Kann man…?

Kann man noch einen gescheiten Blogartikel schreiben, wenn man nach wochenlangen durchwachten, ein einziges Mal durchsoffenen, meistens aber durchgearbeiteten Nächten neben seiner (fast) einjährigen Tochter sitzt, die wie am Spieß schreit, weil die Milch mal wieder nicht schnell genug abkühlt?

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Tipp für werdende Eltern: Das größte Problem bei der Umstellung von Brust auf Fläschchen ist der enorme Zeitaufwand, den die Zubereitung eines Fläschchens im Gegensatz zum Hinhalten eines seknundären Geschlechtsmerkmals bedeutet. Das Kind sieht das eigentlich schon fertig gemixte Fläschchen, versteht aber nicht, dass es jetzt noch stundenlang unter einem kalten Wasserstrahl zu liegen hat, bis es genießbar ist. Gibt man das Fläschchen – dieser Ungeduld zum Opfer fallend – dann zu früh, wird auch geschrieen, denn Babymund verträgt keine 100 Grad heiße Milch. Das Fläschchen nicht zu geben ist aber auch keine Lösung, denn auch dann schreit das Baby. Man nennt diesen Zustand in der Fachsprache „Fläschchen-Zen“, weil es keine korrekte Handlungsweise gibt. Es ist ähnlich wie in diesem komischen Zen-Dilemma, an das ich mich nie richtig erinnere. Ich glaube, es geht so: man hängt irgendwie an einem Seil, allerdings mit dem Mund. Keine Ahnung, warum das so ist, aber ich habe das mal in einem Blogartikel gelesen, äh, ich meine in einem Zen-Buch. Dieses Buch habe ich aus irgendwelchen Gründen nie zu Ende gelesen, aber ich erinnere mich an dieses Beispiel. Also: man hängt mit dem Mund an einem Seil, unten lauern irgendwie Krokodile in einem Fluss oder so. Etwas Gefährliches also. Vielleicht waren es auch Piranhas.
Nun hat man nach diesem Zen-Beispiel 2 Möglichkeiten: man kann den Mund öffnen und in den Fluss plumpsen. Dort fressen einen die Krokodile bzw. die Piranhas dann auch umgehend auf. Oder man kann versuchen, weiter ins Seil zu beißen. Dieser Versuch birgt allerdings die Gewißheit, dass es irgendwann nicht mehr geht. Man beißt das Seil durch, oder man ist irgendwann so erschöpft, dass man dann auch loslässt.

Das ist also Zen: egal wie ich mich entscheide – es ist Scheiße. Daher ist es letztlich egal, WIE ich mich entscheide. Das soll einem dann Mut machen oder so.
Und so kommen wir wieder zurück zum „Fläschchen-Zen“ – auch da gibt es keine richtige Handlungsweise. Egal was ich tue, das Baby wird IMMER schreien.

Unsere Tochter Siri (knapp 1) unterwirft gerade meine Frau und mich einem interessanten Versuchsentwurf: wie lange kann eine Komponistenehe bzw. eine Schriftstellerinnen-Ehe halten, wenn der Schlafentzug jeden Tag wächst? Ist Papi zum Beispiel noch in der Lage, Klavier zu üben, zu Komponieren, Schüler zu unterrichten, Opernpartien zu üben und in der Welt herum zu reisen, wenn der Algorithmus X-A = Y heißt, wobei x= Schlaf des vorherigen Tages bedeutet, A = jeweils ein freier zu definierender Faktor ist, und y= Schlaf des nächsten Tages bedeutet?

Als meine Tochter geboren wurde, schlief sie wie alle Babys quasi die ganze Zeit, also ca. 16 Stunden am Tag. Durch obigen Algorithmus hat sich diese Schlafdauer inzwischen auf durchschnittlich 5 Stunden pro Tag reduziert. Sie schläft also WENIGER als ein erwachsener Mensch als Minimum zum Schlafen braucht. Dies kann natürlich auf Dauer nicht folgenlos bleiben. Wenn man zum 5. x mitten in der Nacht durch lautes Gekreische geweckt wird und sich dem Fläschchen-Zen widmet, ist es jetzt auch nicht wirklich so, dass man danach sofort wieder dufte einschläft. Nein, man hängt dann irgendwie halbwach vor dem Fernseher, und schaut sich Horrorfilme aus den 70er Jahren an. Die wirken dann quasi wie Komödien gegen die Realität.

Meiner Frau geht es natürlich noch wesentlich mehr an die Substanz, aber genaueres kann ich nicht sagen, denn wir konnten schon seit Wochen keine Unterhaltung mehr führen, die nicht den Inhalt „und wer bringt Siri heute ins Bett“ hatte? Eine Frage die sich mindestens 10x am Tag stellt, da dieser Schlaf ja dann auch nur maximal eine halbe Stunde dauert. Den Rest der Zeit verbringt man dann damit, Windeln zu wechseln. Oder sich um Milo (5) zu kümmern, der ja nun auch noch nicht wirklich aus dem Gröbsten raus ist.

Warum gibt es eigentlich so wenige zeitgenössische Komponisten mit Kindern? Wäre ich in der Lage gewesen, als unreifer Mittzwanziger schon ein Kind großzuziehen? Hätte es meiner „Karriere“ geschadet? Schadet es ihr jetzt? Wäre ich kompromissloser, ehrgeiziger ohne Kinder? Ist es nicht eigentlich besser, sich von all diesen Dingen zu befreien?

Was ist das überhaupt, eine „Karriere“? Auf ewig durch die Festivals tingeln und seine neuen Kunststückchen vorführen? Stipendien, Preise, Förderungen? Alles Schall und Rauch und vergessen innerhalb einer Mondumrundung.

Bernd Alois Zimmermann hat nach dem Krieg mit seinen Kindern in einer winzigen Wohnung gelebt. Mir wurde von der Familie Zimmermann einmal erzählt, dass für die Babys ein Waschkorb als Wiege diente, dieser Waschkorb stand unter dem Flügel, auf dem Zimmermann dann seine geniale Musik komponierte. Wenigstens hatte Zimmermann noch Kinder! Die wenigsten Komponistenkollegen, die ich kenne, haben welche. Vielleicht aus Angst vor „Fläschchen-Zen“.
In Edgar Reitz‘ „Zweite Heimat“ ist der Hauptprotagonist auch Komponist (Hermann), und es wird gezeigt, wie er an der Rolle als Familienvater quasi zerbricht. Fast überall Negativbeispiele: „Ich musste wegen meinen Kindern meine Karriere aufgeben“. „Meine Kinder haben meine Karriere verhindert“. Dann wiederum Alfred Schnittke: in einer winzigen Plattenbautenwohnung, in der Küche komponierend, von dem umgeben, was man „Leben“ nennt. Normales Leben, eben. Wozu eben auch Windeln Wechseln und Fläschchen Geben gehört.

Kann man noch einen gescheiten, runden, sinnvollen, inhaltsreichen, mit einem geistreichen Fazit schließenden Blogartikel schreiben, wenn man nach wochenlangen durchwachten, ein einziges Mal durchsoffenen, meistens aber durchgearbeiteten Nächten neben seiner (fast) einjährigen Tochter sitzt, die wie am Spieß schreit, weil die Milch mal wieder nicht schnell genug abkühlt?

Diese rein rhetorische Frage muss definitiv mit „nein“ beantwortet werden.

Moritz Eggert

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7 Antworten

  1. Xenia Narati sagt:

    gesellschaft für monotholistisches denken und forschen:
    GMDF bei google eingeben.
    erich füllgrabe.
    fundgrube, ablenkung und anregung.
    manchmal kann es helfen, den blick auf andres zu lenken.

  2. Xenia Narati sagt:

    sorry, es heißt natürlich monolithisches forschen und denken

  3. peh sagt:

    … DAS ist einer der wahrhaftigsten Artikel, die hier je gestanden haben … es ist VIEL besser, solche blogartikel zu schreiben, als sich von oliver pocher scheiden zu lassen, oder so …

  4. @Familie Eggert: Wünsche viel Kraft!

  5. Nike sagt:

    Wenn ich die arme Siri wäre, würde ich auch schreien: sie wird ja auf der offiziellen Website des Vaters im Gegensatz zu Milo sowohl in der Photogalerie, als auch in der Biographie schmählich unterschlagen. Vermutlich ist sie deshalb unzufrieden?

  6. für die geschilderten Schrei-Probleme wird sicher bald das virtuelle Fläschchen erfunden werden, passend mit Brusttemperatur für die kommende Generation Web 3.0

    Schönen Sonntag und von mir auch viel Kraft, vermutlich bekommt ja Siri gerad Zähnchen. Vermut ich – äh (sorry ;-( ) als Single-Komponist, der nur für seine Musik lebt. Die Zähnchen kann sie später bestimmt gut brauchen, wenn sie dann Komponistin wird und sich im Haifischbecken der „Neuen Musik“ tummeln muss…
    :-)

  7. @Nike: Huch, Stimmt doch gar nicht – in meiner Biografie sind zwei Kinder erwähnt, und in der letzten Zeit gab es sehr viele Fotos von Siri auf meiner Website….:-)