Orgelkonturen und Pizzikato-Mikado, Wolfgang Mitterer und Mathias Spahlinger bei der musica viva des BR

Was ist ein gutes Orchesterstück im 21. Jahrhundert, geht mir wenige Tage nach dem musica viva Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks unter der famosen Leitung Peter Rundels mit den beiden Uraufführungen von Wolfgang Mitterers „crush 1-5“ für Orchester, Orgel und Elektronik und Mathias Spahlingers „lamento protokoll“ für Violoncello und Orchester durch den Kopf. Einige Leser werden jetzt sagen, eine veraltete und überflüssige Frage, wie Orchestermusik sowieso nichts anderes als eine romantische Fußnote des Industriezeitalters sei. Dennoch beschäftigt sie mich, da Orchesteruraufführungen neben Kinderkonzerten gerne als ein wichtiges Argument für den Erhalt von sinfonischen Ensembles angeführt werden. Antworten dazu suchten beide Stücke und blieben sie auch wieder schuldig. Beiden gemeinsam war der überbordende Umgang mit durchkomponierter Zeit zwischen 40 und 50 Minuten. Mitterers „crush“ stellte fünf Teile in Aussicht, wirkte allerdings wie ein einziger Meteorit, wie es dann in seiner Länge in den Zuhörer hineinfuhr. Es bot Einiges, was ein Orchester als Solisten und Gemeinschaft gegebenenfalls zeigen möchte: Hochvirtuose Läufe und Sprünge, einen generell hohen Lautstärkepegel selbst in zurückhaltenderen Passagen, ausdrucksvoll Melodisches und vertrackt Metrisches, allgemein viel Sound, Anklänge an Bekanntes, wobei die letzten Punkte mehr auf das Publikum abzielen, der Komponist sophisticated seine Literaturkenntnis ausbreiten kann, während er zugleich besonders das Laute, Virtuose und Vertrackte mit eigenen zackigen Orgelimprovisationen krönt. Mir steigen da Bilder des Jules Verneschen orgelnden Kapitän Nemo und berliozscher Kkangtürme vor dem inneren Auge auf. Zusammengehalten wird dies durch eine Tonhöhengestaltung die mal an Jazz, dann wieder an Berg und Stockhausen oder in süffigen Mollterzen irgendwie an Korngold erinnert. Merkwürdig nur, dass man bereits nach 15 Minuten das Gefühl hat, dass jetzt ein Ende auch was wäre. Aber man hat da noch drei crushs vor sich. Insgesamt kann sich das Stück vor Ideenreichtum nicht retten. Ein konziserer Umgang mit dem Material wäre zwar weniger Steine zermalmend, also „crushend“gewesen, allerdings wäre vielleicht auch eine echte Teile konturierende, unterbrechende Mehrsätzigkeit förderlich gewesen. Man sah eine zertrümmerte Alpenlandschaft, bewunderte das Sounddesign der Elektronik, hätte auch ohne diese seine Freuden gehabt und wünschte sich doch nichts sehnlicher als eine Wiederaufführung von Rolf Riehms „Tränen des Gletschers“. So wurde „crush“ vor allem der Opener für Mathias Spahlinger.

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Nun war man romantisch geplättet und sollte noch die letzte emotionale Prägung ausgetrieben bekommen, wie man kurzgefasst Spahlingers Ankündigungen zusammenfassen könnte. Wie zu erwarten, hatte Lucas Fels einen Anti-Anti-Anti-Cellosolokonzertpart zu absolvieren. Statt sein Cello in Läufen herauf und herunter zu jagen, hatte er in allen Körperhaltungen die wahnsinnigsten Flageoletts zu bewältigen, was er anfangs etwas zittrig, dann immer souveräner vollführte. Das Orchester antwortete ebenfalls mit gläsernen Streicherklängen oder rauen Tuttischlägen. Diese hielt man zuerst für Cluster und konnte sie dennoch im Wiederholungsfalle als ausdifferenzierte, enge und weite mikrotonale Klänge identifizieren. Die Gestik beschränkte sich auf Punkt und Strich und stellte sich von Minute zu Minute als beethovenhafte Übergangslineaturen dar. Nach all dem Geschlagenen, Kristallinen und erstem Pizzikato-Mikado, ähnlich seinem älteren Orchesterstück „paysage/passage“, spitzte ich meine Ohren bei spektralistischen Zentraltonmodulationen. Suchte man in dem mit Allusionen um sich werfenden Mitterer-crush nach Halt und bekam doch nur Liegetonsound mit bekannt Waberndem, zwingt Mikrotonalität nach hundert Jahren ausprobieren doch stärker als antiquiertes motivisch-intervallisches Getue. Die Zentraltönigkeit leitete Spahlinger sanft in einen unendlich langsam verebbenden collegno-Streicherfluss über. Was für Ende wäre das gewesen! Nun ging es aber noch eine halbe Stunde mit Generalpausen, besagtem Pizzikato-Mikado und Eintonklängen weiter, wurde heilsversprechende Nono-Nähe zu dessen A Carlo Scarpa salbadert, so dass man irgendwann sogar an Orff denken musste: Man nehme was Unverständliches oder wie auch immer inkomensurabel Tuendes und veredle es. Hier eben mit Generalpausen und statt der wirklich spannenden Mikrotonalität nun öde absteigende und punktuelle Lentissimo-Halbtonödnis, wie bei Orff irgendein von den Wenigsten verstandener rezitierter oder gesungener altgriechischer Text und ab und an ein leises Tam-Tam-Geraune, bei Spahlinger in Pizzikatoeinklang mit Glockenspielunisono oder Crotalesoktavierung versilbert. Das Hören war zwar unglaublich angespannt, aber es tat sich dann doch nur der Raschelkosmos der Sitznachbarschaft auf. Hörerwartungskritik verpflichtet den Komponisten zu Hörgestaltung. Da konturierte der orgelschlagende Mitterer aus dem Moment heraus verantwortungsvoller. Aber was soll das Gerede: Beide Stücke mit gekonnten Ansätzen, leider verloren in den Stückdauerverpflichtungen ihrer Auftagskontrakte mit der musica viva? Und was ist nun ein gutes Orchesterstück 2013? Abwarten und Tee trinken!

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Komponist*in

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Eine Antwort

  1. Like :-)

    Mein Lieblingssatz:

    Das Hören war zwar unglaublich angespannt, aber es tat sich dann doch nur der Raschelkosmos der Sitznachbarschaft auf.