Das Lutosławski-Experiment (Resultat)

Mit etwas Verspätung (das Musikfest Berlin mit dem diesjährigen Lutosławski-Schwerpunkt ging am 18. September zuende) kommt hier das Ergebnis meines ganz persönlichen Lutosławski-Experiments.

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Ich war also in drei Musikfest-Konzerten in der Philharmonie, bei denen Werke von Lutosławski auf dem Programm standen.

Zuerst hörte ich das Concertgebouw-Orchester Amsterdam unter der laut schnaufenden Leitung von Daniele Gatti. Zu Beginn des Konzertes gab es die „Musique funèbre“ für Orchester aus dem Jahr 1958. Und es ist wohl auch eine Typenfrage, ob man dieses Werk mögen kann oder nicht. Ich bin persönlich nicht der Streicher-Trauermusik-Freund. Für mich gehören Holz- und vor allem Blechbläser (und am liebsten ein großer Schlagzeugapparat) in ein ordentliches Orchester. Mit getragenen Streicher-Trauermusiken tue ich mich einfach schwer. Für mich klingen die einfach fast alle gleich. Ich kann da gar nicht unterscheiden. Ich leide nämlich an einer chronischen Streicher-Trauermusik-Unterscheidungs-Schwäche (ähnlich einer Dyschromatopsie). Für mich gibt es nur ein einzige Streicher-Trauermusik auf der Welt – und die höre ich immer wieder; nur mit dem Unterschied, dass einige Menschen behaupten, die seien von unterschiedlichen Komponisten komponiert worden…

Sicher ein durchdachtes, sauber gearbeitetes Werk, aber dann doch sehr traditionell im Aufbau und Ablauf. Schon irgendwie berührend, dass Lutosławski immer wieder von den Tönen „f“ und „h“ ausgeht – und zwar, weil für ihn hier diese Töne für „funèbre“ und „Hungaria“ stehen. Denn das Werk ist einerseits eine Trauermusik für Béla Bartók und andererseits eine Erinnerung an die Opfer des Aufstandes gegen die stalinistische Autokratie in Ungarn im Jahre 1956.

Eine noch nicht aufrüttelnde, eher sachlich zur Kenntnis genommene Lutosławski-Erfahrung meinerseits.

Dann folgte das Konzert mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Mariss Jansons. Nach der Pause gab es Bartóks Konzert für Orchester (überirdisch, wirklich vollendet gespielt von dem vielleicht aktuell coolsten Orchester der Welt), davor folgerichtig: Lutosławskis gleichnamiges Werk aus dem Jahre 1954. Ein Stück, das mir schier den Atem raubte. Wie unterhaltsam kann man komponieren? Wie virtuos kann man mit Instrumentation umgehen? Wie großartig ausgehört können Übergänge sein? Was bedeutet orchestrale Explosivität und Vitalität? Auf diese Fragen bekam ich beim Hören dieser Musik ganz neue Antworten.

Es ist ja durchaus nicht so (und da danke ich dem Kommentator Franz Kaern auf meinen ersten Lutosławski-Artikel herzlich, da er da einen wesentlichen Punkt getroffen hat), dass Lutosławski als Modernist seiner Zeit anerkannt war oder heute unter den Rest-Avantgardisten hierzulande anerkannt ist. Denn seine Musik ist schon irgendwie tonal und atonal zugleich (aber eher im traditionellen Sinne), zentraltönig, whatever… In jedem Fall ist ihm in Werken wie dem Konzert für Orchester Donaueschingen und Darmstadt wahnsinnig egal.

Und trotzdem ist das Werk überhaus modern und vital. Während andere zur selben Zeit (1950er/1960er Jahre) sich auf Rhythmik und Harmonik mit dem „Fortschritts“-Postulat im Hinterkopf konzentrierten, gerieten ihnen die Schönheiten konkreter Farben und lustvoller Instrumentationen völlig aus dem Sinn. In Lutosławskis genialem Konzert für Orchester gibt es Passagen, die so wahnwitzig lebendig instrumentiert sind, dass außerdem der Aspekt der Langeweile – den Darmstadt- und Donaueschingen-Komponisten wiederum zur selben Zeit unfreiwillig aufwerteten – gänzlich ausgeblendet ist. Höhenspezifisch ausdifferenzierte Trommelpassagen, die in höchstem Tempo von Schlagzeuger zu Schlagzeuger gehen, ausgedehnte Kontrabass-Pizzicato-Exzesse, in denen die einzelnen Töne immer mal wieder mit dem Orchesterklavier kombiniert werden; aber eben nicht immer, sondern nur vereinzelt, so dass ein überaus glücklich, hellwach machendes Hör-Such-Spiel möglich wird.

Hinzu kam die vollendete, nicht präziser und gekonnter denkbare Interpretation des BR-Orchesters unter Jansons, der seinen Klangkörper so kontrolliert (und dabei so unautoritär) wie kein anderer im Griff hatte. Ein Abend, an den ich lange zurückdenken werde.

Fast ebenso erstaunlich das Konzert des Philharmonia Orchestra London unter Esa-Pekka Salonen.

Hier stand zunächst ein für meinen Geschmack etwas schwächeres Lutosławski-Werk auf dem Programm: „Les Espaces du sommeil“ („Die Räume des Schlafes“) für Bariton und Orchester; 1975 für Dietrich Fischer-Dieskau komponiert. Matthias Goerne schien mir dafür nicht ganz der richtige Interpret zu sein. Da braucht es einen wirklichen Schöngeist, der auch in den Höhen fluffig und blumig klingt. Goerne ist für mich eher ein Mann für das Grobe (und das im positiven Sinne; ich werde nie vergessen, wie er vor Jahren mal als Solist in Eislers „Deutscher Sinfonie“ sang…). Der Text von Robert Desnos mag mir ebenfalls nicht besonders liegen… Andeutungen, Stimmungen, Atmo, Unbewusstes… Das mag ich eher im Medium Film, bei Liedtexten finde ich das zu fahrlässig schwurbelig… Da kann ja jeder kommen! Allerdings ist „Les Espaces du sommeil“ allein deswegen lobenswert, weil es hier eine Text-Stelle gibt, die Lutosławski eben n i c h t kompositorisch so umgesetzt hat, wie es zahlreiche mir bekannte Kollegen gemacht hätten. Und zwar heißt es im vierten Abschnitt: „Un air de piano, un éclat de voix…“ („Eine Klaviermelodie, den Ruf einer Stimme…“). Und, nein, Lutosławski lässt hier das Orchesterklavier schweigen. Und das ist sehr sehr gut so. Wirklich, hier könnte eine Liste mit Komponisten stehen, die an dieser Stelle das Orchester komplett ausgeschaltet und eine mehrminütige Klavierpassage eingestreut hätten. Sch’schwöre Allda!

Am Ende des Konzertes gab es dann Lutosławskis Sinfonie Nr. 3, an der er zwischen 1972 und 1983 immer mal wieder arbeitete. Ganz am Anfang: Vier Fortissimo-Oktav-Schläge – einfach auf dem Ton „e“. Das klingt erst einmal ein wenig aua-naiv. Aber alles nur Taktik. Ein Beginn, von dem Lutosławski sogar selbst, sehr sympathisch, sagt, er solle einfach mal „den Zuhörer interessieren, ihn fesseln, aber unter keinen Umständen akustisch befriedigen“. Und Gott sei Dank kommen diese in der Tat etwas primimtiv reingehauenen Schläge auch nicht gerade häufig vor. Der Komponist bewegt sich eher intuitiv, mit Lust an spontanen Ausführungen durch ein interessantes Orchesterdickicht. Man weiß gar nicht genau, was der Komponist genau vorhat – und gerade das fesselt einen. Vorhersehbar ist hier fast nichts, aber alles sehr souverän komponiert – und mal wieder raffiniert instrumentiert. Und kein bisschen langweilig. Ich habe keine Ahnung, wie er das gemacht hat. Ich habe sehr unwissenschaftlich gehört. Etwas, was mir immer viel Freude bringt. Ohne Partitur, ohne viel Vorwissen hören. Und vielleicht ist gerade dafür Lutosławski ein sehr geeigneter Komponist; jemand, der einen nicht enttäuscht.

Lutosławski: Toller Komponist, sehr gerne wieder. Vielen Dank.

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.