Dark was the night

Das mag jetzt sentimental klingen (ist es auch): In den besten Momenten meines Lebens als Live-Hörer von Musik oder Musiktheater fühle ich mich wie ein kleines Kind, das dankbar für jede Minute des Erlebens ist. In meiner Zeit als Musikkritiker für die Berliner Zeitung habe ich das beispielsweise nach einem Konzert mit Mariss Jansons und den Berliner Philharmonikern (mit Verdis Requiem im März 2010) auch so beschreiben können.

Werbung

Vorgestern (12.12.12) gab es wieder so ein Erlebnis. Bei „Into the dark“: „Dark was the night“. Teil III der Projekte im lichtlosen Raum von Sabrina Hölzer mit dem Solistenensemble Kaleidoskop und dem Geräuschemacher Max Bauer. Mit Werken von Britten, Haydn, Hindemith, Ravel, Reger, ungarischer Tanzmusik und drei Uraufführungen von José M. Sánchez-Verdú und Michael Rauter. Eine Produktion von „Into the Dark“ in Koproduktion mit der Zeitgenössischen Oper Berlin und Matvik Crew forening (Oslo).

Weitere Vorstellungen gibt es noch heute und am 15. und 16. Dezember, jeweils um 19.30 Uhr.

Von Berlins Mitte muss man zunächst fast eine Stunde fahren, um zum Funkhaus Nalepastraße (dem ehemaligen Gebäude des Rundfunks der DDR) zu gelangen. Die lange Fahrt ins dunkle Oberschöneweide ist wohl schon Programm, genauso wie der Fußmarsch an dem gespenstischen (gespenstisch verlassenen?) Rundfunk-Gebäude vorbei. Eine Mitarbeiterin des Projektes weist einem den Weg: „Gehen Sie einfach dort hinten hin, wo es immer dunkler wird.“ Es hat geschneit. Alles scheint mit inszeniert worden zu sein.

Vor dem Betreten des Saales, in dem es nachher wirklich absolut dunkel sein wird, muss man die Schuhe ausziehen und sich eine Decke nehmen. Man liegt auf echtem Gras. Für jeden Zuhörer gibt es eine eigene, komfortabel große Gras-Liege. Davon etwa 60 Stück. Auch einige blinde Zuhörer, die in der Intensität reinen Hörens einen Kompetenzvorsprung haben, sieht man in den Saal gehen.

Besonders schön ist es, dass man die Inszenierung des Ganzen kaum mitbekommt. Es wird nach der noch beleuchteten Interpretation von Hindemiths „Ouvertüre zum ‚Fliegenden Holländer‘ wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens um 7 am Brunnen spielt“ einfach dunkel.

Besonders schön ist es auch, dass die einzelnen Werke (großartig gespielt vom Solistenensemble Kaleidoskop) kaum etwas miteinander zu tun haben. Hier hat kein überambitionierter Dramaturg beispielsweise nur Werke zum Thema „Nacht“ oder „Dunkelheit“ zusammengestellt. Es ist einfach (hätte nie gedacht, dass ich jemals so etwas schreiben würde) nur: gute Musik. Musik, die die Sinne auf verschiedene Weise anspricht.

Unter anderem hört man Helmut Lachenmanns berühmtes Cello-Solo-Stück „Pression“ – und erfährt hier möglicherweise erstmals, welche Art der Kontemplation ein solches Werk braucht. Nämlich die einer totalen, höchst konzentrierten Wachsamkeit. Jedes Klangereignis wird zu einem Moment höchster Spannung, größter Zerbrechlichkeit – und durchaus auch mal kindlicher Angst.

Einer der schönsten Momente war für mich das Erklingen des langsamen Satzes aus Haydns Streichquartett Hob. III:41. Momente größten Trostes, größter (eigentlich sprachlich nicht zu vermittelnder) Kindlichkeit.

Fast bei jedem der Werke bediente man sich einer besonderen Idee: Es gab zwei im Raum verteilte Streichquartette (die sich offenbar mit Nachtsichtgeräten abstimmten), welche sich innerhalb eines Werkes ständig abwechselten und so den Eindruck von großer Ferne und teils fürchtemachender Nähe vermittelten (denn zudem durchwandelten die Musiker dabei den Raum). Ein Effekt, den man sonst von elektronisch gesteuerter Raummusik kennt, hier aber ganz natürlich hergestellt.

Teilweise schien die Bratschistin mir eine warme Melodie-Linie direkt ins Ohr zu spielen, ganz für mich alleine…

Als dann „Ich liege und schlafe“ aus Max Regers Motette „Ach Herr, strafe mich nicht“ op. 110 Nr. 2 gesungen wurde, war ein Höchstmaß von Innigkeit und Unmittelbarkeit erreicht, der für mich den Abend unvergesslich werden ließ.

Dringlichste Empfehlung für alle Berliner.

Liste(n) auswählen:
Unsere Newsletter informieren Sie über Neuigkeiten im Badblog Of Musick. Informationen zum Anmeldeverfahren, Versanddienstleister, statistischer Auswertung und Widerruf finden Sie in unserer Datenschutzbestimmungen.

Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

Eine Antwort

  1. Bekehrter sagt:

    Gehen Sie einfach links rein und dann in den Schaltraum – ups…

    Da nicht erwähnt, merkte man also nichts von dem Brand letzte Woche, der mit viel Qualm und noch mehr Tatütata für einiges Aufsehen sorgte? Es machen sich nämlich Leute ernste Sorgen deshalb.

    Was das „wirklich absolut dunkel sein“ angeht: Ich kann mich gerade nicht mehr erinnern, wo ich davon hörte/las, aber es war wohl ein Kraftakt an der Grenze des Machbaren, das überhaupt und dies dann mit deftigen Auflagen (z.B. Infrarotkameras, wenn ich mich recht entsinne) genehmigt zu bekommen. Es macht schon einen gewaltigen Unterschied, wenn man zwar alle Schweinewerfer und Pultbeleuchtungen ausmachen kann, die Notausgangsbeleuchtung aber auf gar keinen Fall.