Der Dollarschein in „Das Sein und das Nichts“ und die unabsichtliche Regina Thoss

Vor vielen Jahren, ich studierte noch – ja, es ist so! – Philosophie, hatte ich mir, damals sagte man noch „im Internet“, Jean-Paul Sartres „Das Sein und das Nichts“ bestellt. Der völlig überschätzte Wälzer wurde, wie bei Neubüchern üblich, in Zellophan verpackt geliefert. Ich las das Buch aber nicht sofort, sondern packte es erst einmal weg, Sartres verkackter Indeterminismus – ich selbst bin, als guter Ulrich-Pothast-Schüler, strenger Determinist, meines Erachtens ist niemand je für irgendeine Handlung niemals nicht verantwortlich zu machen – konnte erst einmal warten.

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Irgendwann habe ich das Buch dann doch mal zur Hand genommen. Da fiel aus dem Buch ein Ein-Dollar-Schein – und ich aus allen Wolken. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich noch nie in Amerika – nur coole Menschen sagen „USA“ – gewesen. Als Lesezeichen hatte ich die Dollarnote also nie in das Buch getan. Meine Freunde sind gutaussehend, intelligent, erfolgreich – und einfallsreich. Aber ich gehe nicht davon aus, dass mir jemand aus diesem Kreise eine Ein-Dollar-Note in meinen Sartre geschmuggelt hatte. Warum denn auch?

Der Original-Dollar von damals in "Das Sein und das Nichts" (Abbildung nachempfunden)

Der Original-Dollar von damals in „Das Sein und das Nichts“ (Abbildung nachempfunden)

Bis heute bin ich nicht darauf gekommen, wie diese Dollarnote in den rororo-Wälzer gelangen konnte. Und ja, ich habe versucht, das zu deuten. Aber ich konnte keine Verbindung zu Sartres „L’être et le néant“ und einem Ein-Dollar-Schein herstellen. Bis heute nicht (hier bitte drei Edvard-Munch-Schrei-Emojis vorstellen!!!).

Genauso wenig erklären konnte ich mir, dass neulich in der von mir häufig frequentierten Amerika-Gedenkbibliothek einige Bücher und Noten auf meine Abhol-Nummer gebucht waren, die ich gar nicht bestellt hatte. Einige Bücher zum Thema „Selbsthynose“ beispielsweise. Ja, ja, ja, ich habe darüber nachgedacht, ob das eine Bedeutung haben, ein „Zeichen“ sein könnte. Ich glaube an so etwas nicht. Aber ich glaube an Regina Thoss!

Regina Thoss ist eine DDR-Schlagersängerin. Ich hatte nie etwas von ihr gehört. Bis zu eben jenem Tage neulich. Denn auf meine Kontonummer war folgender Band mit den „größten Hits“ von Regina Thoss verbucht worden:

Regina Thoss (Serviervorschlag)

Regina Thoss (Serviervorschlag)

So lächelte mich die Regina an. Ihr kleiner, von zynischer Hand hinzugefügte Zahn-Makel wurde offenbar von einer Bibliotheksmitarbeiterin mittleren Motivationsgrades… sagen wir es positiv: mit einer Etikette dezent retuschiert. Das erinnerte mich an die vielen alten Bücher in der Bibliothek des Instituts für Musikwissenschaft an der Humboldt-Universität, direkt nebendran wohnt übrigens unsere Bundeskanzlerin, in denen die Hakenkreuze unter dem Reichsadler – sagt man das so? – ebenso retuschiert worden waren. Nämlich teilweise gar nicht, teilweise in Gänze. Und teilweise waren die Hakenkreuze nur schlicht mit einem Kugelschreiber durchgestrichen worden. „Äh, gilt nicht mehr!“, „Nicht mehr aktuell!“ – derlei flüsterten mir diese lieblosen Streichungen zu.

Natürlich nahm ich Regina Thoss mit zu mir nach Hause und legte sie auf mein Klavier. Und gleich das erste Lied: ein Volltreffer.
Den ganzen Song – der schöne Titel lautet: „…und so bin ich“ (man ergänzt als Avantgardist unwillkürlich: „…und so bin ich… für Akkordeon, Harfe, Schlagzeug, Live-Video und Live-Elektronik“) – darf ich hier freilich nicht „reinstellen“. Aber ich teile doch so gern! Menno!

Ich kann und will diese meine Entdeckung aber öffentlich machen! Denn im ganzen großen Internet findet sich keine Aufnahme von diesem aus der Feder Waltzer Kubiczecks (Text: Karin Kersten) stammenden Kleinod.

Es folgt: die unvermeintliche harmonische Analyse.

Das Lied beginnt in C-Dur.

C-Dur (Takt 1)

C-Dur (Takt 1)

Kurz darauf dann:

Des-Dur (Takt 17)

Des-Dur (Takt 17)

Und jetzt, hold on to your seat:

D-Dur (Takt 33)

D-Dur (Takt 33)

Schließlich:

Es-Dur (Takt 41)

Es-Dur (Takt 41)

Die subtile harmonische Progression, die Anwendung der tradierten Schlagertradition des halbtönigen Erhöhens hat mich hier in dieser Radikalität doch immens enthusiasmiert. Gibt es vielleicht Schlager, die das Ganze harmonisch noch weiter (halbtönig nach oben) treiben? Und wenn ja: Welche? Aufruf zur Mitarbeit, oh ja!

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.