Musica Viva mit Manoury und Pesson – Assoziationen, Zauber und alle Fragen offen

Dem französischen Komponisten Philipp Manoury begegnet man diesen Herbst jeden Monat: Mitte Oktober erhielt er den Preis des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden/Freiburg für die beste Orchesterstückuraufführung der Donaueschinger Musiktage 2013. Mitte Dezember wird das Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks in der Reihe musica viva ein weiteres Orchesterstück von ihm uraufführen. Vor wenigen eröffnete die gleiche Reihe ihre Saison unter anderem mit der Münchener Erstaufführung von Manourys Streichquartett Tensio mit Live-Elektronik des Pariser Forschungsinstitut für Musikelektronik (IRCAM). Das Quatuor Diotima spielte zuerst zwei Quartette des Manoury-Kollegen Gérard Pesson. Sein Quartett „Bitume“ hinterließ den Eindruck eines heimlichen Postmodernisten. Über die Relevanz der Besetzung Streichquartett lässt sich trefflich streiten, gerade kritisieren junge Komponisten diese durch das Arditti-Quartett zur Standardbesetzung Neuer Musik auf das Heftigste, derweil wiederum so viele junge Komponisten wie nie zuvor trotz dieser Kritik und auch trotz der Vorlieben des Arditti-Quartetts neue Streichquartette schreiben.

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Wer nun Pessons Beitrag zur Besetzung aus dem Jahre 2008 ausgesetzt ist, sollte irgendwann Teile der Quartettliteratur zwischen Haydn, Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, Debussy, Ravel, der Zweiten Wiener Schule, Ligeti und Lachenmann gehört haben. Aus einem hohen, einstimmig gespielten Ton streifen die Spieler immer wieder Momente der Tradition, die nur als kleine Fetzen auftauchen, so dass man eine erinnernde Emotion empfindet, die der Assoziation nur selten konkret eine Wendung aus einem bekannten Werk zuordnen kann. Das immer wieder gleichmäßig pulsierende Tempo bannt die Hörer mit dem Kosmos bekannter Gesten auf sublim unterhaltende Weise für eine Viertelstunde, als würde man flüchtige Details auf frühen mit lichtempfindlichen Asphalt Fotos produzierten erkennen, genau dies meint der Titel „Bitume“, genau dies erzeugte das subtile und generöse Musizieren des Quatuor Diotima.

Die folgende halbstündige Uraufführung „Farrago“, was Mischfutter bedeutet, spielte letztlich mit den gleichen Mitteln wie „Bitume“. Formal ist es die grössere Herausforderung. Pesson arbeitete dabei weniger assoziativ wie im anderen Quartett, sondern wollte mit Wiedererkennungsmomenten spielen. Natürlich erkannte man Motivfetzen und Spieltechniken wieder, wie die Dauer-Bariolage, das arpeggierende Spielen über alle vier Saiten. Die vermeintliche Deutlichkeit und Verspieltheit der Form ging in den Figuren unter, die als Morphologie vielleicht viral aber nicht strukturbildend zellulär genannt werden können. Das feine Spiel mit der eigenen Quartetterfahrung des Hörers aus „Bitume“ unterblieb, man vermisste weniger die Wiederholungen als ein baldiges Ende.

Nach der Pause endlich Philipp Manoury. Trat er in Donaueschingen als traditioneller Orchesterkomponist in Erscheinung, erschien er dort in seiner kleinen Ansprache mit mahnenden Worten zum Erhalt der Orchesterkultur mit seinen langen weißen Haaren als cooler wie netter Typ. Den coolen Softwaremusikern dürfte er erstmal nicht so bekannt sein. Dabei komponieren sie irgendwie alle sein Stück weiter, was er als Künstler an der Seite mit dem Musikinformatiker Miller Puckette entwickelte: die Software MaxMsp, genauer Max. Kein Wunder, dass Manoury in „Tensio“ für Streichquartett und Live-Elektronik in die Vollen griff.

Grob zusammengefasst arbeitete er mit drei Möglichkeiten: einerseits die Konfrontation der Live-Instrumente mit ihren eigenen perfektionierten Synthetisierungen, dagegen die elektroakustische Sofort-Verarbeitung von im Konzert direkt aufgenommenen Klängen und die interaktive Reaktion der gesamten Elektronik auf die Spieler, indem die klanglichen Gesten der Musiker automatisch die vorgenannten Möglichkeiten der Elektronik auslösten. Möglich ist dies durch ein Partiturfolgen der Elektronik der durch das Quartett dynamisch und agogisch individuell gespielten Partitur. Die Instrumente verdoppelten sich, nur einfach erzeugbare Spieltechniken waren kumuliert zu hören, soeben live gespieltes raste um das Publikum herum, veränderte sich und initiierte neue Varianten im Quartett, der Raum vergrösserte und verkleinerte sich, Pizzicati wurden zu Glockenklängen, und so weiter. Man war vierzig Minuten mal irritiert, mal verwundert, mal verzaubert mit Lauschen und Folgen der Musik beschäftigt.

Was bleibt, ist die Frage, ob dies das Hören, das Musikerlebnis grundsätzlich verändert. Das Können und die technischen Verdienste Philipp Manourys sind gigantisch, das dramaturgische Spielen mit der Zeit sucht seinesgleichen unter seinen Zeitgenossen, ein französischer Leu. Nimmt man allerdings den Namen des Quatuor Diotima als Omen, verweist dieses auf Luigi Nono, den längst verstorbenen venezianischen Löwen. Abgesehen davon, dass Nonos Quartett ohne Live-Elektronik auskommt, probierte Nono das Kommen und Gehen, das Transponieren, das Wiedererkennen und Vergessen von live aufgenommenen und verarbeiteten Musikerklängen und Sängerlauten konzise und jeweils parametrisch eng eingegrenzt aus, schuf bis dahin unbekannte Interaktionen zwischen Instrumentalist und Tonmeister.

Dies geschah mit im Vergleich zu heute unglaublichen Aufwand an Personal, wo jetzt in wenige Koffer passende Technik und zwei Betreuer ausreichen. Gerade die Interaktion scheint heute noch ausbaufähig zu sein. Dafür wird es auch weiter große Institute wie das IRCAM oder das SWR-Experimentalstudio brauchen. Die Frage ist allerdings, wie jenseits sorgsamen Kuratierens jener Institute, alle Komponisten Gebrauch von den Errungenschaften bekommen können. Mit all der opensource-Software scheint dies möglicher denn je. Dennoch könnte man in Hinblick auf die Musik von Philipp Manoury von Staatskunst sprechen: er hatte und hat zeitliche und finanzielle Gelegenheit sorgsam zu forschen, zu entwickeln und zu proben.

Dies bleibt trotz den Möglichkeiten der Software den Anderen verschlossen oder ist nur in durch die Institute kuratierten Einzelfällen möglich oder gegen hohe Unkosten zu erreichen. Ist es da nicht sinnvoller, wenn weitere Stücke nicht gleich mit dem ganzen Repertoire an Technik protzen würden und sich auf weniger Aspekte konzentrieren würden? Wäre es nicht sogar spannender, wenn eher einfache Partiturfolgesysteme erstmal zum Einsatz kommen, der Klang weniger kontrolliert wird und rauer daherkommt? Jetzt glänzt alles wie die Fenster des IRCAM-Bunkers, ist schönes Handwerk, aber doch irgendwie substanzarm. Die Zauber der jetzigen Möglichkeiten sind gigantisch, die Magie Nonos aber noch nicht in Grundzügen aufgearbeitet.

Komponist*in

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