vierteltonklavier statt der Einspielung vorstellt: beim späteren Radio-Nachhören verschmolz der Klang viel lebendiger als in der Baarsporthalle. Im Moment der Live-Aufführung fragte man bei Chauris, was das ewige Rauf- und Runtergleiten im Stile eines über alle Massen gezähmten Xenakis eigentlich will. Die Sirenenrufstellen blieben einzig haften. Der Dirigent sollte eigentlich einen Lullyschen Taktstampfstock benutzen. Aber höchstwahrscheinlich riet der Dirigentenverband vom exzessiven Einsatz, der eigentlich in der Partitur vorgesehen, ab – kann ja tödlich verlaufen!

Wo war Jacques Loussier?
Francesco Filideis „Killing Bach“ wirkte am Besten, wenn die Elektrotaser zum Einsatz kamen. Oder Schalgzeuger-Luftschläuche, flautando-Streicher und seufzendes Holz einen Choral Bachs intonierten. Der Komponist sprach von Obszönitäten, die er Bach zumuten würde. Die poppigen Momente, die irrsinnig schnellen Play-Bach-Momente, das Geballer des Schlagzeugs: alles sehr gekonnt gemacht, dramaturgisch gut gestaltet. Aber es erinnerte doch arg an längst vergangene, postmoderne Zeiten mit Killmayer, von Bose und Rihm, nun also in Form eines „Jacques Loussier der musique concrète instrumentale“. Lustig, aber sonst virtuos leer, meilenweit von den Bach-Instrumentationen eines Weberns entfernt, Äonen von den Siciliano-Momenten in Lachenmanns Tanzsuite mit Deutschlandlied.

Glaubensglutamat
Zum Abschluss gab es „Über“ von Mark André für Solo-Klarinette und Orchester. Das Beste daran: der überragend spielende Jörg Widmann, der selbst im Schweigen mit seiner Gestik noch die Stille mit einem dargestelltem Kurtag-Crescendo veredelte. Die Musikelektronik verlor sich genauso wie bei den anderen Werken des Abends in der Halle im Gegensatz zur hinterher gehörten Radioaufzeichnung. In den langen Geräusch- und Liegetönen des Orchesters, kurzen Einwürfen gab es wie bei Filidei durchaus eine gute Dramaturgie hier und da zu erleben, die sich in dreissig Minuten aber doch sehr abnutzte. Genauso die Triller in Streichern und vor allem in der Soloklarinette. Seit Ende des letzten Jahrhunderts sollte eigentlich den besseren französischstämmigen Komponisten klar sein, dass damit kein Staat mehr zu machen ist. Besonders nervtötend die nimmer endenden Bisplingando-Triller. Das Programmheft sprach artig vom Einsatz von Audiosculpt, Open Music und Soundhack, das Orchester, welches dem Stück den Orchesterpreis verlieh, sprach von der Innovation, die damit unbedingt gefördert werden sollte. Mit Verlaub: die drei Applikationen hat heute jeder Komponist auf seinem Rechner, die erweiterten Spieltechniken in seinen Partituren, eine solche Dramaturgie auf seinem Schirm. Die Tonhöhengestaltung, so sie vorkam, war wohlgeordnet, aber systematisch brav wie die Abstreichmethode im ersten Semester, ohne jegliches Gefühl für harmonische Fortschreitung, wie sie z.B. doch bei Johannes B. Borowski zu spüren war, wie sie Olga Neuwirth ob bewusst genutzt oder nur so angewandt in die Wiege gelegt waren. Ärgerlich die Momente, wo tonloses Spiel bzw. Slap- oder Pizzicatoeffekte des Klarinettensolisten von Stelle zu Stelle in rein chromatischen Skalen Halbton für Halbton fortschritten. Im Prinzip hätte auch Widmann dieses Stück schreiben können, so er seinen Klarinettenpart nicht nur improvisatorisch ausnotiert hätte. Aber auch jeder andere, so er seine Gläubigkeit ausserhalb der Kirchenmusik wie André exhibitionieren würde, auf dass die Heiligkeit des Protestanten und protestierenden Lachenmanns seine katholische Reinwaschung und apostolische Sukzession bekommen hätte, worauf einmal wieder das Establishment der Musiktage bis zur Leitung des Beethovenmusikfestes hereinfiel, ja selbst Kreidler im Angesicht Andrés vom Konzeptualismus-Saulus zum Kompositions-Content-Paulus wird.

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5 Antworten

  1. Sepp Müller sagt:

    Was ist denn die
    „Andre-Richard-Romantik“ ? Vielleicht meinen Sie die kompetenten und höchst musikalischen Aufführungen von Prometeo so zu bewerten ?

  2. Sepp Müller sagt:

    ….und ich saß bei Neuwirths Stück in der Mitte des Raumes hinter der Klangregie, da war der Klang auch nicht „besser“, trotz dem Aufwand von 25 Lautsprechern im Raum und dem angewandten Ambisonic-Verfahren. Es ist einfach problematisch, den „Geist“ bzw. Raumklang von Nono´s Prometeo aus der UA einzufangen (über die aufgenommenen Impulsantworten der Chiesa Santa Lucia) und mit ihm dann zu meinen, eine „Nono- Qualität“ zu benutzen bzw. Klangqualität daraus zu ziehen, da gehört viel mehr dazu !

  3. danke für den kommentar! richards arbeit zum prometeo ist unvergessen. der bezug darauf, auf jenen venezianischen raum hat was nostalgisches, ergo könnte man, wie ich es mache, von romantik sprechen. denn es ist ja nicht klarheit nonos ausgangswerk, sd. eine rückschau darauf. ein rückgriff auf den mittleren nono wäre ggf. nur nostalgisch.

    danke für den eindruck aus der mitte des raumes. es bleibt bei mir dennoch was elitäres hängen…

  4. Sepp Müller sagt:

    @ Neuwirth und IRCAM:
    „Der perfekte Genuss war auch nicht in der Mitte des Saales“, somit ist Ihre Argumentation bzgl. elitäre Hörposition nicht stimmig.

    @ Mark Andre:
    zu Ihrem Satz „…Einsatz von Audiosculpt, Open Music und Soundhack…“
    Werkzeug – sprich software – kann heute jeder erschwinglich kaufen, aber das bedeutet nicht konsequent, dass daraus der „Benutzer“, sprich der/die KomponistIn auch was über das Handwerkliche hinaus hervorbringt und sagt nichts über die Komposition aus. Es ist nur ein Werkzeug, oder auch ein zu komponierendes „Instrument“.

    Im übrigen, die Live-Elektronik bei Andre „verlor sich nicht in der Halle“, ich habe sie gut wahrnehmen können, u.a. Audiosignale in den Perkussionsinstrumenten.

    Ihr Argument, in der Radioaufzeichnung ist das besser zu hören, da müssen Sie sehen, dass durch den Tonmeister eine „Interpretation“ – durch die gezielte Verstärkung bestimmter Mikrophone – erfolgt, die im Raum so nicht zu hören ist und auch nicht gewollt ist, sonst hätte man es Live verstärkt.

  5. @Alexander: Herzlichen Dank für die launige Berichterstattung :-) Es ist recht interessant, was dein Kollege Dollfuss (aka „knopfspiel“) über die exakt gleichen Events bloggte:
    http://knopfspiel.livejournal.com/32308.html
    Gaanz langsam scheint sich doch so etwas wie eine genuine „Neue Musik-Blogosphäre“ zu entwickeln :-)