Abschied von Hans

Man wusste, dass es irgendwann so kommen würde, und dennoch – insgeheim glaubten wir alle, er würde noch mindestens hundert Jahre werden, dieser disziplinierteste und fleißigste aller Komponisten, Hans Werner Henze. Und natürlich bis zum letzten Atemzug komponieren, jeden Morgen, zwischen 4 und 8 Uhr, seiner Lieblingszeit zum Arbeiten.

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Dass ein Großer von uns gegangen ist, darüber sind sich alle einig. Und mit Recht: Jemand wie Henze wird nicht mehr gemacht. Vielleicht ist das Zeitalter der „Komponistenfürsten“ (und ein solcher war Hans immer, im besten Sinne)  auch vorbei, vielleicht hat sich die Gesellschaft auch so sehr verändert, dass ein solcher Konsens, eine solche Laufbahn in genau dieser Form nie mehr möglich sein wird. Und natürlich überschlagen sich jetzt genau die, die seine zum Teil sehr eigenwilligen Alterswerke eher belächelten und abfällig darüber schrieben, in Elogen und Nachrufshymnen. Dabei fande ich gerade diese Alterswerke – wenn vielleicht auch nicht so schillernd wie seine Werke auf dem Gipfel seiner Schaffenskraft – von einer konsequenten Freiheit und Lebenslust beseelt.

Je älter Hans wurde, desto mehr wandte er sich dem Leben zu, allen Schicksalsschlägen zum Trotz. Das bewunderte ich immens, diese innere Freiheit, einfach der eigenen kompositorischen Lust zu folgen, niemandem mehr etwas beweisen zu müssen, sondern zu schreiben aus reiner und echter Lust am Schreiben. Sicherlich fiel ihm das Komponieren in den letzten Jahren nicht leicht, allein aus gesundheitlichen Gründen, aber ich glaube, dass es ihm noch viel Glück und Freude gebracht hat, ihn nach dem zu frühem und für alle unerwarteten Tod seines viel jüngeren Lebensgefährten Fausto noch viele Jahre Leben beschert hat.

Hans war für mich immer der Inbegriff des Komponisten, der wirklich komponieren muss, der nicht anders kann, als schöpferisch tätig zu sein. Und der diese Arbeit aus der Tiefe seines Herzens als sinnvoll betrachtete. Bei allen Frustrationen, an denen auch sein Leben reich war, diesen Glauben an das Gute und Heilende der Kunst hat er nie auch nur eine Minute verloren. Wahrscheinlich war es sein großes Glück, dass er letztlich ganz naiv in diesem Glauben war, denn irgendwo hat er sich immer eine Unschuld bewahrt, die seine Musik völlig frei von jeglichem Zynismus macht. So unterschiedlich seine Werke sein mögen, „abgeliefert“ oder lieblos dahingewurschtelt waren sie nie. Eher war Zeitnot am Werk, oder vielleicht die eine oder andere helfende Hand.

Dies kam sicherlich aus seiner persönlichen Lebensgeschichte – er, der selber so viel Leid und Zerstörung erleben musste (wie viele andere seiner Generation), hatte sich irgendwo in seinem Herzen die Sehnsucht nach Schönheit bewahrt. Wenn man ihn über andere Komponisten sprechen hörte, z.B. über seinen geliebten Strawinsky, seinen geliebten Bach, so war seine Rede stets begleitet von einem Leuchten in den Augen, wie man es ganz selten sieht. Er bewunderte nicht nur, sondern er liebte aufrichtig Strawinskys elegante Ökonomie, Bachs üppige Polyphonie. Und sein größter Wunsch war immer, Teil des großen Pantheons der Komponisten zu sein, seinen eigenen Beitrag geleistet zu haben. Verantwortung übernommen zu haben. Ich glaube, dieser Wunsch wurde ihm erfüllt, das kann man schon jetzt sagen.

Daher verwundert es nicht, dass er auch immer ein politischer und engagierter Mensch war – er sah dies bei allen Irrungen und Wirrungen, durch die auch er wie alle seiner Generation ging, immer als seine Pflicht an. Er konnte nicht anders, er tat es aus einem Verantwortungsgefühl heraus. Dafür hat er immer viel riskiert, er war auch mutig.

Eines seiner Lieblingsworte war „prächtig“. „Du musst eine prächtige Partitur schreiben“, sagte er nicht nur zu mir, sondern zu vielen seiner Schüler. Und das Seltsame ist: nie war ich sein Schüler, doch jedermann dachte ich sei es, so großzügig war Hans zu jungen Kollegen. Es war ihm egal, woher man kam, ob man als sein Student eingeschrieben war oder nicht. Und er wollte alle zu Kollegen machen, hielt stets an der Idee fest, dass jeder Mensch besser würde, wenn er zum Künstler würde – aus dieser Idee stammten zum Beispiel seine Kurse für „Laien“ bei der Münchener Biennale, die er gerne auch selber betreute, wann immer es ihm möglich war. Eigentlich wollte er die ganze Welt unterrichten oder zumindest inspirieren – Kinder, Greise, einfach alle.

Zuerst belächelte man solche Begriffe wie „prächtig“, doch dann verstand man, was er wirklich damit meinte, und dann sehnte man sich gemeinsam mit ihm nach dieser beseelten und beschenkenden Pracht, an der unser Leben oft so arm ist, weil wir Angst haben, dieser Pracht zu viel Raum zu geben. Das Überbordende und Ausufernde hat er seinen Schülern immer verziehen, denn auch er schlug gerne über die Strenge (wie zum Beispiel in der in jeder Hinsicht extremsten und gleichzeitig eindringlichsten seiner Symphonien, der 7.). Sein größter Feind war dagegen die Langeweile und vielleicht auch die Stille, der er in seinen Werken selten Raum gab. In seiner berühmten Küche in der Zweibrückenstraße (als er zu Biennalezeiten dort residierte und dort regelmäßig rauschende Feste abhielt) hingen unzählige Blumenbilder, die den Raum mit ihrer Farbenpracht fast erdrückten. Überhaupt hatte man in den Wohnungen in denen er eben mehr residierte als lebte stets das Gefühl, Teil eines Bühnenbildes für einen Proust-Film zu sein. Was sicherlich auch an der Liebe zum Detail seines Lebensgefährten (und liebevollen Innenausstatters) Fausto Moroni lag, der die vielen Reisen mit Hans stets dazu nutzte, neue Zuckerdosen oder zahllose andere Wohnaccesoires zu erwerben, die sich auf dann auf riesigen und überladenen schweren Holztischen ablagerten.

Hans-Ulrich Treichel hat einen in eine Romanhandlung verwandelten Aufenthalt in Henzes Villa sehr gut beschrieben, den Balkon des Komponierzimmers, von dem Hans gerne seine Gäste im Garten beobachtete, bevor er sich – meistens in Begleitung mindestens einer Flasche Whiskys oder Weins – zu ihnen gesellte. Treichel beschreibt auch gut die Angst, die einen als Gast von Hans oft befiel. Inzwischen weiß ich, dass es sich bei dieser Angst um eine Art Lampenfieber handelte, denn man wähnte sich stets als Teil einer Inszenierung, als ob es für jede eigene Handlung ein Publikum gäbe.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich einmal als Gast in Marino versuchte, in der Mittagsruhe ganz leise am Flügel etwas zu Komponieren. Es war letztlich unmöglich – man fühlte sich belauscht, selbst wenn der Maestro (und Hans war vielleicht der letzte Komponist, den man guten Gewissens und ohne rot zu werden noch so nennen konnte) scheinbar schlief. Natürlich hatte er alles gehört – er rümpfte nur kurz die Nase beim Mittagessen, und das war es dann mit meinen Komponierversuchen in Marino.

Hans verwandelte alles in eine Inszenierung. Und er suchte sich Orte, die er zur Bühne machen konnte: die malerischen Gassen seines geliebten (und gehassten) Montepulciano wurden beispiellos allein durch seine Anwesenheit (oder Abwesenheit) von Magie beseelt, auch München konnte sich glücklich schätzen, von ihm als Bühne verwendet zu werden (und irgendwie passte er sehr gut nach München). Nie mehr war die Biennale so international, so „prächtig“ und so pompös wie zu seiner Intendanz. Das besondere seines Wesens war das Gönnende, das immer wieder auch in Verachtung umschlagen konnte, vor allem wenn seine Liebe nicht erwidert wurde. So war man sich in seiner Anwesenheit nie wirklich sicher und immer ein bisschen nervös. Dann gab es plötzlich wieder rührende versöhnende Gesten von ihm, und alles war wieder gut. Man liebte ihn, aber oft fürchtete man ihn auch.

Ähnlich wie vielleicht bei seinem großen britischen Pendant – Benjamin Britten – hatte man immer Gefühl, Teil eines Hofstaats zu sein, eines Hofstaats, dessen Rangordnung sich stets änderte. Irgendwann hat mich das ein wenig von ihm entfremdet, ich habe ihn aus der Ferne aber weiterhin bewundert und geliebt, und jedesmal wenn wir uns sahen, freuten wir uns.

Am besten gefiel mir Hans, wenn man alleine oder nur mit ihm und Fausto zusammen saß. Dann verspürte er nicht die dringliche Notwendigkeit des Repräsentativen, die ihn oft unter großen Menschenmassen befiel (und er schaffte es stets, alle Augen auf sich zu ziehen). Er konnte dann unglaublich verletzlich und rührend sein, und gerne (und oft mit Tränen in den Augen) erzählte er von den Menschen, die ihm viel bedeuteten (wie z.B. über Ingeborg Bachmann – über ihr Verhältnis zu Henze könnte man einen tollen Film drehen, der auch irgendwann einmal gedreht werden wird). Oder über große Enttäuschungen, wie das Gefühl des Verstoßenseins von seinem geliebten Freund Luigi Nono, mit dem er sich über heute lächerlich wirkenden ästhetischen Differenzen entzweite. Oder er erzählte über seine Kindheit in Westfalen, das von ihm als erdrückend empfundene Kleinbürgertum, dem er irgendwie entkam. Und dennoch: manchmal machte ihn nichts glücklicher als Pumpernickel mit Leberwurst, die nach Heimat schmeckte.

Obwohl er für uns alle eine Vaterfigur war, manchmal wurde er dann wie ein kleines Kind. Ich weiß noch wie heute, wie er mich einmal in seinem Apartment in Knightsbridge (London) leise fragte, was denn eigentlich der Tonumfang einer Basstrompete sei. Er kokettierte mit seinem Autodidaktentum, und lieferte dennoch die unglaublichsten Partituren ab. Dann gab er einem seltsame Ratschläge, wie zum Beispiel, dass man als junger Komponist immer im teuersten Hotel der Stadt absteigen solle, selbst wenn man nur die Besenkammer zahlen könne. Dort solle man dann die Journalisten empfangen.

Vielleicht hätte ich mehr auf ihn hören sollen.

An einem der dunkelsten Tage meines Lebens – als ich vom Sterben meines Vaters erfuhr – saß ich mit ihm zusammen in einem winzigen Zimmer im Hotel Vier Jahreszeiten (bis zu seinem Lebensende war er zwar stets großzügig zu anderen, aber selber westfälisch sparsam), vielleicht einer Art Besenkammer, und aß gemeinsam mit ihm ein Schnitzel. Diesen Abend – und viele weitere – werde ich nie vergessen.

Hans schaffte es, Menschen zu Höchstleistungen anzutreiben und zu motivieren. Gerne erschien er bei Biennaleproduktionen schon Monate vor der Aufführung bei einer Probe, alle machten sich vor Angst in die Hose, aber danach gaben sie alles für ihn (und sich). Für jeden auch noch so kleinen Darsteller hatte er immer ein ermunterndes Wort, nichts entging ihm. Und er hatte immer einen Sinn und ein großes Interesse an Außenseitern und skurrilen Typen. Er war unglaublich neugierig und dem Leben zugewandt. Und er respektierte den Willen anderer. So erinnere ich mich an hochdramatische Diskussionen mit ihm – ich tat mich mit seinen Librettistenvorschlägen schwer und machte Gegenvorschläge, er respektierte das, was ich ihm niemals vergessen werde. Wenn er fühlte, dass man für etwas Feuer und Flamme war, dann ließ er es gelten. Fehlende Leidenschaft dagegen verzieh er ungern, auch bei seinen Interpreten.

Mein Kopf ist voll mit so vielen Erinnerungen an Hans, ich könnte hier ewig weiterschreiben. Aber letztlich bleibt bei mir ein Gefühl der großen Dankbarkeit. Weil er selber groß war, konnte er es anderen gönnen, groß zu werden. Diese Momente der Großzügigkeit gegenüber Kollegen waren seine besten Momente.

Jetzt, wo Hans (irgendwie doch viel zu früh) von uns gegangen ist, bleibt uns seine wunderbare Musik. Dieses leuchtende, ausufernde, überaus prächtige und schillernde Werk von unglaublicher Dimension. Darunter meine Lieblingsoper von ihm, „Die Bassariden“, ein in jeder Beziehung überwältigendes Werk, das bei jedem Hören besser wird. Aber auch das „Requiem“ (nie wurde ein atheistischeres Requiem geschrieben, und dennoch ist es voller Glauben an einen Sinn), „El Cimmaron“, „Pollicino“, diese rührende Liebeserklärung an die Kinder von Montepulciano, das wieder nicht mehr so viel gespielte aber wunderschöne Stück für zwei Klaviere, Orchester und Chor „Die Musen Siziliens“ (um es zu spielen, sagte ich damals mein Klavierexamen ab und bin bis heute ein Pianist ohne Abschluss – ich habe es nie bereut).

Noch viel ist zu entdecken. Und alles ist eine Hymne auf das, was Hans immer über alles geliebt hat: Das Leben.

Danke Dir, Hans. Dafür, und für vieles mehr.

Dein

Moritz

Foto: Regine Körner (bei den Proben zu "Der Kammersänger" (Jan Müller-Wieland))

 

PS: In diesen Tagen sollte auch die Person gewürdigt werden, die Hans aufopferungsvoll in den letzten Jahren betreut und gepflegt hat – Michael Kerstan gilt meine Bewunderung und mein Respekt.

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4 Antworten

  1. Das hast Du sehr eindrucksvoll geschrieben, Moritz! Ich war nur einen Tag bei Henze in der Zweibrückenstraße. All die widerstreitenden Gefühle dieses Tages sind mir jetzt wieder ganz nah. Dass ich letztlich in Ungnade gefallen bin, hat mich damals erzürnt, heute sehe ich das gelassen verstehe besser – indirekt auch durch Deinen Text – was henze mir sagen wollte.
    Florian

  2. Vielen Dank, Florian! Wir haben wahrscheinlich alle solche „Ungnade“-Erlebnisse mit ihm gehabt, davor war keiner gefeit. Man musste es aus seiner Persönlichkeit heraus verstehen – er war immer wahnsinnig liebesbedürftig und daher auch immer wieder mal schnell enttäuscht, wenn man sich nicht bedingungslos fügte, Jörg (Widmann) könnte darüber auch einiges erzählen. Aber für mich bleiben die Momente der Großzügigkeit doch am stärksten in Erinnerung, er hat schon wahnsinnig vielen Menschen eine Chance gegeben und sie gefördert, das wird bleiben.

  3. Robert Krampe sagt:

    Lieber Moritz, wie ich schon auf FB geschrieben habe, danke ich Dir sehr für diesen Nachruf. Du sprichst mir aus dem Herzen. Sei es der Glauben daran, dass Hans noch viele Jahre vor sich haben würde, der nun um so mehr erschüttert wurde, seien es die Gefühle in Marino, wenn man den Flügel in der großen Halle mit seinen ‚minderwertigen‘ Klängen mißbrauchte. Bei mir war es nur nicht die Mittagsruhe, weswegen es keine bösen Blicke nur die Frage nach den „interessanten Klängen“ gab. So viele positive, zum Teil auch befremdliche Erinnerungen kommen in diesen Tagen wieder hoch. Was auch bei mir bleibt, ist das Gefühl der uneingeschränkten Dankbarkeit für seine Musik (die man durch die vielen Nachrufe im Rundfunk zum Teil neu entdecken kann) und die Laune des Schicksals, ihn persönlich kennengelernt zu haben. Und auch in Dein Postscriptum möchte ich mit einstimmen: Michael Kerstan hat einen großen Verdienst daran, dass Hans in den letzten Jahren noch so rege, kreativ und reiselustig sein konnte, wofür ihm großer Dank gezollt werden muß.

  4. @Robert: Wie ich vor Ort erfahren habe, wird es eine Henze-Stiftung für junge Komponisten geben, ob das Haus erhalten werden kann ist noch nicht klar. Aber diese Stiftung wird hoffentlich eine tolle Sache und man kann in seinem Sinne den Nachwuchs fördern!