Für den „wilden Raum“

Wenn ich über die momentane Urheberrechtsdebatte nachdenke, komme ich immer mehr zum Schluss, dass zwar einerseits eine Welt ohne jegliches Urheberrecht schrecklich wäre, aber eine Welt mit einem bis in die letzte Konsequenz überall angewendeten Urheberrecht mindestens genauso schrecklich ist.

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Insofern fühle ich zwei Seelen in meiner Brust: einerseits unterschreibe ich Petitionen, die den Erhalt des Urheberrechts auch in einem sich ständig wandelnden Internet fordern, andererseits kann ich zumindest einen kleinen Teil der elenden Kritik am Copyright verstehen, ja, sogar auch die Piraten (und ich werde schamrot, wenn ich dies schreibe).

Und ich kann auch erklären warum:
Während eines schönen Gespräches mit dem Journalisten und Autoren Dirk von Gehlen (sein aktuelles Crowdfunding-Projekt kann man hier finden) benutzte ich den Begriff „wilder Raum“ zum ersten Mal, um ein Grundproblem der momentanen Urheberrechtsdebatte zu beleuchten, nämlich die Tatsache, dass es eigentlich einen rechts- und copyrightfreien Raum geben MUSS, um einer der größten Sehnsüchte der menschlichen Kommunikation gerecht zu werden: dem Wunsch überall und jederzeit alles frei heraus sagen zu können, alles zitieren zu dürfen, auf alles verweisen zu können, ohne jemanden vorher um Erlaubnis fragen zu müssen.

Und das Skurrile ist: vor dem Internet gab es diesen Raum auch, und alle konnten wunderbar damit leben. Hierzu kann ich zahllose Beispiele nennen, meine Lieblingsbeispiele sind Stockhausens „Hymnen“ und Bernd Alois Zimmermanns „Musique pour le soupers de Roi Ubu“, beides Klassiker der modernen Musik, und das zu Recht, handelt es sich doch jeweils um radikale und auch neue Entwürfe.

In „Hymnen“ wendete Stockhausen Techniken der elektronischen und experimentellen Musik auf knapp 50 verschiedene Nationalhymnen an, mit zum Teil faszinierendem musikalischen Effekt, der das abgenutzte und politisch belastete Hymnenmaterial in völlig neuem Licht erscheinen lässt, eine Verfremdung der Wirklichkeit also. Mit einem Wort: Kunst. „Ballets…“ von Zimmermann wiederum ist ein unglaublich frecher und früher postmoderner Entwurf, ein Stück, das komplett nur aus Zitaten besteht, darunter auch sehr viele von zeitgenössischer Musik. Zimmermanns Idee von der „Kugelgestalt der Zeit“ ging ja auch davon aus, dass alles irgendwie zusammenhängt, daher war für ihn das lebendige Zitat stets ein wichtiges Stilmittel – mit diesem Ansatz war er seiner Zeit tatsächlich weit voraus und schon ganz nahe bei zeitgenössischen Samplingtechniken.

Als ich nun vor einigen Jahren ein eigenes Stück mit der Verwendung von Nationalhymnen schrieb (mein „Hämmerklavier XIX: Hymnen der Welt“, in dem sämtliche Nationalhymnen der Welt vorkommen), war dies einerseits Hommage wie auch satirische Übersteigerung der Stockhausenschen Idee. Das Ganze gestaltete sich aber ungemein schwierig – ein gigantischer Briefverkehr meines Verlages und der GEMA entfaltete sich angesichts der Tatsache, dass viele dieser Hymnen ja tatsächlich „geschützt“ seien und ich daher bei diesen Ländern eine schriftliche Genehmigung zur Verwendungsgenehmigung dieser Melodien einforden müsse. Natürlich irgendwie eine lustige Vorstellung, z.B. dem nordkoreanischen Regime oder Fidel Castro einen solchen Brief zu schreiben und tatsächlich eine Antwort zu erwarten.

Über die Monate entwickelte sich daher ein ganzer Aktenordner an Korrespondenz mit der GEMA, der Werkausschuss trat mehrmals über meinem Stück zusammen und am Ende wurde entschieden, dass man es mir irgendwie „ausnahmsweise“ erlauben, aber mir nur 50% der Tantiemen gönnen würde, und das war schon das Resultat langer und äußerst zäher Verhandlungen. Und das bei einem Stück, bei dem keine dieser insgesamt 168 Nationalhymnen länger als ein paar Sekunden erklingt, meistens gleichzeitig mit mindestens einer anderen Hymne und in einem Klaviersatz, der komplett von mir stammt.

Tatsächlich hatte ich monatelang an dem Stück gearbeitet, um meine Idee einer überhöhten Kakophonie der nationalen Eitelkeiten zu realisieren – hätte ich alle Hymnen einfach erfunden, wäre die Arbeit wesentlich einfacher gewesen! Das Zitieren bedeutete hier also quasi zusätzliche Arbeit, was aber natürlich urhebertechnisch nicht relevant ist.

Ich mache der GEMA keinen Vorwurf – sie handelte im besten Gewissen nach heutigem Recht. Aber irgendwie wurmte es mich doch – wie war es denn damals gewesen, bei den oben genannten Stücken von Stockhausen und Zimmermann (auch Stockhausen hatte geschützte Hymnen verwendet)? Hatte B.A. Zimmermann tatsächlich jeden einzelnen Komponisten bei „Roi Ubu“ um Erlaubnis gebeten, bzw. deren Verlage? Hatte er all diese Dokumente über Monate hinweg eingefordert, in einem Aktenordner eingeheftet und dann der GEMA überreicht (wie weiland Johannes Kreidler), bevor er es wagte, auch nur einen einzigen Ton zu komponieren?

Mitnichten: Auf Anfrage bei der GEMA bekam ich zur Antwort, dass sowohl Stockhausens „Hymnen“ wie auch B. A. Zimmermanns Stück einfach nur so geschrieben wurden! Es gab keinerlei Verwendungsgenehmigungen. Und das, obwohl sogar beide Stücke heutzutage noch geschützt sind! Sprich: man dürfte diese Stücke heute gar nicht mehr schreiben, sie wären verboten.

Warum das damals einfach so ging? „Man hat das damals lockerer gehandhabt“ war die Antwort auf meine Anfrage bei der GEMA. Und klar, erinnert man sich an die 70er Jahre dann denkt man z.B. an grafische Kollagen von Klaus Staeck, bei denen einfach wild aus der Zeitung herausgeschnittene Bilder verwendet wurden, ohne die einzelnen Fotografen oder Zeitungen jeweils um Erlaubnis zu fragen. Das hätte bei einer politischen Kollage auch viel zu lange gedauert.

Andy Warhol hatte seine Marilyn bestimmt auch nie um Erlaubnis gefragt, und ganz bestimmt auch nicht die Campbell-Suppendose. Und wenn man noch früher in die Zeit zurückgeht, findet man noch wesentlich extremere Beispiele, die dennoch in großer Kunst resultierten: der geniale Wortklauer Bertolt Brecht, Goethes „Faust“ (auch eine Art mash-up), Shakespeare und Marlowe, Mozart und Haydn, Liszt und Wagner – wohin man auch schaut: das Zitat, die Anverwandlung, die bewusste wie unbewusste Hommage ist ein legitimes und oft auch sehr eindringliches Mittel seit es Kunst gibt.
Die Kunst hat sich also diesen „wilden Raum“, in dem die Gedanken frei sind und in dem nicht in jedem Moment darüber nachgedacht werden muss, was wem gehört, immer wieder erfolgreich erobert, ohne dass irgendjemanden ein Schaden entstanden wäre. Dieser wilde Raum ist aber nun zusehends gefährdet.

Es ist eine der seltsamen Eigenschaften der Menschheit, dass sie sich immer dann, wenn sich die größten Freiheiten auftun, selbst maßregelt und eher über das Ziel hinausschießt. Das Internet ist vieles: eine schreckliche Redundanzmaschine, ein gigantisches Verdaddeln von Zeit mit irgendwelchen schrecklichen und weniger schrecklichen Spielchen und sozialen Netzwerkchen, eine Lügenmaschinerie ohnegleichen – aber eben auch ein Freiraum des Wissens (wikipedia), ein Sprachrohr des Untergrunds (in Ländern wie Ägypten und China) und ein Ort wahrhaft grenzenloser Kommunikation.

Im Moment besteht die Gefahr, dass wir das, was am Internet positiv ist, zunehmend reglementieren und maßregeln, wogegen das, was am Internet schrecklich ist immer mehr an Dominanz gewinnt, am Ende also nur die Redundanzmaschine übrig bleibt. Wenn nämlich nichts mehr erlaubt ist und ich nur noch von gigantischen Konzernen wie Apple, google oder Amazon komplett gegängelt werde, ist es vorbei mit der Freiheit, so viel ist gewiss. Dass dann alles „legal“ ist, bringt dann keinem was, auch nicht den Urhebern.

Zum Glück eines Menschen gehört Freiheit, und dazu gehört eben auch der „wilde Raum“. Es muss einen Ort geben, an dem ich beliebig zitieren und verweisen darf, im Dienste der Kommunikation, der Diskussion und des Diskurses. In diesem Blog zum Beispiel. Meine Mutter ist Fotografin, und ich bin mit einem sehr starken Bewusstsein für Bildrechte aufgewachsen, aber irgendwie ist es etwas anderes, wenn ich ein Bild in beschissener Auflösung en passant in einem Blog verwende, um irgendeinen Gedanken zu illustrieren, als wenn dies in einer kommerziellen Veröffentlichung oder einer Zeitung geschieht.
Ich kenne Leute, die sammeln Zeitungsausschnitte und schicken diese an Freunde, wenn ich dasselbe im Internet tue, steht gleich die Polizei vor der Tür. Im Kopierladen werde ich komisch angeschaut, wenn ich sowohl meine handgeschriebenen und selbst komponierten Noten kopiere, als auch Noten, die ich rechtmäßig erstanden habe, die sich aber einfach nicht blättern lassen (und die ich aus diesem Grund kopieren muss, um sie neu zusammenzukleben). Überall werde ich ungewollt zum Verbrecher, und die Eingeschüchtertheit der Menschen wächst. Es ist absurd, dass die Piraterie in großem Stil (die den Verwertern tatsächlich am meisten schadet, z.B. Produktpiraterie in Asien) kaum verfolgt wird (weil sie oft auch nicht verfolgt werden kann) wogegen irgendwelche armen Teenager bzw. deren Eltern gigantische Strafen aufgebrummt bekommen, weil sie einen AC/DC-Song zu viel heruntergeladen haben.

Nicht dass wir uns falsch verstehen: ich bin bedingungslos auf der Seite der Urheber und des Copyrights, da ich weiß, wie schwierig es ist, von Ideen und von kreativer Arbeit zu leben. Wir brauchen Kreativität und Ideen, und müssen Menschen, die diese entwickeln, unterstützen. Daher ist das Urheberrecht richtig.

Aber irgendwie muss es möglich sein, das Beste aus beiden Welten zu haben: Das Urheberrecht überall dort zu schützen, wo es wirklich darauf ankommt, und einen „wilden“, ja vielleicht sogar gesetzlosen Raum zuzulassen, in dem alles möglich ist und erst einmal niemand gefragt werden muss, in dem der freie und kreative Impuls erst einmal grundsätzlich zugelassen wird.

Man stelle sich vor: Schubert, der geniale Liedkomponist, erhält einen neuen Gedichtsubskriptionsband und hätte erst einmal einen Brief an den Autoren, an den Verlag und an die VG Wort schreiben müssen, bevor er überhaupt mit der Vertonung beginnt. Natürlich war das nicht so, und gerade diese Freiheit des Zugriffs macht Schuberts Musik so spontan und unvergleichlich. Hat er also Wilhelm Müller beraubt? Oder unsterblich gemacht? Eher letzteres.

Gibt es also Wege, beiden gerecht zu werden? Dem Urheber, der eine Einkunft für seine Ideen absolut verdient, wie aber auch dem freien, „wilden“ Impuls, der davon ausgeht, dass alles, was Menschen irgendwann einmal geschaffen haben, in irgendeiner Form eine fortlaufende Kommunikation darstellt, an der alle teilhaben dürfen?

Letzteres zu ermöglichen ohne ersteres zu verraten, das wird die Herausforderung der Zukunft sein.

Ein paar Gedanken, wie die funktionieren könnte, vielleicht nächstes Mal.

Moritz Eggert

eins ist sicher: die Natur erobert sich immer ihren Raum

 

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2 Antworten

  1. Im aktuellen Buch „Internet – Segen oder Fluch?“ von Kathrin Passig und Sascha Lobo liest man zum Thema u. a. Folgendes:

    Wer eine Idee als Eigentum betrachtet, befindet sich in einem völlig anderen Gedankengebäude als jemand, der die Idee als Immaterialgut ansieht. Der wesentliche Unterschied ist die Möglichkeit der Kontrolle, denn: ein Eigentümer hat das volle Verfügungsrecht über sein Eigentum, was aber bei einem immateriellen Gut kaum funktioniert. Ein Lied ist kein Fahrrad, wie selbst hartnäckige Verfechter des geistigen Eigentums hinter vorgehaltener Hand zugeben.

    Die aktuellen Zentralbegriffe in der gesamten Debatte sind für mich „Immaterialgüterrecht“ und „Schöpfungshöhe“. Ich habe weiß Gott eine Aversion gegen verwaltungsjuristisches Denken, aber hier lohnt es sich, mal nach allgemeinverständlichen Definitionen zu suchen.

    Also, mal so schlicht und brutal wie möglich formuliert:

    Das Urheberrecht muss durch ein Immaterialgüterrecht abgelöst werden.

    Der Begriff des „geistigen Eigentums“ ist obsolet geworden und gehört abgeschafft. Er wird durch den Begriff der „Schöpfungshöhe“ ersetzt. Was soll „Schöpfungshöhe“ heißen? Nun, ganz einfach: Er soll ein objektives Messinstrument für künstlerischen Aufwand sein. Z. B. so:

    Bloßes Zitieren / Sampeln von Fremdmaterial = Schöpfungshöhe 0 => Gebühr 1.

    Kontextuelles Zitieren / Sampeln von Fremdmaterial = Schöpfungshöhe 0,5 => Gebühr 0,5.

    Komplett re-kontextualisierendes Zitieren / Sampeln von Fremdmaterial = Schöpfungshöhe 1 => Gebühr 0.

    Das ist natürlich äußerst grob, „unkünstlerisch“ gedacht und an Plumpheit kaum zu überbieten. Außerdem zwingt es die Damen und Herren Verwaltungsjuristen, künstlerische Leistung „objektiv“ zu beurteilen, es macht Juristen zu Kunstrichtern – gruselig.

    Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht ließe sich ja durch eine Kooperation von künstlerischem und juristischem Fachwissen (Enquete-Kommission oder sowas) ein realitätstüchtiges, simples und doch mächtiges „Schöpfungshöhe-Meter“ entwickeln (vielleicht sogar auf technischer Basis).

    Passig / Lobo hierzu:

    Hat der Gesetzgeber alles richtig justiert, dann erkennt man diesen Idealzustand daran, dass beide Seiten exakt gleich unzufrieden sind.

  2. Alexander Strauch sagt:

    hat doch was. im letzten beispiel kann man dann trefflich über 0,4599 bis 0,0000001 streiten. wenn es nur daran läge… der weitere fall, das direkte abspielen und/oder spielen eines stückes, würde azch nix grossartig ändern, ausser dass es live viel mehr, im radio gleich oder weniger und im netz weniger gäbe. wobei das letzte ggf. eher pauschal ausfiele. wenn man aber an die neuen radio-inkasso-richtlinien denkt, ist das pauschale sowieso reihum am verschwinden…………