Schlechte Stimmung im Konzertsaal (V)

Die sieben letzten Thesen zum musikalischen Kulturpessimismus

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Vor einigen Monaten schlug mir ein Kollege vor, einen Artikel über das menschliche Miteinander bei klassischen Konzerten, die vermeintlich verkrampfte und unfreundliche Atmosphäre in den Konzertsälen dieser Welt zu schreiben. Ich empfand es so wie er: Mit meiner Vorfreude vor vielversprechenden klassischen Konzerten scheine ich – das zeigt das Schweifen über die Gesichter meiner Sitznachbarn – häufig alleine zu sein. Inzwischen kommt mir manchmal der Gedanke, ob das überhaupt so stimmt. Ob tatsächlich hauptsächlich griesgrämige Menschen in klassische Konzerte gehen. Oder wenn sie schon nicht griesgrämig sind: Warum schauen sie mich dann vor dem Vorspiel zu „Tristan“ so trist an? Ja, tun sie das denn? Hat es schlichtweg mit der Konzentration zu tun, die klassische Musik – angeblich – verlangt? Oder gar mit dem „unter-sich-Sein“ älterer Herrschaften, die jüngeren Menschen möglicherweise grundsätzlich skeptisch begegnen? Ich weiß es nicht. Und vielleicht bringt es auch gar nichts, diese Fragen in den Raum und diese Thesen – in bisher vier Folgen: I, II, III, IV – hier aufzustellen.

These 6: Böser Kapitalismus und Kennertum
Meine Facebook-Umfrage zu dem Thema erbrachte auch die Unterstellung, der böse Kapitalismus sei Schuld an den stimmungslosen Gesichtern der Zuhörer im Klassikkonzert. Je teurer das Parfum, desto eher könne man sich Griesgrämigkeit leisten. Ja, es ist der Kapitalismus! Wer Geld hat, hat Langeweile. Zudem muss sich der Geldbürger gefallen lassen, mit jungen und quasi mittellosen Menschen das Parkett zu teilen. Das kann nicht gutgehen. Wohlhabende Menschen wollen unter sich bleiben und sich nicht mit dem Pöbel abgeben. Zumal, wenn sich der Pöbel doch tatsächlich auf die erklingende Musik freut! Sakrileg! Teilen ist nicht. Klassische Musik gehört dem Großbürgertum – und das darf bestimmen, wie unerfreut man dreinschauen darf! Hinzu kommt die gnadenlose Kompetenz des Großbürger- und Bildungsbürgertums. Wer zwischen den Sätzen eines Solo-Konzerts oder einer Sinfonie applaudiert, kennt die langweiligen Rituale des Abonennementabends nicht und gehört anschließend im Foyer gesteinigt (dann meinetwegen auch mit DJ…). Da helfen keine bösen Blicke, da müssen Taten folgen!

These 7: Die Senioren als Hauptverursacher
Zentrale Schuld tragen jedoch die Alten, die Senioren, die langjährigen Philharmonieabonnenten. Sie sind nicht nur mehr oder weniger wohlhabend, sondern sie sind alt. Sehr sehr alt. Alte Menschen sind schwach, krank, schlafen schlecht, außer im Konzertsaal – und wer würde ihnen verübeln, dass sie diese schlechte Grundstimmung im Konzert verbreiten? Junge Menschen haben schließlich kein wirkliches Interesse an Mozart, Beethoven und Bruckner. Man muss sich fragen, warum Jüngere überhaupt noch ab und zu in klassischen Konzerten anzutreffen sind. Klassische Musik gehört den Senioren. Diese sterben aus – siehe die Dinosaurier-These weiter oben – und schauen dementsprechend. Junge Gesichter, in denen sich Vorfreude auf eine Sinfonie abzeichnet, sind unerwünscht. So weit kommt es noch, dass uns langjährigen Abonnenten jemand die Musik, die wir so hassen wie uns selbst, wegnimmt! Ja, wir sterben! Lasst uns also Brahms und Tschaikowski auch sterben lassen! Endgültig!

Allerdings
Ist natürlich alles anders. Beispiel: Das liebe Adorno-Bashing. Ich kann es nicht mehr hören. Wenn man mal sich anschickte, Adorno wirklich zu lesen … Adorno liebte Musik – wie ein Kind! In seiner „Ästhetischen Theorie“ schreibt er: „Tatsächlich werden Kunstwerke desto weniger genossen, je mehr einer davon versteht.“ Andererseits – und Adorno war wirklich gut darin, sich selbst, auch unabsichtlich, zu widersprechen – heißt es wenige Sätze später: „Fragt man einen Musiker, ob ihm die Musik Freude bereite, so wird er eher, wie in dem amerikanischen Witz vom grimassierenden Cellisten unter Toscanini: ‚I just hate music!‘, sagen. Wer jene genuine Beziehung zur Kunst hat, in der er selber erlischt, dem ist sie nicht Objekt; unerträglich wäre ihm der Entzug von Kunst, nicht sind ihm deren einzelne Äußerungen eine Lustquelle.“ Aber da geht es dann ja wieder um den Lustgewinn eines Profis. Wir reden hier von der Seite des Hörers, dem Philharmonie-Besucher, egal, ob er Profi ist oder Musikliebhaber: Beides ist laut Adorno nicht vereinbar. Was nicht stimmen muss. Adorno hat mal wieder eine Negativ-Definition übrig: Der Musiker hasst Musik, aber ohne sie wäre er ein Nichts. Auf menschliche Beziehungen übertragen: „Inzwischen gehst du mir gehörig auf den Zeiger, aber wenn du plötzlich weg wärst, wüsste ich nicht, wie ich weiterleben sollte!“ Schön ist das nicht. Ja, vielleicht hat Adorno ein wenig Schuld. Aber er konnte nicht anders. Verzeihen wir ihm. Dieser Mann hat viel Kluges geschrieben.

Und um es für diejenigen zu sagen, die das Mittel der Überzeichnung nicht kennen und entsprechend kommentiert haben: Einer Bruckner-Sinfonie sollte man selbstverständlich frohen Mutes und mit entsprechend mildem Lächeln entgegensehen; sie bildet, ähnlich wie bei Mahler, nur in völlig anderem Tonfall, das ganze Leben ab; spendet klingende Süßigkeiten dem lechzenden, von den Bürokratien der vergangenen Arbeitswoche getrockneten Menschenmund; zeichnet die tiefen emotionalen Täler humaner Existenzen zwar nach, doch tröstet gleichsam durch warmes Posaunenklangkupfer – und führt immer zu einem versöhnlichen guten Märchenende. Dabei ist es nicht schlimm, wenn man während eines langsamen Bruckner-Satzes einmal wegschlummert. Die Musik hält das aus – und unterschwellig hört das Ohr mit. Es gibt Zwischenzustände von Wachen und Schlafen im Konzertsaal, die fürderhin nichts mit Ignoranz, sondern mit einer ganz eigenen, sehr tiefen Wahrnehmungsform zu tun haben. Nur sollte man trainieren, nicht richtig einzuschlafen. Nichts ist schlimmer als Schnauf- und Schnarchlaute im Konzert.
Missmutige Stimmung vor der Aufführung einer Bruckner-Sinfonie ist also kein absolutes „must have“, sondern ein durch Undankbarkeit und falschen Luxus sich ritualisiert habendes Verhalten, das wir eigentlich nicht nötig haben sollten.

Und nehmen wir es mit den vermeintlichen „Anstrengungen der stillen Kontemplation klassischer Musik“ mal bitte nicht so eng. Menschen von hohem Intellekt, wie der Autor dieses Textes, gehen planvoll vor – und vorher ins Fitnessstudio, ins Restaurant und auf das WC. Eine gute Idee. Und hier ganz kostenfrei, speziell für Sie notiert. Versuchen Sie es! Ihre Laune und möglicherweise infolgedessen ihre Mimik vor und während des Konzerts werden sich zum Positiven verändern. Allerdings, kleiner Bremser: Aus Sport und Nahrungsaufnahme kann Müdigkeit resultieren. Aber dazu, siehe oben: „Schlafen bei Bruckner“.

In Wahrheit wird klassische Musik immer existieren – und solange es Menschen gibt, wird es Menschen geben, die klassische Musik machen und hören. Klassische Musik ist schön. Sinfonik und Oper braucht – im Gegensatz zur Popmusik – keine elektronische Verstärkung. Es ist der authentische Sound des Orchesters, die unverstärkte Kraft des Heldentenors, auf die wir stolz sein sollten. Klassische Musiker sind die wahren Könner. Nur leiden wir Klassikmenschen unter einem Dauerkomplex und prophezeien ständig unser eigenes Verschwinden. Und wir brauchen unsere Senioren! Alte Menschen sind weise, entspannt und liebenswert. Alte Menschen sterben niemals aus. Sie wird es immer geben, sie sind die Basis unserer Musikkultur hierzulande.

Ja, mit klassischer Musik kann man sich unendlich lange befassen. Niemand versperrt jedoch den Zugang zu ihr. Junge Menschen wollen häufig einfach nicht in ein klassisches Konzert. Da helfen keine Vermittlungsprojekte. Wer nicht will, der will nicht. Ja, lasst uns diverse Hürden abbauen – aber lasst uns dabei nichts kleinreden und so tun, als bräuchten wir nach jedem Sinfoniekonzert einen DJ, der uns wenigstens ein bisschen hipper macht. Wir sind hip genug. Und werden es immer sein. Ewiglich, immerdar!

Sehr wohl, klassische Musik ist anstrengend. Aber die Anstrengung lohnt sich – siehe Holger Noltzes Buch von der „Leichtigkeitslüge“. Klassische Musik ist unendlich reich, in ihr steckt das ganze Leben. Lasst uns neu in klassische Musik verlieben, lasst uns in die Menschen verlieben, die wir im klassischen Konzert neben uns sitzen haben. Keine Musik transportiert amouröse Emotionen besser als Musik ohne Worte. Klassische Musik ist Musik der Gedankenfreiheit – in ihr hat alles Platz. Lasst uns mehr freuen! Lasst uns fröhliche Gesichter machen! Ab jetzt. Sofort, unverzüglich.

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

2 Antworten

  1. Guntram Erbe sagt:

    q. e. d. und q. e. e. ;-)

  2. Wunderbar, wie sehr man sich über Klischees amüsieren kann, die man sich selbst nie auszusprechen traut :D Warum habe ich eigentlich diesen Blog erst jetzt entdeckt?
    Darf ich diesen Blog auf meine Blogroll setzen?
    Viele Grüße