Eulen, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Nazivergleiche, Teil 2 (Gastartikel von Harry Lehmann)

(hier der zweite Teil unseres Gastbeitrages von Harry Lehmann, siehe auch den aktuellen Artikel in der Druckausgabe der NMZ)

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Eulen, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Nazivergleiche, Teil 2

– Zur Debatte über Konzeptmusik und andere Ärgernisse –

Relationale Musik

»Relationale Musik – kann man das noch sagen, nachdem eine relationale Ästhetik vorgelegt wurde, die sich aber durch die Beziehungen zum Rezipienten definiert, das heißt, nur als ein unabgeschlossenes Setting für eine Situation versteht und nicht als Vis-à-vis-Präsentation eines Stücks, das vom Hörer dekodiert werden soll?«1 Der Einwand, der wiederum von Helga de la Motte stammt, liegt auf der Hand, beruht aber auf einem Übersetzungsfehler oder zumindest auf einer Übersetzungsschwierigkeit. Bourriauds Buch erschien 1998 auf Französisch unter dem Titel Esthétique relationnelle und wurde vier Jahre später ins Englische unter dem Titel Relational Aesthetics übersetzt.2 Eine deutsche Übersetzung des Textes liegt nicht vor, aber es hat sich eingebürgert, Bourriauds Buch als ›Relationale Ästhetik‹ zu bezeichnen, obwohl dies keine adäquate Übersetzung ist. Das französische Wort ›relationnelle‹ ist eine Ableitung von ›relation‹ und kann in der Alltagssprache auch dafür benutzt werden, um zwischenmenschliche Beziehungen zu beschreiben – eine Liebesbeziehung ist zum Beispiel eine ›relation amoureuse‹. Der englische Begriff ›relation‹ bzw. ›relational‹ kann ebenfalls Beziehungen zwischen Menschen zum Ausdruck bringen – ein ›relationship conflict‹ ist ein Beziehungskonflikt –, wohingegen die deutschen Begriffe ›Relation‹ oder ›relational‹ reine Abstrakta bleiben. Genau genommen müsste man Esthétique relationnelle mit ›Beziehungsästhetik‹ übersetzen; das Wort ›Relationale Ästhetik‹ ruft im Unterschied zum französischen Originalbegriff keine sinnvollen Assoziationen zum Gehalt von Bourriauds Ästhetik hervor. Die Rede von einer relationalen Ästhetik ist im Deutschen so aufschlussreich wie eine ›Liebesrelation‹, wenn damit eine ›relation amoureuse‹ gemeint ist. Dem Begriff der ›Relationalen Ästhetik‹ liegt dementsprechend eine schiefe Übersetzung zugrunde, so dass es in der Sache auch unproblematisch ist, den Begriff der relationalen Musik als Gegenbegriff zum etablierten Begriff der absoluten Musik einzuführen.3 Man muss sich nur bewusst sein, dass die Relationale Ästhetik eigentlich eine Beziehungsästhetik ist.

Soviel zum formalen Aspekt von de la Mottes Kritik an der Theorie der relationalen Musik. Eine meiner zentralen Thesen ist, dass die Transformationsprozesse, welche sich im Feld der Neuen Musik heute abzeichnen, auch den Begriff der Neuen Musik tangieren. Ich habe zu zeigen versucht, dass die Neue Musik im 20. Jahrhundert, so wie die Klassische Musik des 19. Jahrhunderts, einer – wenn auch invertierten – Idee der absoluten Musik gefolgt war, und dass sich mit dieser Idee die konzeptuellen, diesseitigen und gehaltsästhetischen Stücke, wie sie heute entstehen, nicht mehr adäquat beschreiben lassen. Vielmehr unterlaufen sie die für die absolute Musik konstitutive Differenz von musikalischem und außermusikalischem Material. Ich habe deshalb den Begriff einer ›relationalen Musik‹ vorgeschlagen – einen Musikbegriff, welcher die Differenz musikalisch/außermusikalisch in sich aufhebt und von vornherein die ›Relate‹ der Musik wie Text, Video oder Handlungen nicht als etwas Musikfremdes ausgrenzt, sondern in den Begriff der Kunstmusik einschließt. Es ist bezeichnend, wenn de la Motte die hierzu entwickelte Theorie nicht diskutiert, sondern im letzten Absatz argumentationsfrei das Fazit zieht: »Lehmann hat keinen neuen Musikbegriff vorgestellt, sondern im Rahmen traditioneller Betrachtung von Musik bei einigen Komponisten eine Verschiebung von der strukturellen Seite auf die inhaltliche besprochen.«4 Solche Autoritätsbeweise, wo der Name der Autorin das Argument ersetzt, lassen sich nicht widerlegen.

Dispositiv

»Die Musik hat im Laufe der Jahrtausende viele Materialerweiterungen und -veränderungen erfahren. Ob man die Tonalität als ein Medium bezeichnen soll, wie Lehmann im Fall der satztechnischen Neukonzeption von Arnold Schönberg, bleibe dahingestellt. Mit scheint das Wort Dispositiv am geeignetsten, das Jean-François Lyotard benutzt, um die Tonalität und die Veränderungen zu beschreiben, denen sie inzwischen unterworfen ist.«5 Der Satz von Helga de la Motte suggeriert mit Verweis auf Lyotard eine theoretische Alternative, was eigentlich nur den Rückschluss zulässt, dass die Autorin die Diskussion, zu der sie sich zu Wort meldet, nur marginal zur Kenntnis genommen hat. Ansonsten hätte sie wohl den akademischen Geflogenheiten gemäß darauf hingewiesen, dass das erste Kapitel meiner Musikphilosophie »Dispositiv« heißt und ich in den folgenden Buchkapiteln ausführlich das Dispositiv der Neuen Musik analysiert habe.6 So aber trägt de la Motte nur Eulen nach Athen.

hoffmannEs versteht sich auch nicht von selbst, dass man den Begriff des ›Dispositivs‹ für eine Analyse der Neuen Musik verwenden kann; hier bedarf es einiger theoretischer Zwischenschritte. Mein Vorschlag war, Dispositive im Anschluss an Foucault in der historischen Koppelung von Institutionen und Diskursen zu begreifen; mit diesem Theorieansatz lässt sich dann auch zeigen, dass das Dispositiv der Neuen Musik, wie es sich im 20. Jahrhundert ausgebildet hat, infolge der digitalen Revolution zerfällt und eine ganz andere Gestalt anzunehmen beginnt. De la Motte hingegen spricht vom »Dispositiv« rein metaphorisch, was zu der bizarren Aussage führt, dass bereits E.T.A. Hoffmann eine Dispositivanalyse vorgelegt hätte: »Das zweiseitige Verfahren, nämlich einerseits das strukturelle Dispositiv zu beschreiben, und andererseits den semantischen Gehalt zu deuten, geht auf E.T.A. Hoffmans berühmte Analyse der Fünften Sinfonie von Beethoven (1810) zurück.«

Die anderen Teile des Beitrags von Harry Lehmann:
Teil 1 + Teil 2 + Teil 3 + Teil 4

Im Windschatten der digitalen Revolution (Beitrag in der nmz 2015/02)

  1. Helga de la Motte: »Endlich auf dem richtigen Weg? Konzeptmusik – ein neues Genre?«, in: MusikTexte 141/2014, S. 42.
  2. Nicolas Bourriaud: Esthétique relationnelle, Dijon, Les presses du réel, 1998; engl. Übers. Nicolas Bourriaud: Relational Aesthetics, Dijon, Les presses du réel, 2002.
  3. Harry Lehmann: Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Mainz: Schott Oktober 2012, S. 115.
  4. Helga de la Motte: »Endlich auf dem richtigen Weg? Konzeptmusik – ein neues Genre?«, in: MusikTexte 141, S. 43. Neben dem Terminus der ›relationalen Musik‹ ist, in einem engeren Sinne, natürlich auch der Terminus ›Konzeptmusik‹ ein neu eingeführter Musikbegriff. Johannes Kreidler erläutert nur ein paar Seiten weiter im selben Themenheft der NZfM, was ›neu‹ an der Konzeptmusik ist, s. »Das Neue an der Konzeptmusik«, NZfM 1/2014, S. 46.
  5. Helga de la Motte: »Endlich auf dem richtigen Weg? Konzeptmusik – ein neues Genre?«, in: MusikTexte 141/2014, S. 43.
  6. s. Harry Lehmann: Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Mainz: Schott Oktober 2012, insb. das Kapitel »Dispositiv« S. 9-15.
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Harry Lehmann
Philosoph | Website

Harry Lehmann lebt und arbeitet als Philosoph in Berlin. Seine theoretischen Interessen liegen in den Bereichen Ästhetik, Kunstphilosophie, Musikphilosophie, Systemtheorie und Gesellschaftstheorie; er schreibt Bücher, Aufsätze, Essays, Kritiken und Katalogtexte über zeitgenössische Kunst, Literatur und Neue Musik – und bei Gelegenheit ›Libretti‹ für Musiktheater.

4 Antworten

  1. Guntram Erbe sagt:

    Wurde Helga de la Motte auf diese Veröffentlichungen hier in diesem Blog hingewiesen und ihr eröffnet, dass sie dazu frei Stellung nehmen kann?

    Oder erleben wir hier eine Art von philosophischem Taijiquan (chinesisch 太極拳 / 太极拳), vulgo Tai Chi?

  2. Sie wird das mitbekommen, keine Sorge. Den Text kennt sie ja schon, da sie ja seine Veröffentlichung verhindert hat, also kann man hier nicht von Tai Chi sprechen…

  1. 4. Februar 2015

    […] anderen Teil des Beitrags von Harry Lehmann: Teil 1 + Teil 2 + Teil 3 + Teil […]

  2. 4. Februar 2015

    […] anderen Teil des Beitrags von Harry Lehmann: Teil 1 + Teil 2 + Teil 3 + Teil […]