„Futuristengefahr“ [3] Dobberstein vs. Irrwege

In ähnlicher Tonlage wie Christoph Drösser, und doch mit ungleich höherem persönlichen Vergeblichkeitspotential, bläst Marcel Dobberstein zum Spiegelgefecht. „100 Jahre Irrwege“ verspricht er der Neuen Musik nachzuweisen. Pfennigfuchser werden ihm zunächst nachweisen wollen, dass die Behauptung, sich mit 100 Jahren zu beschäftigen völlig fehl geht: Nicht vor 1919 beginnt seine Erzählung (mit Schönberg natürlich) – und endet eigentlich um 1960, als die Cage-Rezeption in Europa einsetzt. „Organisch“ heißt Dobbersteins Kampfvokabel, die Heilung von den, Zitat, „Exaltationen“ des Jahrhunderts verspricht.

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Der psychotische Aspekt wird in der Neuen Musik virulent. Man darf also Strawinsky, Bartók, Hindemith und andere nicht mit Schönberg, seinen Schülern, den Geräuschsmalern, den Reihenkonstrukteuren, den Elektronikern, den Zufallsdilettanten, den Minimalisten und Einfachen, den Phantasten und ihrer Kamarilla in einen Topf werfen. Musik macht, wer vitales Klanggewebe schafft, das, wie Strawinsky betonte, nuancenreich vom Dualismus Spannung – Entspannung lebt.
Dabei bleibt Musik wesentlich „Tonkunst“. Dem Geräusch fehlen die Tonqualitäten, die den Aufbau zu systemischen Gefügen ermöglichen. Es kann Ergänzung sein, solange es den ästhetischen Eindruck nicht zerstört. Das eher amorphe Geräusch in die Rolle des prägnanten Gestaltträgers zwingen zu wollen ist müßig. Ohne kommunikativ geschliffene Einrichtung über Generationen hinweg wird keine organische Musiksprachlichkeit erwachsen.

Spätestens an dieser Stelle möchte man dem Anthropologen einmal wieder einen Konzertbesuch empfehlen. Ja, hat er denn noch nie Musik von Helmut Lachenmann oder Carola Bauckholt gehört? Zwei höchst verschiedene Komponisten, die beide auf ihre Weise das Komponieren mit Geräuschen zur Kunstform eigenen Rechts erhoben haben. Mal abgesehen davon, welchen organischen Mehrwert „systemische Gefüge“ haben sollen: wie sähe es denn aus, wenn man sich mit anthropologischen Ohren der Musik des französischen Spektralismus nähert?

Darin, die physische Welt mit ihren Gesetzmäßigkeiten und Phänomenen als etwas Objektives unmittelbar zur Grundlegung der Musik heranzuziehen, schreiben die Avantgardisten an einer Geschichte der Irrtümer weiter, die mit den Pythagoreern begann. Diese Gegenüberstellung von Mathesis und Gefühl verkennt die Gewichte. Sie ist dazu angetan, den anthropologischen Boden der Musik zu verunklaren. Der Mensch und die sogenannten objektiven Bedingungen, mathematische, physikalische vor allem, stehen sich dann wie zwei Blöcke gegenüber, wobei es unter diesen Vorzeichen zudem schwerer wird, zu sehen, was von er Mathesis am Wesen der Musik tatsächlich mitbildete oder vielleicht nur Ideologie war. Was hier künstlich und nach den Strickmustern einer alten weltanschaulichen Denkungsart getrennt wird, hat realiter unter der Ägide der anthropologischen Gegebenheiten zusammengewirkt. Wer die Dinge gleich zu gleich stellt und beide irgendwie für sich am Werke der Musikgeschichte sieht, der kann unschwer die eine Seite zurückfahren, um dann seine „Objektivität als eigenwirklich und hinzunehmend behaupten. Diese Verdinglichung der Musiksprache lädt zur Dekomposition des Organischen gerade zu ein. Und die Trennung von Verfahren und schöpferischem Subjekt verführt zu einer Entlassung des organischen Miteinanders; was gleichbedeutend ist mit der Hinausbringung des Organischen aus der Sache der Musik; was einer Herausbringung der Musik aus der Realität gleichkommt.

An solchen Stellen driften Dobbersteins klärende Worte selbst ins gnostische Dunkel ab, das er dem Treiben der Avantgardisten attestiert. Man muss Dobberstein recht geben, wenn er den kunstreligiösen Dünkel anprangert, der um manches Komponistenwort verbreitet wird. Er mahnt zurecht an, dass es an einer fundierten Kritik des zeitgenössischen Treibens fehlt. Von ihm darf man sie jedoch nicht erwarten, denn als sein Hauptinformant dient ausgerechnet der inzwischen schweren Verdächtigungen ausgesetzte Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht mit seinem weit verbreiteten, jedoch umstrittenen Buch „Musik im Abendland“. Mit einem solchen Schmalwinkelobjektiv lässt sich die systemische Aufarbeitung der Musikgeschichte, die Dobberstein der systematischen gegenüberstellt, wohl kaum vorantreiben. So entsteht keine organische Ästhetik, allenfalls organische Ausscheidungen.

In seiner Fixierung auf die organische Ordnung bleibt Dobbersteins Pamphlet geistlos. Als abschließendes Beispiel möge seine Auseinandersetzung mit Schönbergs Idee der Klangfarbenmelodie dienen.

Fortwährend wird das alte Schema der Religion abgearbeitet: Zerschlagung und Zerstückelung, Tod, Wiederauferstehung im reinen, neuen Gewand. Boulez erklärt zum neuen Leben der Klangfarbe: „So wie die Lautstärke hat auch die Orchestrierung nicht mehr allein dekorative Funktion, wie im 19. Jahrhundert. Sie wird zu einer neuen strukturellen Kraft; sie ist nicht mehr ‚Gewand’, sondern das Klangphänomen selbst in seiner totalen Erscheinungsform. In die bionomische Ordnung übersetzt müsste man nun Leber, Niere, Herz, und was sonst Organ ist, dem systemischen Ganzen entnehmen, es jeweils in seiner Funktionalität streng logisch nach gleichem Schema modifizieren, um dem verdutzten Haufen magisch zuzuraunen: So, jetzt leb’ und mach’ was Schönes!

Es mag keine Absicht sein: Doch solche Theorie berührt allein die Gallenblase.

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Musikjournalist, Dramaturg

2 Antworten

  1. Wenn irgendjemand – egal wer! – mir beginnt zu erklären, wie Musik zu sein hat und was sie alles nicht darf…..dann höre ich nicht hin.
    Wenn mir jemand dagegen erklärt, was alles noch Musik sein könnte, aber bisher noch nicht war….dann höre ich hin.

  2. Willi Vogl sagt:

    Vielleicht geht die Aussage des Buches in eine Richtung, die viele heutige Szeneinsider der Neuen Musik als verfolgenswert erachten. Allerdings scheinen mir die historischen „Autoritätsbeweise“ und die sehr allgemein gehaltene phänomenologische Sichtweise nicht dazu angetan, dem Umgang mit den vermeintlich falschen Mitteln und damit dem „falschen Glauben“ abzuschwören.
    Autoren wie Theodor Wiesengrund & Co. betrachteten Musik von Strawinsky und Schönberg und erkannten darin ästhetische Dogmen. Diese Dogmen, aber vor allem der daraus resultierende ästhetische Widerstreit haben in den vergangenen 40 Jahren eine Reihe höchst fantasievoller und hörenswerter neuer kompositorischer Positionen mitbefördert.
    Gern mögen die damit entstandenen neuen Werke zu neuen Dogmen und damit zu neuen Reibungsflächen für Komponisten und Hörern führen.
    Angesichts des reißerisch formulierten Anspruch im Titel des Buches fragt man sich: Welche Werke, vor allem die der vergangenen 40 Jahre, deren Mittel Dobberstein so vehement ablehnt, hat er analysiert? Zu welchen Detailerkenntnissen ist er gekommen, um seiner Hypothese Glaubwürdigkeit zu verleihen? Ist Dobberstein als historisch fokussierter Betrachter in der Lage, derzeit aktuelle kompositorische Handschriften zu erfassen, zu würdigen und in Beziehung zu setzen? Vielleicht entstünde damit ein relevanter Betrachtungsfokus jenseits eines nur geschichtsklappernden Huckepackverfahrens.