Wenn Kitsch eitrige Wunden reißt

Die Premiere von „Gefährten“ am Theater des Westens

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„Bathsheba. Eat the history!“ von Manos Tsangaris bei den Donaueschinger Musiktagen 2009 war bis heute das ästhetisch Schlimmste, was ich in meinem gar nicht mehr so jungen Leben erdulden musste. Das habe ich – *lol* – wohl damals deutlich genug gemacht. Und, nein, ich kann es nicht lassen, das an dieser Stelle und auch sonst immer wieder zu erwähnen. Ich schaue mir sehr viel an. Bin jeden dritten Tag entweder in einem Konzert, in der Oper oder im Theater. Zu euch spricht also die geballte Kompetenz. Da könnt ihr jetzt darüber lachen oder euch wieder euren hässlichen Lebenspartnern zuwenden. Mir ist es: wurscht (<- kleine Hommage an Alexander Wurschti Strauch, der diesen Beitrag bestimmt wieder ellenlang kommentieren wird; und wie immer werde ich seinen Kommentar nicht zuende lesen).

Was ist eigentlich "ästhetisch schlimm"? Mein von mir sehr geschätzter Kollege Genoel von Lilienstern suchte vor einigen Monaten bei Facebook mal nach einer Definition – beziehungsweise fragte in die Runde, was denn das ästhetisch Schlimmste in unserer individuellen Erfahrungsgeschichte gewesen sei.

Mit "ästhetisch schlimm" meine ich (und Genoel lieferte mir die Vorlage damals): sehr hoher Aufwand (personell, finanziell, PR), sehr hohe Aufmerksamkeit (PR, Publikum) bei sehr dünnem/unverschämtem ästhetischen Ergebnis – gerade, wenn unreflektierter, schmerzhafter, eitrig-käsig-stinkende Wunden reißender Kitsch hinten rauskommt.

Jetzt gibt es eine neue Nummer zwei (hinter "Bathsheba"): "Gefährten" am Theater des Westens. Ich gratuliere.

Gestern (Samstag) war ich Gast der Pressepremiere.

„Gefährten“ beruht auf dem Kinderbuch von Michael Morpurgo (1984). Steven Spielberg hat das Ganze verfilmt (2011) – und dafür Gott sei’s gedankt nur Oscar-Nominierungen bekommen, keine Auszeichnungen.

In einer Mischung von Theater, Musical und (riesenhaftem) Puppenspiel kommt das Ganze daher. Zu verantworten hat das das National Theatre of Great Britain. Läuft seit Jahren international überall erfolgreich. Und jetzt also in Berlin.

Die (äußerst dünne) Story: Ein Junge und ein Pferd sind ganz dicke Freunde. Dann kommt der Erste Weltkrieg und der Junge sucht nach dem Pferd, weil das nämlich als Kriegspferd dienen muss. Der Junge ist noch zu jung. Gibt daher vor, älter zu sein und findet das Pferd dann im Krieg wieder. Am Ende sind alle glücklich.

Und das war schon die ausführliche Variante.

Sicher, ist schon toll, wie die Akrobaten der Handspring Puppet Company die zahlreichen Pferde (und das, äh, „Hauptpferd“ Joey) animieren. Das sieht ganz schön echt aus! Ist es aber nicht. Das ist eine Pferdehülle, in der zwei Personen stecken, die sogar machen können, dass das Pferd voll süß mit den Ohren wackelt.

Das reicht ästhetisch für fünf, maximal für zehn Minuten. Dann ist der Ofen aus – und Fury könnte meinetwegen sterben. Tut es aber nicht.

Eine Mischung von „Der Soldat James Ryan“, nur ohne Soldatengedärme, mit noch viel mehr Pathos, mit dem fiesesten Kitsch aller Zeiten – und halt mit einem Pferd. Und diesem unsäglich dummen Albert (dem Freund von Joey). Und natürlich mit Erstem statt Zweitem Weltkrieg. Ist ja auch nicht so „schlimm“ der Erste Weltkrieg, da kann man ja ruhig so eine ekelhafte Kack-Kitschsauce drüber gießen.

Beunruhigend ist vor allem, dass sich die Leute so etwas natürlich gefallen lassen. Diese gehirnamputierten RTL-Schauer (=98 % der Menschheit), denen man alles vorsetzen kann. Es muss nur immer, wenn irgendeine Emotion kommt (beispielsweise – mega-ausdifferenziert – die tolle Emotion: Traurigkeit), ein fetter Musikteppich drunter gemischt werden. Bei der RTL-„Talent“-Show „Das Supertalent“ und bei all diesem anderen gehirnamputierten Oberkack, den ich nur in Gesellschaft und mit viel Alkohol ertrage (dazu ist er aber nicht witzig genug), passiert ja nichts anderes: Scheidet ein Kandidat aus, kommt dieses oberekelhafte Fabelhafte-Welt-der-Amelie-Klavier-Geschiss und macht auf „traurig“, kommt ein Kandidat in die nächste Runde, kommt „One Moment in Time“.

Die Leute da draußen brauchen zu jeder verdammten „Emotion“ (eh alles gefaked und geschnitten) eine „emotionale“ „Musik“, die klar macht: Hallo, du Vollpfosten, du darfst jetzt „traurig“ sein, weil die Musik auch so voll traurig-nachdenklich ist! Ja, ist ja klar, die kapieren ja sonst gar nicht mehr, wann sie wie reagieren müssen. Die Leute da draußen sind so dermaßen verdummt, so abgestumpft, so bequem, so über die Maßen gehirnentleert, dass man sich wundert, wie man es selbst überhaupt schafft, ohne größeren ästhetisch-intellektuellen Schaden zu nehmen, mit der S-Bahn von A nach B zu kommen. Denn in der S-Bahn sitzen natürlich all diese Leute, führen ihre gehirnentleerten Gespräche, bei denen wir Bildungsbürger – welche mit Anstand, Anspruch, innerer und äußerer Schönheit gesegnet sind – zuhören müssen, ohne uns wehren zu können.

Zurück zu den schlimmen „Gefährten“: Allein die Anfangsszenen sind so schmerzvoll wie eine Mittelohrentzündung in Bestform. Hier soll dem Kack-Publikum inhaltlich vermittelt werden: Schaut mal, das Pferd ist nämlich ganz schön wild und will mit Menschen gar nichts zu tun haben. Oh, schau mal, da ist ja ein Mensch. Ach, der heißt „Albert“. Ah, ja, stimmt, das wurde uns ja auch schon zehn Mal eingeflüstert, weil die das echt zehn Mal in den Text eingebaut haben, damit wir alle verstehen, dass dieser ekelhafte Kack-Stümper ohne Spuren von Resthirn „Albert“ heißt. „Albert, es gibt Abendessen!“ ruft die…? Hä, wer hat’n da gerufen? Ah, das ist die Mutter! Kapiere! Albert ruft ja auch gleich zurück: „Ich komme, Mutter!“ Hä, wer war jetzt noch mal Albert? Fack! Ah, da kommt schon die nächste Szene. Wenn ich Kack-RTL-Vollproll mich konzentriere, bekomme ich vielleicht mit, wer doch gleich Albert war. Oh nein, da ist ja noch ein dritter Typ in dem Haus. Warte mal, Alb… äh, Albert, seine Mutter und ein Typ, der etwa das gleiche Alter wie die… äh… Mutter hat… Das KÖNNTE natürlich der Vater sein…

Und so weiter.

Diese ersten Szenen, in denen sich Albert und Joey annähern, dauern für mich gefühlte Stunden. Doch der Saal mit 99% Gehirnamputierten-Auslastung (obwohl, es heißt, die Premiere heute sei noch nicht einmal ausverkauft; hehe!) hält den Atem an. Man könnte ja auch sonst etwas verpassen.

Eine besondere Unverschämtheit ist die Musik. Immer, wenn irgendeine „Gefahr“-Situation künstlich hergestellt worden ist (beispielsweise – und das echt zur Genüge und übrigens gesundheitsgefährdend laut – wenn Bomben fallen), kommt so ein typischer Musical-Sänger (die klingen ja alle gleich; alle gleich unausgebildet, wackelig in der Stimme und jämmerlich) raus und singt solche Sachen wie: „Habt keine Angst, denn die Rettung wird kommen!“ Das ist so grotesk kitschig und dumm, dass ich gestern fast geweint habe.

Irgendwann kommt auch noch so ein kleines Mädchen vor, das auch mit dem Pferd Freundschaft schließt. Ich habe die ganze Zeit gehofft, dass wenigstens dem Mädchen etwas zustößt. Aber nee: nüscht.

Schlimm ist auch, dass das Publikum wahrscheinlich tatsächlich glaubt, einem irgendwie bedeutenden Theaterereignis beigewohnt zu haben. Denn schließlich spielt das ganze ja im Ersten Weltkrieg. Und wo „Weltkrieg“ als Thema präsent ist, da geht es auch um Anspruch. Denkt der RTL-Zuschauer, der meinetwegen auch mal das ZDF anschaltet – und Guido Volltrottel Knopp vermutlich für einen bedeutenden Historiker hält!

Was erfahren wir denn vom Ersten Weltkrieg in „Gefährten“? Dass der von 1914 bis 1918 gedauert hat (äh, fack, vergisst man aber auch wirklich schnell!) und dass es dort viele Tote gab.

Mehr nicht. Kein Fünkchen mehr!

Ich habe weder etwas gegen eine gute Show („Show me“ im Friedrichstadtpalast – läuft jetzt seit knapp einem Jahr – beispielsweise ist wirklich super) noch unbedingt gegen Musical. Und schon gar nichts gegen Kitsch. Aber Kitsch sollte doch entweder total überzeichnet sein (so, dass das zwinkernde Auge irgendwie spürbar wird) oder halt sich selbst von vornherein nicht ganz so wichtig nehmen. Aber dieser Kitsch gestern war schmerzhaft wie eine Niederlage im Elfmeterschießen, wie eine Zahnwurzelbehandlung ohne Betäubung, wie ein Neue-Musik-Festival ohne jeglichen Alkoholkonsum…

Das Theater des Westens ist so ein prächtiges Theater (übrigens mit toller Akustik – aber das Publikum merkt ja noch nicht einmal, dass die Musik zu 95% vom Band kommt; ich wette: die WISSEN das nicht! Und die wissen auch nicht, dass man in einer Oper OHNE Mikrofon singt und dass ein RICHTIGES Orchester spielt – und zwar LIVE! Und dass das Ganze WENIGER kostet als dieser SCHEISS, OBWOHL das eine richtig große KUNST ist und das hier ein unglaublicher SCHEISS für Leute, bei denen das Hirn längst hopps gegangen ist. DIE WISSEN DAS ALLES NICHT! UND NEIN, DAS IST AUCH KEIN „NIEDRIGSCHWELLIGER EINTRITT“ FÜR DAS BREITE PUBLIKUM IN ANSPRUCHSVOLLERE KONTEXTE! NEIN, D I E HIER WOLLEN NUR DIESE ABGEWICHSTE SCHEISSE, BEI DENEN SIE KEINE SEKUNDE IHR EH NICHT MEHR VORHANDENES GEHIRN EINSCHALTEN MÜSSEN! UND DAFÜR ZAHLEN DIE SOGAR G E R N E DAS DREIFACHE! DAS IST SO!).

Und früher lief an diesem Hause mal ein so tolles (historisch gewachsenes) Programm. Und Wowereit hat das 2002 alles einfach verkauft. An den schlimmen niederländischen Musical-Konzern Stage Entertainment. Und so läuft jetzt ein ganzes Jahr lang dieser KACK! DIESER ELENDE KACK!

Die Künstler haben im Grunde tolle Arbeit gemacht. Ist ja nicht so, dass die alle nichts können (außer vielleicht schauspielern). Und, okay, die Pferde-Animationen sind wirklich beeindruckend (aber halt nicht für gefühlte drei Stunden).

Aber das Stück, die Inszenierung: das alles war so furchtbar schmerzhaft… Mir kommen jetzt noch die Tränen…

Ich freue mich auf den nächsten Besuch, auf die nächste gute Inszenierung am Deutschen Theater, an der Komischen Oper, an der Schaubühne… Es lebe die subventionierte Hochkultur! Es lebe der abwechslungsreiche Spielplan! Es lebe das Niveau!

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

3 Antworten

  1. Wponader sagt:

    JETZT geht es Ihnen aber besser!!

  2. voll schlimm – habs nur überflogen – lese nun auch nicht alles als 3 absätze von dir fertsch ;-) nur eines: gerettet wäre dies nur mit „daniel radcliffe shirtless“ aka „nude“ a la equus. ich versteh wohl nur pferd… gib hufe, lücki hemdi! (nb – meint nicht hufi!)

  3. Ich frage mich manchmal, ob es ähnlich wie bei Filmen bei Opern/Musicals so etwas wie einen „Trash“-Faktor gibt – manche Filme sind ja so schlecht, dass sie wieder unterhaltsam sind und man sie sich eigentlich sogar gerne anguckt. Könnte das im Musiktheater auch so möglich sein?