Münchener Leidenschaften – Sankt Sebastian in Konzert und Musiktheater

Jetzt begreift man langsam, was das Motto „Ausser Kontrolle“ meinen könnte: zuerst verliebte sich in Marko Nikodijevics Oper „Vivier“ die Titelfigur Claude Vivier imaginär im Geiste und recht deutlich auf der Bühne in den heiligen Sebastian. Im Sonderkonzert der Münchner Philharmoniker zu Ehren des 2012 verstorbenen Biennale-Gründers Hans-Werner Henze erklang dessen Spätwerk „Sebastian im Traum“, eine Reflexion frei nach Georg Trakl über einen typisch morbiden Salzburgaufenthalt. Maestro Markus Stenz zog die noch nicht ganz wachen Musiker des Orchesters sicher durch diese Gratwanderung zwischen Herbheit und Schwüle, ohne beide Extreme überzubetonen. Danach füllten sich die unteren und mittleren Blöcken der Philharmonie noch dichter mit Zuspätgekommenen auf, die wohl im Verkehrstrubel wegen der Meisterfeier des FC Bayern stecken geblieben waren. Knackig und zart zugleich ging es mit der vom langjährigen Henze-Assistenten Jobst Liebrecht mit effektsicherer Hand zusammengestellten Suite „Nebelheim und Sonnenland“ aus der Oper Gisela weiter, eine kleine Feuertaufe, denn bis jetzt hat es nur das Berliner Landesjugendensemble für Neue Musik unter der Leitung Liebrechts aufgeführt: seine Konzerttauglichkeit auch für Profi-Orchester stellte es mit den nun vollkommen erwachten Philharmonikern prächtig unter Beweis.

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Wer Beethovens siebte Sinfonie kennt, weiß vielleicht auch, dass Richard Wagner sie „Apotheose des Tanzes“ nannte. Henzes siebte Sinfonie zum Abschluss des Konzerts, die grösste Besetzung des Abends, zum Beispiel fünf statt standardmäßig drei Posaunen, ist mit dem schnellen Eröffnungssatz und dem rasanten dritten Satz so etwas wie eine Meta-Apotheose des Tanzes, wobei der zweite und abschliessende vierte Satz dann Meta-Lieder wären. Nach den heftigen Rhythmustürmen und sehrenden Melodiebögen beendete Markus Stenz mit langsam sinkender, auf das Klavier deutender Hand die Magie des Riesenorchesters mit Peitschen, Gongs und etlichen „Kontrabass“ im Namen tragenden Blasinstrumenten, das noch unendliche Sekunden im Resonanzraum des Klaviers nachhallte. Danach im nur in den unteren und mittleren Blöcken besuchten Saal ein Jubel, der ihn bei Ausverkauf mit ziemlicher Sicherheit zum Einsturz gebracht hätte. Ein Tropf, wer nicht dabei war!

Einen Tag später trat der heilige Sebastian nochmals in Erscheinung: In der Reaktorhalle inszenierte die neue Professorin Waltraud Lehner an der Münchner Musikhochschule die einzige Oper der Biennale 2014, die keine Uraufführung ist. Gemeinsam mit der ebenfalls an der Musikhochschule lehrenden Komponistin und Dirigentin Konstantia Gourzi und ihrem Ensemble Oktopus hievte sie Claude Viviers „Kopernikus, Ritual-Oper über den Tod“ auf die Bühne. Wenige Jahre bevor Vivier 1983 in Paris ermordet wurde, wovon ja insbesondere Nikodijevics Oper handelte, komponierte er seine einzige vollendete Oper. Die indische Göttin Agni gleitet langsam ins Jenseits hinüber und begegnet ganz im eigensinnigen Humor Viviers dabei unter anderem Merlin, Tristan und Isolde, Mozart und eben Kopernikus, der als Titelträger aber nur ganz kurz auftritt. Dabei sang das hervorragende Studentenensemble mit seinen Gästen in Phantasiesprache, Koloraturarien, Barockportamenti, in wahnsinnig schnellem Französisch, manches Mal mit der Hand vor dem Mund, den Klang verändernd wie ein Posaunist mit dem stöpselartigen Wah-Wah-Dämpfer, zarte Linien, große Ensembles und Chöre, und zum Ende eine sich allmählich in Raum und Zeit verlierende Hymne, also eine Vielfalt, wie man sie selten im modernen Musiktheater erlebt.

Dazu ließ Lehner die Affen tanzen, also eben wieder Sankt Sebastian auftauchen, der dann als Inkarnation Christi auf den Esstisch gekreuzigt wurde, um am Ende Leonardo da Vincis letztes Abendmahl szenisch aufzugreifen. Das war alles sehr einfallsreich und unterhaltsam. Allein, das neue Ritual von Humor und Heiligkeit, nämlich Viviers Intention, zu zeigen, dass „die Menschheit… aufhören (wird), sich für den Nabel der Welt zu halten und…das Unendliche spüren, das sie umgibt“, trat nicht ein. So sehr gut diese Produktion mit den Studenten technisch gelang, fehlte doch der letzte Schliff an sicht- und hörbarer Leidenschaft, die einem internationalen Festival wie der Biennale gebührte. Wobei noch die Frage erlaubt sei, ob nach vielen Jahren, in denen mit großen Opernhäusern und Festivals weltweit kooperiert wurde und dieses Jahr nur kleinere deutsche, bayerische und münchnerische Theater Pate standen, der Nimbus der Internationalität trotz Komponisten und Komponistinnen aus aller Herren und Damen Länder nicht dahin ist. Ob die vielleicht viel weniger handfesten, experimentelleren Rezepte der beiden neuen Leiter Manos Tsangaris und Daniel Ott ab 2016 das abwenden können, im Gegensatz zum nun scheidenden langjährigen Leiter und mitunter besten Netzwerker der Opernszene, Peter Ruzicka, ist eine Frage der Zukunft. Denn entgegen Viviers Worten, muss sich ein Festival wie die Biennale als Nabel der Opernwelt anfühlen und nicht irgendwo im Mittelfeld des Opernkosmos sein, wie es jetzt der Fall ist.

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