Endlich Entgrenzug – weg mit dem Unglücklichsein im Anblick der Freiheit! Entwurf einer anderen Musik

Wer im Badblog die letzte Zeit Moritz‘ DOGMA-Diskussion oder Johannes Kreidlers Genre-Gedanken dazu verfolgte, konnte in den Kommentaren sehen, wie sich unsere Komponistenzunft um diesen Begriff streitet, ihn einschliesslich mir dankbar aufschnappt, als wären wir Fische und hielten in einem sauerstoffarmen Gewässer den Wurm am Angelhaken für reinste Luft. In einer Kunst zu einer Zeit ohne allgemeinverbindliche Kompositionsregeln hechtet man zu jeder Äusserung einer Richtlinie, die dann oft brillante Ist-Beschreibungen sind, aber letztlich sollfrei sind, ausser die mal wieder anders beschriebene Freiheit künstlerischen Handelns im Zeitalter nach der Postmoderne letztlich doch an die hochzuhaltenden Regeln der Moderne binden: Neue Musik soll nicht mehr Neue Musik sein, aber keinenfalls ohne Neue Musik.

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Die längste Zeit galt Neue Musik im 20. Jahrhundert als vornehmlich „atonal“ im Gegensatz zur vorherigen und überhaupt nicht abgebrochenen Tradition „tonaler“ Musik. „Atonal“ machte anfangs die am unglücklichsten, deren Musikschaffen ex negativo mit diesem Begriff etikettiert wurde, so erregte sich Berg unmissverständlich einem Radioauftritt. Im Prinzip wurde letztlich nur das harmonische Fundament gelöst, erweitert. Sehr wohl finden sich in den Werken jener Jahre Derivate der Genres der konventionellen Musik, geistern komprimierte Sonaten, Fugen, Märsche und Tänze durch etliche Werke wie z.B. im Pierrot Lunaire , ist sehr wohl in längeren Abschnitten ein Sog der Tonhöhen zu hören, der an die chromatischen Züge der Spätromantik denken lässt wie z.B. in den Altenberg-Liedern. Rückwärtsgewandt besehen eine große Freiheit, bricht sich das jedem dieser Komponisten innewohnende harmonische Ausdrucksgebaren ohne die Ankettung an ein erweitertes Dur-Moll-System endlich freie Bahn. Es ging so wild und poetisch wie bisher selten in der Kompositionskunst zu!

Das hat den Durchbrechern wohl bald selbst ein mächtiges Unbehagen eingeflösst. Komponieren so ohne jede feste Regel fühlt sich besser an, wenn man es endlich domestiziert. Aus Selbstbetrachtungen von Frischegraden der Wiederholungsvermeidung einzelner Töne, bis die meisten anderen Töne der Zwölferchromatik abgespult sind, destillierte man sich die „Methoder der Komposition mit zwölf Tönen“. Dann schlug es dreizehn! Statt komprimierte konventionelle Genres diese wieder in voller Länge und Breite. Mit teilweise sehr schönen Ergebnissen, in der wiedererlangten Unfreiheit aber doch in formaler Hinsicht „Brahms mit falschen Noten“ wie Ligeti gehässig dies viel später umriss.

So ähnlich ging es dann immer fröhlich weiter: Aus dem Drang, all den Anfeindungen der frühen Kritik der nachtonalen Musik seriöse Rechtfertigungen entgegensetzen zu müssen, die auf neue Freiheiten immer wieder durchzuführende Regelfindung aufgrund der unseligen Partnerschaft mit der Philosophie, die die Regelsetzung nachgerade zur ethischen Grundvoraussetzung der Neuen Musik machte, so sehr sie die unbedingte Suche nach dem Neuen genauso zu einer moralischen Verpflichtung erhob, ist bis heute das immer wieder latent hervortretende Paradoxon unserer Kunst. Unbestritten führte dieses Suchen und sofortiges Regulieren zu neuen Kategorien wie zuletzt den Abstufungen der musique concrète instrumentale oder all fremden Stimmungssysteme. Selbst die brutalst polystilistische Postmoderne wird auf Systemisches heruntergedimmt, die einfache Benutzung eines Synthesizers löst neue Erklärungsorgien aus. Ja, der Austritt aus der Neuen Musik wird taxonomischer erfasst als die christlichen Konfessionen in Deutschland ihre Kirchenaustritte analysieren!

Es bleibt abzuwarten, ob das Cage-Jubeljahr zu seinem Hundertsten uns eine nachhaltige Befreiung im Revue passieren seines Werks hinterlassen wird. Immerhin werden im Gros seine einfacheren Werke aufgeführt. Dies hat allerdings den Beigeschmack von Kuschelklassik, will man es mit dem Cage dem Publikum endlich mal einfacher mit der Neuen Musik machen. Die wirkliche Befreiung, die Cage bescheren könnte, ist das Ablegen des notorischen Rechtfertigungsdrangs selbst der heute jungen Komponisten. Auf die Dogma-Diskussion bezogen lässt sich sehr wohl feststellen, dass jeder Komponist persönlich für sein Gesamtschaffen oder jedes neue Stück eine grössere oder kleinere Menge an genauen oder diffusen Regeln benötigt, die er sich zur besseren Übersichtlichkeit zuvor extra aufschreibt oder in Magen, Herz und Hirn verinnerlicht. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Dies könnte zu noch allgemeiner gehaltenen Sätzen führen, als ich es eigentlich von Dogmen präzise für den kompositorischen Schreibtisch erwarten würde.

Die Anforderung an heutige Kunst sollte der Einsatz und Genuss der Freiheit sein. Ausgehend vom Aufbruch der nachtonalen Musik des frühen 20. Jahrhunderts, all die verpflichtenden Beschränkungen vergessend, gilt es an jener Entgrenzung anzuknüpfen. Es scheint, als mache erreichte Freiheit immer wieder unglücklich und liesse nach neuen Dogmen rufen. Dieses Erschrecken über Befreiung kennzeichnet die gesamte Neue Musik der letzten 100 Jahre. So ist es mehr als an der Zeit, die allgemeinen Beschränkungstendenzen zu durchbrechen, jedes Werk nur noch an sich selbst zu messen. Denn nur das einzelne Werke eines oder auch mehrerer Urheber kann sich einschränken.

1.) Dies bedeutet: Lasst uns mit den Rechtfertigungen aufhören! Lasst uns Musik von der Philosophie trennen! Denke aber immer an den kategorischen Imperativ.

2.) Dies bedeutet: Liebe Erklärer unserer Musik, liebe Veranstalter, Sender und Zuhörer, erwartet von uns keine Rechtfertigungen. Erwartet nicht, dass es immer einen musiktheoretischen oder musikphilosophischen Beipackzettel gibt. Ja, misstraut diesen erstmal.

3.) Dies bedeutet: Komponist, schiele nicht auf all die Anknüpfungspunkte. Geniesse Deine Freiheit und setz ihr Deine eigenen Grenzen. Sei dabei immer ehrlich zu Dir selbst, habe Mut Dich am nächsten Morgen ohne Entschuldigung zu korrigieren. Gefährde keine anderen Menschen, sei solidarisch, lass Dich unmittelbar von Geschehnissen in Deinem Umfeld oder der weiten Welt beeindrucken. Riskiere manchmal auch mehr. Sei ethisch, aber verzweifle nicht, wenn Du kein Philosoph bist.

4.) Dies bedeutet: Lese viele Bücher, treffe viele Menschen, informiere Dich rundum oder dies eine oder andere auch nicht. Lass Dich von niemanden beeindrucken, der behauptet mehr zu wissen als Du. Habe ein offenes Auge und ein noch offeneres Ohr für die Natur, die Wissenschaft, die Geschichte, andere Künste.

5.) Dies bedeutet: Nutze bestehende Institutionen, um Dein Schaffen in die Welt zu bringen. Erwarte aber nichts von diesen Einrichtungen. Helfen sie Dir nicht weiter, lass es gut sein, suche andere oder gründe doch lieber selbst Deine eigene.

6.) Dies bedeutet: Lerne so viel wie Du willst. Vertraue aber nicht diesen allein. Wenn Du Dich weiterentwickeln willst, dann horche in Dich hinein, lausche Dich selbst der gesamten Welt ab, die Dir greifbar ist. Oder lasse davon einfach ab, wenn es Dich krank macht. Sei gesund und manchmal Du selbst, ohne es Dir zu einfach zu machen.

7.) Dies bedeutet: Noch Vieles mehr und meist eigentlich gar nichts. Dies ist weder naiv noch reflexiv modern. Dies ist etwas ganz Anderes!

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7 Antworten

  1. Stefan Roigk sagt:

    danke!
    dein artikel spricht mir extrem aus dem herzen ;)))

  2. Alf sagt:

    Nun, nachdem ich die Diskussion zwischen Kreidler und Mahnkopf im Buch „Musik, Ästhetik und Digitalisierung“ auch gelesen habe – zugegeben, ich bin etwas spät dran, möchte ich mich auch meine Gedanken zu dieser unsäglichen Debatte äußern. Ich habe hier keinen Artikel, welcher sich auf diese Schriften bezieht, gefunden und empfinde diesen als thematisch passendsten.
    Die Ursache dafür, warum die Diskussion so unfruchtbar verläuft (obwohl viele interessante Gedanken geäußert werden und das Buch durchaus spannend zu lesen ist – man ist fast geneigt, es an einem Tag durchzulesen.), kann man m. E. durch eine eigentlich sehr einfache, aber wesentliche – existenzielle Frage aufdecken:

    Warum machen Menschen Musik?

    Kreidler und Mahnkopf treffen sich darin, dass sie beide ein Motiv – für die Mehrheit der Musiker, auch der Komponisten, wohl das wesentliche – (bewusst! Es existiert immer noch die Opposition von Hedonismus und Wahrheitsfindung) übersehen: Weil es Spaß macht!!!

    Und mit diesem Einwand entgegne ich der Anhäufung abstruser Behauptungen – fast zu einfach:

    „Ich muss kein Handwerk ausüben, wofür es Maschinen gibt“ (Kreidler)

    Tja, schade, wenn Ihnen das Kompositionshandwerk nur das ist, was anderen das Kopfrechnen. Es soll auch Menschen geben, die gerne und mit Leidenschaft Kompositionshandwerk ausüben. Und sei das Ergebnis ein ach so veralteter urromantischer Walzer.

    „Den Jägerchor zwei Oktaven tiefer singen (wenn überhaupt).“ (Kreidler)

    Auch soll es Menschen geben, die Spaß daran haben, den Jägerchor zu singen. Meistens macht’s mehr Spaß, wenn’s „richtig“ ist und nicht zwei Oktaven tiefer oder höher. Wer hat das Recht, jemandem diesen Spaß zu nehmen?

    „Genauso gibt es ja auch noch Tausende ungeschriebene Fugen, die aber keiner schreibt, weil sie irrelevant sind (Gott sei Dank erscheinen jetzt Komponierprogramme, die endgültig demonstrieren, dass Fugenschreiben keine Leitung mehr ist, und hoffentlich bald auch für die etablierten Stile der Neuen Musik)“ (Kreidler)

    Gott sei Dank werden jedes Jahr Tausende Fugen geschrieben, denn es ist gewiss eine sinnvollere Tätigkeit als das, womit die Mehrzahl der Menschen ihre Freizeit verbringt. Leider ist es für die meisten Menschen, zumindest diejenigen, die ihr Pflichtfach Tonsatz absitzen, keine mit Leidenschaft erfüllte Tätigkeit. Natürlich nicht, denn Fugenschreiben stellt noch immer eine Leistung dar, die meisten können es nicht, was sie frustriert und wodurch die Lust verlieren. Durch Computer ist Fugen schreiben nicht leichter geworden als zu Bachs Zeiten, eher schwieriger.
    Eine gelungene Fuge zu schreiben kann eine große Freude für den Schreibenden als auch für den, der sie zu hören bekommt, sein.
    Zu behaupten, Fugen schreiben sei überflüssig, weil auch es Rechner können (was im übrigen ja überhaupt nicht der Fall ist. Die Fugen, welche Rechner ausspucken sind erbärmlich. Überhaupt können auch nicht, wie Mahnkopf behauptet, Tausende Menschen Fugen schreiben, zumindest nicht auf dem Niveau von Bach. Entweder er hat selbst noch nie eine Fuge geschrieben und die Schwierigkeiten erkannt oder er ist solch ein Genie, dass er von sich auf Tausend andere schließt) ist doch der Gipfel an Unsinn. Dass der Schachcomputer ins Spiel kommt, finde ich gut: Die Behauptung über das Fugenschreiben ist ungefähr damit zu vergleichen, als würde man mit dem Sieg eines Schachcomputers über einen Menschen beweisen wollen, dass es fortan irrelevant sei, Schach zu spielen.

    Wieder das gleiche Argument: Schach zu spielen macht Menschen Spaß! Es ist eine den Geist in hohem Maße beanspruchende Beschäftigung – viele Menschen haben Spaß daran (siehe Sudoku).
    Und andere Menschen haben Spaß am Komponieren oder an beidem! Und was sie letztlich komponieren, spielt dafür erst einmal keine Rolle.

    Nun kann man natürlich sagen: Klar, man gönne den Menschen ihren Spaß mit Dingen, die bereits getan wurden (im übrigen gibt es nicht die bereits komponiert Fuge – Fuge ist ja nur ein Obergriff. Jeder Stil/jede Gattung ist zwar verallgemeinernder Begriff, das einzelne Werk ist aber jedes Mal einzigartig. Kein Koch käme auf die Idee, künftig keine Suppen mehr zu kreieren, da schon genügend Suppen gekocht worden sind.) – sie bleiben dennoch irrelevant.

    Stellt sich die Frage: Irrelevant für wen? Solang es Rezipienten gibt, die daran eine Freude haben, sollte man ihnen die Möglichkeit geben, mit seiner Musik in Berührung zu kommen. Doch dafür muss sie geschrieben werden. Und in diesem Sinne besitzen sowohl eine Polka als auch ein Rihm’sches Orchester eine Relevanz, die vieler ach so toll philosophisch untermauerten (in meinen Augen zeugt es überhaupt von bodenloser Arroganz, sich die eigene ästhetische Position fortwährend mit Referenzen zu Derrida u. a. zu untermauern und damit stillschweigend 99% der potenziellen (weil ach so ungebildeten) Argumentationspartner auszuschließen) kaum zukommt.
    Geht es Kreidler, Mahnkopf und co. also um Isolation?

    „sie folgt auch aus der Einsicht, dass die ästhetische Isolation nicht weiter tragbar ist, welche die Neue Musik aufrecht erhielt. […] Oboe und Bassflöte sind per se Verweigerung der Mehrheitslebenswelt.“ (Kreidler)

    Jegliche Art der Musik um des Fortschritts willen ist heutzutage Verweigerung der „Mehrheitslebenswelt“. Das ist es einmal eine nüchterne Tatsache. Welche Konsequenzen man daraus ziehen mag, das bleibt jedem selbst überlassen. Mahnkopf gesteht sich diese Isolation wenigstens teilweise ein – er sieht seinen Zeitpunkt offensichtlich in der Zukunft. Man sieht, wie gut das bei Schönberg funktioniert hat, dessen Melodien ja heutzutage bekanntlich von jedermann auf der Straße gepfiffen werden. Damals wie heute hängt man einer utopischen Zukunftsvision an, die immer Utopie bleiben wird.
    Trotzdem ist dagegen nichts zu sagen – man könnte es sogar als besonders ehrenhaft bezeichnen. Auf anderen Gebieten (z. B. der Politik) ist es das sicher auch. Doch gibt es den feinen Unterschied: Eine politisch utopische Zukunftsvision (z. B. ein Gegenentwurf zum Kapitalismus) könnte die Welt verbessern – Musik auch, aber dann verkäme sie zum bloßen Mittel – denn sie würde wiederum nur auf das Politische (oder Ethische) verweisen.
    Musik erschöpft sich allerdings nicht in der Allegorie.

    Es wird weiterhin Musiker geben, die Musik nur der Musik willen machen und des dabei empfundenen Genusses. Eine Form des Genusses (im weitesten Sinne), die mit keiner anderen zu vergleichen ist. Deshalb werden Sänger auch weiterhin den Jägerchor richtig singen und Komponisten weiterhin Flötenstücke schreiben. Und die Zuhörer werden sich dafür bedanken.

    Just my two cents, ich bin gespannt auf vehementen Widerspruch…

    (noch mal zur Klarstellung: Ich möchte die von Kreidler repräsentierte Ästhetik niemandem ausreden, nur sollte man anderen auch nicht die ihrige ausreden wollen.)

    Ein Aphorismus zum Schluss:

    Was ist der Sinn des Lebens? – Keiner, aber Leere ist Fülle für den, der sie sieht.

  3. Verzeihen Sie mir die Kürze: Ich kämpfe seit Jahren nur noch gegen die Fugen im Bodenbelag. Desweiteren empfehle ich entgegen meinem Beitrag durchaus die Auseinandersetzung und erste Verknüpfung seines eigenen Schaffens mit der Philosophie – man findet hoffentlich die richtige Referenz, die erstmal in Reibung anheizt. Denn erst dann kann man sich von ihr trennen. Ja, Freiheit geniessen, jede Generation muss sie sich allerdings erst immer wieder selbst erkämpfen und vielleicht sogar verdienen, wobei wir dann bei einer Art Moralphilosophie des Trennen-Dürfens-&-Könnens wären. Das wäre so, als ob wir uns auf dem Freiheitsbegriff des GG ausruhten, statt immerwährend um unsere Verfassung zu ringen.

  4. Alf sagt:

    Desweiteren empfehle ich entgegen meinem Beitrag durchaus die Auseinandersetzung und erste Verknüpfung seines eigenen Schaffens mit der Philosophie – man findet hoffentlich die richtige Referenz, die erstmal in Reibung anheizt.

    Ich interessiere mich durchaus für Philosophie, andererseits glaube ich nicht, dass jeder Musiker der Verpflichtung erliegt, zum Philosophen zu werden. Und auch kann philosophische Reibung zu ganz unterschiedlichen (auch einem Hegel’schen Fortschrittsethos entgegengesetzten – z. B.: Schopenhauer: Geschichte als Karneval der Immergleichen) Ansichten führen.
    Allerdings muss man diese Reibung nicht erzwingen und wenn man von einer Generation philosophische Reibung einfordert, muss leider konstatiert werden, dass dieser Anspruch nur von max. 1% der Menschheit erfüllt wird.
    Die Ernüchterung dabei: Der Rest interessiert sich nicht nur nicht dafür, sondern versteht das Problem gar nicht erst.
    Philosophische Reibung heißt übrigens auch: Darüber nachdenken, ob das Konzept der Avantgarde nicht selbst veraltet ist.
    Sich immerwährend (auch indirekt) auf das Fortschrittsethos des frühen 20. Jh. und insbesondere Adornos Gedankengut zu berufen hat auch etwas von ausruhen, nicht viel anders als bei den Komponisten und den neuen Spieltechniken der Oboe.

  5. Alf sagt:

    Worüber ich übrigens nur zu denken geben möchte: Es werden bei diesen Diskussionen so viele Prämissen stillschweigend vorangestellt, die gar nicht mehr hinterfragt werden.
    Z. B. die Behauptung Mahnkopfs, man müsse mit Dritteltönen u.a. operieren, um die Menschen von heute auf gleiche Weise schockieren zu können wie vor 100 Jahren Schönberg mittels der chromatischen Skala – ist doch eine unglaublich banale Festellung. Die Prämisse, dass Musik dazu da sei, die Zeitgenossen zu schockieren – sich dieser einmal zu stellen, ohne stattdessen die ganze Zeit seine Argumentation mit Zitaten Gleichgesinnter, aber längst Verstorbener (z. B. Adorno) zu untermauern – das hieße für mich philosophische Reibung und über die Welt reflektieren.

  6. Alf von Melmark – Sie sind schon so ein Vögelchen: Flattern hier durch den Badblog und suchen sich mal mir nix, dir nix einen Artikel aus, der Ihnen geradewegs als Nest für ihre Mahnkopf/Kreidler-Exegese erscheint, egal, ob der Artikel selbst diese betreibt. Sie wissen schon, was ich als Nestbesitzer mit Ihnen tun müsste: Sie verschieben. Nun, sei’s drum!

    Es ist immer wieder hübsch, wie Johannes Kreidler Zeitgenossen mit seiner Mischung aus Musik mit/über Musik, theoretischen Einlassungen zur Verfügbarkeit von Medien im 21. Jhd. im Sinne Benjamins und Performances den Nacken schwellen lässt. Noch herausfordernder ist dann aber Mahnkopf! Das liegt wohl an seiner Argumentationsweise, die den von Ihnen kritisierten Ursprung bei Adorno/Zweite Wiener Schule hat. So gesehen ist ja nichts einfacher, als Aufregung über das zu verbreiten, was schon vor 50 oder gar bald 100 Jahren aufregte. Ja, Mahnkopf hat Recht! Um Sie, Alf, mit etwas Neuem zu schockieren, müsste man schon Kim-Jong-un-Orgeln erfinden. Aber das alte Schockmuster scheint vollkommen auszureichen.

    Ich freute und ärgerte mich ja vor ein paar Tagen hier über Spahlingers neues Stücke „lamento-protokoll“ (muss ich jetzt in kleinbuchstaben weiterschreiben?): Ärger, weil nach 20 Minuten äusserster Materialspannung dann 30 Minuten chromatische Langeweile folgte, Freude, weil die Materialspannung aus Flageoletts-Unschärfen zu einer doch grossen Insel farbreicher Mikrotonalität führte. Ergo schliesse ich für mich daraus, dass selbst Dritteltöne heute eher zu Beruhigung, Konzentration als Schockierung führen, sich Mahnkopf noch Härteres als nordkoreanische Bombardements einfallen lassen müsste. Dennoch ist heutiges Hören neben all den musikgeschichtlichen Rundumschlägen mehr oder minder postmodern zitierender, Allusionen stapelnder Komponiermethoden doch besonders durch feinere, kleinere Unterteilungen des Tonmaterials gefordert. Ich spekuliere gerade, ob spahlinger Vielleicht Gerade Mikrotonales wohlfühlen Mit Seinem Chromatischen rückgriff Kritisieren Wollte, Wie Ich Gerade Mit Meiner Falschen kleinschrift. Na, wäre ein geräuschliches Umkrempeln spannender gewesen, wie der Weg von Berg zur musique concrete instrumental wie Lachenmanns Notturno für kleines Orchester mit Violoncello-Solo (Musik für Julia).

    Es gibt also doch sowas wie eine Pyramide des Hörens: Rhythmus, Melos, modale/tonale Harmonik, Chromatisierung, Sound, frühe Mikrotonalität, Serialismus, Aleatorik, Geräusch, reflektierendes Zitieren, Stille, neuere Mikrotonalität. Ein platter Analogschluss wäre der Blick auf die Fortbewegungsgeschwindigkeit: Rennen, Galoppieren, Bahn, Auto, Flugzeug. Man gewöhnt sich eben an Alles. Ein Zurück zu einem vorherigen Zustand wäre wohl nur mit einem grösseren Kulturbruch möglich bzw. Stilwechsel des Komponisten. Das dies wieder ein individuelles Unterfangen mit ganz unterschiedlichen Ausgängen wäre, zeigen z.B. Pärt und Scelsi. Beide schufen ein atonales, gar serielles Frühwerk, gerieten in die Krise: der modernere Pärt kurvte harmonisch gesehen in die Modalität zurück, was natürlich auch erstmal ein neues Aushören dieses Materials wurde. Scelsi oder das was man für Scelsi halten mag, wurde von Fall zu Fall vierteltönig.

    Die beiden vollzogen dies wohl in erster Linie als Musiker. Dennoch dürften sie, so nehme ich an, einiges nachgedacht haben, ja, philosophische, religiöse Betrachtungen angestellt haben, die sie auf ihren Weg nicht nur hörende sondern auch denkende Klarheit verschuf. Sehe ich heute junge Komponisten, die ohne grosse Umschweife tonal oder maximal neoklassizistisch komponieren, ja, sich auf Künstler berufen, die dies heute auch tun, so muss man sagen, dass selbst ein Kollege wie Moritz Eggert, der oft tonale Muster bemüht, diese z.B. durch gröberen oder feinsinnigen Dadaismus untergräbt, durchaus in frühen Werken und auch heute immer wieder, scharfe Konstruktionen komponiert – ob gar mikrotonal, weiss ich nicht genau! Das ist wohl nicht mit Deleuze und Co. legitimiert, es ist aber durchaus ein „Erkämpfen“ von Möglichkeiten und nicht ein blosses abgreifen von Vorhandenem, was Sie, Alf, latent legitimieren, wenn Sie Philosophie bzw. striktere Auseinandersetzung so infrage stellen. Höchstwahrscheinlich interessiert sich die Welt dann doch stärker als nur dieses 1% für Philosophie, wenn natürlich auch eher die Küchenphilosophie: Im Zweifelsfall benötigen selbst Demagogen ein paar Gramm philosophische Referenz, selbst der Konsumismus kommt nicht ohne Reibung an Smith, Marx, katholischer Soziallehre, esoterischen Buddhismusderivaten zurecht. Da machen Sie die Welt am Geistigem oder zumindest einfacher Spirituellem desinteressierter als sie ist.

    Warum hängen denn soviele junge Kollegen z.B. mit Begeisterung an Johannes Kreidlers Aussagen: weil er, so angreifbar auch immer, gehobene Philosophie auf den Boden der de-facto-Anwendung bringt. Das ist auch weniger mein Weg, da es z.B. sehr deutlich „emotionalisierendes“, „gefühliges“ ausschliesst, worin ich wiederum herumgründle, da man nicht nur mit reiner Distanz dann doch auftretende „Prägungen“, „Konditionierungen“, „Emotionen“ steuern kann, damit umgehen muss, wenn man sie sowieso durch das Medium Musik erzeugt. Da bedarf es zwar schon der Lust, die musikantischen Hosen richtig herunter zu lassen. Dennoch braucht es eines kühlen Kopfes. Und erst Recht geht das immer wieder schief…

    Das führt dann dazu, dass die „nur tonal-modalen“ irgendwo zwischen lustigen Rhythmen und Debussy-Gerippen hängen bleiben. Nachdenken, philosophieren, glauben, darüber wieder nachdenken, sich davon lösen IST dann leider doch etwas dogmatisch von einer künstlerischen Person zu erwarten. Sonst ist sie eben nur ein Exekutor. Im Klartext: meine Freiheitsüberlegungen sind nichts für Felsenmeider, nein, für die, die den Felsen erklommen haben und vor Erschöpfung von ihm tödlich herabzustürzen drohen. Höchstwahrscheinlich kennen Sie das nicht…

    Ich stosse so z.B. das Philosophische von Mahnkopf und Kreidler für mein Hören ihrer Werke und schätze nicht immer, aber doch von Fall zu Fall, beide als Musiker mehr, als Ihnen und Anderen hier lieb sein dürfte. Allein: Diese Einschränkung wiederum meinerseits könnte beiden, so sie mich überhaupt wahrnähmen, doch mehr negative Emotion bereiten, als denen Ihr Dritteltongegreine: Durchschreiten Sie erstmal Zweifel und Akzeptanz, bevor Sie hier in fremden Nestern Themenverfehlung betreiben, die ich hier zurecht bog – ich müsste sonst den Administrator eben jene Verschiebung vornehmen lassen müssen.

  7. Alf sagt:

    Sehr geehrter Herr Strauch,

    sie vertreten ja ein ausgesprochen heroisches Künstlerbild. Ich kann den Reiz daran sehr gut nachvollziehen, außerdem ist es ja auch nichts bestürzend Neues: seit Schönberg ist es eigentlich fast zum Klischee geworden.
    Doch was machen sie mit Komponisten, die gerade nicht in dieses Künstlerbild passen? In der Vergangenheit gab es deren etwa Händel, Haydn, Mendelssohn, Strauss (spontane Einfälle) – könnte man, was lebende Komponisten Betrifft, Ihre Felsenmetapher etwa auf Rihms oder Widmanns Karriere bzw. Ästhetik anwenden?

    Natürlich stelle ich Philosophie nicht in Frage (da haben Sie mich offensichtlich missverstanden), aber die philosophische Durchdringung sagt m. E. genauso wenig wie die politische etwas über den Wert eines Kunstwerks aus. DEN Wert gibt es nämlich nicht, abstrahiert vom Kommunikationspartner.

    Kennen Sie den Komponisten Thomas Schmidt-Kowalski? Er ist Anfang diesen Jahres gestorben. Vorab: Ich finde seine Musik fürchterlich. Dennoch hat er Platten bei Naxos verkauft und offensichtlich ein Publikum gefunden. Möge es den Menschen gefallen. Wie weit der Autor philosophisch gedacht hat, können wir nicht wissen. Das Recht, in seinem Wirken eine Gefahr zu sehen, die es nicht zu legitimieren gilt, haben wir erst recht nicht.

    Vielleicht finden Sie übrigens noch einen besseren Vergleich als den mit den Fortbewegungsmitteln, denn trotz Flugzeug gehen wir ja noch gerne zu Fuß.

    Aber ich fürchte, ich habe den Faden verloren…

    Wir sollten lieber versuchen zu klären, was wir konkret unter philosophischer Reflexion verstehen. Natürlich philosophiert sich jeder irgendwie ein Leben zurecht.
    Aber geschieht künstlerisches Arbeiten wirklich immer als Folgeschritt philosophischer Reflexion? Seien wir mal ehrlich, schreiben nicht die Komponisten heutzutage atonale Flageolettklänge, „weil es sich so gehört“? Wer glaubt denn wirklich noch, damit etwas Neues zu machen? Wer dies tut, hat wohl am allerwenigsten reflektiert. Wenn man auf Neue-Musik-Konzert geht, ist oft niemand mehr überrascht. Als Kompliment erhalten die Komponisten meistens so etwas wie „Schönes Stück. Hat mir sehr gut gefallen!“, oder: „Formal sehr schlüssig!“ – „sehr farbenreich instrumentiert!“. Die Komponisten begnügen sich meist damit.
    Die ästhetische Debatte geht nicht bloß an der Bevölkerung als Ganzes, sondern gar an denjenigen vorbei, die sie eigentlich direkt betreffen müsste: Musiker mit Leib und Seele – Interpreten, Lehrende, Komponisten…

    Sie haben vollkommen Recht, Kreidler und auch Lehmann provozieren eigentlich im besten Sinne. Und zwar weitaus besser als Mahnkopf, dessen eitle Wortgeschwulste (in jüngster Zeit scheint er zu einer klareren Sprache zu finden) selbst innerhalb des winzigen Komponistenzirkels kaum jemanden zu erreichen scheinen, noch weniger provozieren – genauso wenig die Mikrotöne in seiner Musik.
    Dass Kreidlers Art, zu provozieren, seit langem mal wieder eine umfangreiche Debatte ausgelöst hat, ist ja ein großer Verdienst.
    Dennoch scheint auch diese Debatte an vielen vorbeizugehen. Sie beschränkt sich dadurch auch auf einen Kreis von Menschen, die sich in wesentlichen Punkten zu ähnlich sind. Ich wüsste mal gerne, was ein Daniel Barenboim, ein Jörg Widmann oder ein Rüdiger Safranski dazu zu sagen hätten…

    Zur Themenverfehlung: da haben Sie wohl recht, ich habe wie erwähnt keinen passenderen Ort gefunden. Hätte ich an anderer Stelle als in diesem kleinen Komponistenzirkel dieses Thema angerissen – wie gesagt: nach meiner Einschätzung würde die Problematik gar nicht begriffen werden, da sie weder ihren Alltag noch ihr Denken berührt. Da hilft auch der Boom von Philosophie als Lebenshilfe nichts…

    Von mir aus können Sie aber auch gerne alles verschieben oder gar löschen, es ist ja immerhin Ihr Zuhause.